BlueSky

VG Sigmaringen

Merkliste
Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 30.05.2012 - A 2 K 166/12 - asyl.net: M19756
https://www.asyl.net/rsdb/M19756
Leitsatz:

Auch Racheakte (hier wegen kritischer Berichterstattung über von einflussreichen Personen begangene Verbrechen) können, sofern sie an flüchtlingsrelevante Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG anknüpfen, Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention darstellen.

Schlagwörter: RAWA, Lemar-TV, Revolutionary Association of the Women of Afghanistan, Safa Khan, Junbish, General Dostum, Dostum, Rashid Dostum, politische Verfolgung, Afghanistan, Flüchtlingsanerkennung, Rache, politische Überzeugung, Journalist, Lemar, Vergewaltigung, nichtstaatliche Verfolgung,
Normen: AsylVfG § 3 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

2. Ausgehend hiervon kann sich der Kläger auf die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2004/83/EG berufen. Stichhaltige Gründe für eine Widerlegung der gesetzlichen Vermutung sind nicht erkennbar.

Die Berichterstatterin ist aufgrund des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks von der Person des Klägers zu der Überzeugung gelangt, dass dieser im Verfahren vor dem Bundesamt wie auch vor Gericht wahrheitsgemäße Angaben zu seinen Ausreisegründen gemacht hat. Die Angaben des Klägers sind glaubwürdig, schlüssig und widerspruchsfrei. Seine Tätigkeit für Lemar-TV und die Hintergründe des Vergewaltigungsfalls sind durch die vorgelegten Ausdrucke der Homepage von Lemar-TV sowie den ebenfalls vorgelegten Bericht der Organisation RAWA (Revolutionary Association of the Women of Afghanistan) belegt. Zu den gegen ihn und seine Familie gerichteten Verfolgungsmaßnahmen hat der Kläger umfangreiche und detaillierte Ausführungen gemacht, die sich vollumfänglich mit den Angaben seiner Mutter und Brüder decken, deren Verfahren unter den Aktenzeichen A 2 K 165/12, A 2 K 167/12 und A 2 K 168/12 bei der Kammer anhängig sind und die die Berichterstatterin ebenfalls angehört hat. Dem Vortrag des Klägers ist auch insoweit Glauben zu schenken, als er angegeben hat, dass die vor Ausstrahlung der Sendung gegen ihn gerichteten Drohungen neben dem persönlichen Schutz von Safa Khan vor Strafverfolgung vor allem darauf zielten, das Ansehen der Junbish-Partei und von General Dostum persönlich in der Öffentlichkeit zu wahren und deren Verwicklung in die Straftat zu verdecken. Seine diesbezüglichen Ausführungen werden schließlich durch einen von der Organisation RAWA veröffentlichten Bericht gestützt, wonach auch eine Mitarbeiterin der Afghan Human Rights Organization von General Dostum telefonisch bedroht worden ist, weil sie zu einer Vergewaltigung, in die Dostum verwickelt sein soll, recherchiert hat (vgl. Bericht "Warlords Toughen US Task in Afghanistan" vom 09.12.2008, abrufbar unter www.rawa.org). Der Umstand, dass der Kläger erst in der mündlichen Verhandlung ausführlich zu den Hintergründen der Verfolgung und der Bedeutung seiner Berichterstattung für General Dostum und seine Partei vorgetragen hat, spricht nicht gegen seine Glaubwürdigkeit. Er hat bereits in der Anhörung einen Bezug der Verfolgungsmaßnahmen zu Dostum hergestellt und diese in der mündlichen Verhandlung auf Nachfrage der Berichterstatterin lediglich weiter präzisiert und erläutert. Seine Angaben decken sich mit Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes, wonach Journalistenverbände immer wieder von Einschüchterungen gegenüber Journalisten von Seiten der Regierung, lokaler Machthaber und den Aufständischen bis hin zu Todesdrohungen berichten (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 10.01.2012, S. 14; s. a. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage vom 23.08.2011, S. 15f.).

Ausgehend von diesem konkretisierten Vortrag hält die Berichterstatterin an der im Beschluss über den Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe vertretenen Ansicht, dass es sich bei den Verfolgungsmaßnahmen nicht um politische Verfolgung, sondern um rein kriminelle Taten handelte, nicht mehr fest. Zwar stellen die Ermordung des Vaters, der nächtliche Überfall auf die Familie, die Entführung der Brüder und die versuchte Verschleppung des Klägers Racheakte dar. Durch Rache motivierte Verfolgung kann jedoch "politisch" sein, wenn sie an asyl- bzw. flüchtlingsrelevante Merkmale, d.h. an die Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Überzeugung, anknüpft (vgl. hierzu OVG Hamburg, Beschluss vom 05.12.2008 - 5 Bf 45/07.AZ -, Juris m.w.N.). Davon ist vorliegend nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung auszugehen. Der Kläger war aufgrund seiner journalistischen Berichterstattung in Afghanistan nicht nur der persönlichen Rache des verurteilten Vergewaltigers Safa Khan ausgesetzt. Vielmehr hat er durch seine Reportage offengelegt, dass Khan durch General Dostum persönlich sowie durch die Junbish-Bewegung insgesamt gedeckt worden ist, und damit die politischen Hintergründe der Straftat ans Licht gebracht. Hierdurch geriet der Kläger ins Visier Dostums und seiner Partei, die ihn fortan als politischen Gegner betrachteten. Offenbleiben kann insoweit, ob die Einschätzung des Klägers zutrifft, General Dostum sei aufgrund der Reportage nicht bei der Präsidentschaftswahl angetreten, woran angesichts der Presseberichterstattung über die Zusammenarbeit Präsident Karzais mit General Dostum nach dessen Rückkehr aus dem türkischen Exil Zweifel bestehen (vgl. Matthias Gebauer, Karzai hofiert Warlord Dostum als Wahlhelfer, Spiegel Online vom 17.08.2009).

Die Verfolgung des Klägers knüpft somit nach ihrer erkennbaren Gerichtetheit an dessen (ihm zugeschriebene) politische Überzeugung und damit an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG an. Stichhaltige Gründe, die gegen eine erneute Verfolgung im Fall der Rückkehr nach Afghanistan sprechen, sind nicht ersichtlich. Gegen die Verfolgung durch General Dostum und seine Partei, die den Norden Afghanistans weitgehend kontrollieren und über erheblichen Einfluss verfügen (vgl. Abdul Waheed Wafa, Former Warlord in Standoff With Police at Kabul Home, New York Times vom 04.02.2008; D.-D. Böhmer/M.Stürmer, Die drei mächtigen Afghanen wollen Karzai stürzen, Welt Online vom 12.01.2012), bieten zudem weder der afghanische Staat noch internationale Organisationen hinreichenden Schutz. Die Zentralregierung hat auf Warlords und andere Menschenrechtsverletzer praktisch keinen Einfluss und kann sie weder kontrollieren noch ihre Taten untersuchen oder verurteilen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 10.01.2012, S. 23). Angesichts der Machtposition Dostums und der damit verbundenen Verbindungen in die örtliche und zentrale Verwaltung besteht auch keine innerstaatliche Fluchtalternative für den Kläger (vgl. allgemein zu derartigen Verbindungen lokaler Befehlshaber UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender - Zusammenfassende Übersetzung - vom 24.03.2011, S.14). [...]