VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Beschluss vom 02.04.2012 - A 9 K 782/12 - asyl.net: M19761
https://www.asyl.net/rsdb/M19761
Leitsatz:

Es bestehen schwerwiegende Bedenken, ob die Praxis der Durchführung von Asylverfahren in Rumänien den Kernanforderungen des Unionsrechts entspricht. Berichte von NGOs zu den Lebensbedingungen von Asylbewerbern in Rumänien lassen systemische Mängel des Asylverfahrens erkennen, durch die Asylbewerber tatsächlich Gefahr laufen, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt zu werden.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, Überstellung, systemische Mängel, Aufnahmebedingungen, Asylverfahren, Rumänien, unmenschliche Behandlung, Rückführungsrichtlinie,
Normen: AsylVfG § 34a Abs. 2, AsylVfG § 27a
Auszüge:

[...]

Der Antrag des Antragstellers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zur Abwendung seiner von der Antragsgegnerin und der Bundespolizeiinspektion Weil am Rhein für den 03.04.2012 ins Auge gefassten Abschiebung nach Rumänien ist nach § 123 VwGO statthaft und auch sonst unbedenklich zulässig. Insbesondere steht seiner Zulässigkeit § 34a Abs. 2 AsylVfG nicht entgegen. Hiernach darf die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat, der - wie hier - auf dem Wege des § 27a AsylVfG ermittelt worden ist, zwar nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden; in verfassungskonformer Auslegung dieser Bestimmung kommt die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes jedoch dann in Betracht, wenn eine die konkrete Schutzgewährung in Zweifel ziehende Sachlage in dem für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gegeben ist.

Dies ist hier der Fall.

Der mit der Bestimmung zum sicheren Drittstaat gemäß Art. 16a Abs. 2 GG einhergehende Ausschluss des Eilrechtsschutzes erfordert, dass in dem jeweiligen Drittstaat die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention - GFK - vom 28.07.1951 (BGBl. 1953 II S. 560) und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - vom 4.11.1950 (BGBl. 1952 II S. 953) sichergestellt ist. Diese Voraussetzung ist für Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union in Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG ausdrücklich normiert, gilt aber aufgrund der gebotenen Wertungsgleichheit entsprechend auch für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Für Letztere sind die aus den genannten Regelungen folgenden Verpflichtungen zudem unter anderem in der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vorn 01.12.2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft und in der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27.01.2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten konkretisiert worden.

Die feststellbare Verletzung von Kernanforderungen des vorgenannten europäischen Rechts, die mit einer Gefährdung des Betroffenen, insbesondere in seinem Grundrecht auf Leben sind körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG einhergeht, ist ein Sonderfall im Sinne der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. Eilrechtsschutz bleibt in diesen Ausnahmefällen möglich und zulässig (vgl. VG Gießen, Beschl. v. 10.03.2011 - 1 L 468/11.GI.A - JURIS, m.w.N.). Dem entsprechend hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 14.05.1996 klargestellt, dass die Ausschlussregelung des § 34a Abs. 2 AsylVfG nur bei sinnentsprechender restriktiver Auslegung mit Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG in Einklang steht. Aufgrund des mit Art. 16a Abs. 2 GG verfolgten Konzepts normativer Vergewisserung könne sich der Ausländer daher nicht mit Erfolg darauf berufen, dass in seinem Einzelfall die Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht erfüllt würden. Eine Prüfung, ob der Zurückweisung oder sofortigen Rückverbringung in den Drittstaat ausnahmsweise Hinderungsgründe entgegenstünden, könne der Ausländer nur erreichen, wenn es sich aufgrund bestimmter Tatsachen aufdränge, dass er von einem der im normativen Vergewisserungskonzept nicht aufgefangenen Sonderfälle betroffen sei (vgl. BVerfG; Urteil vom 14.05.1993 - 2 BvR 1938/93 u.a., BVerfGE 94, 49). Mit seinen auf Griechenland bezogenen Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht diese Auffassung bestätigt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 08.09.2009 - 2 BvQ 56/09 -, NVwZ 2009, 1281; Beschl. v. 22.12.2009 - 2 BvR 2879/09 -, NVwZ 2010, 318). Schließlich ist auch nach Auffassung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Urteil vom 21.12.2011 - verb. Rs. C-411/10 und C-493/10 -. NVwZ 2012, 417) die Überstellung eines Asylbewerbers in den im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 zuständigen Mitgliedstaat mit Art. 4 Grundrechtecharta unvereinbar, wenn systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden.

Einen seichen Sonderfall hat der Antragsteller glaubhaft gemacht. Ihm steht auch ein Anordnungsgrund zur Seite, da seine Überstellung nach Rumänien bereits am 03.04.2012 erfolgen soll.

Auch ein Anordnungsanspruch ist zu bejahen, weil die Rechtmäßigkeit einer Rückführung des Antragstellers nach Rumänien ernstlichen Zweifeln begegnet. Es bestehen nämlich schwerwiegende Bedenken, ob die Praxis der Durchführung von Asylverfahren in Rumänien den oben zitierten Kernanforderungen des Unionsrechts entspricht. Dies ergibt sich bereits aus dem individuellen Vorbringen des Antragstellers, wonach er infolge unzureichender finanzieller Zuwendungen sich nicht ausreichend habe ernähren können und infolgedessen Hunger gelitten habe. Auch medizinische Versorgung habe er trotz Nachfrage nicht erhalten. An der Glaubhaftigkeit dieses Vorbringens hat das Gericht nach derzeitigem Erkenntnisstand keine durchgreifenden Zweifel.

Die Darstellung des Antragstellers lässt sich mit den von ihm vorgelegten und dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen nämlich durchaus in Einklang bringen. So wird in der von ihm vorgelegten UNHCR-Studie bestätigt, dass das den Flüchtlingen in Rumänien gewährte Taschengeld nicht einmal die grundlegendsten Bedürfnisse befriedigt. Auch eine aktuelle Studie von "Pro Asyl" (Flüchtlinge im Labyrinth") bestätigt (S. 23), dass ein Asylantragsteller in Rumänien von ungerechnet 85 Cent pro Tag leben müsse, was bei Weitem nicht ausreiche, um existenzielle Bedürfnisse zu decken. Außerdem werde - so die Studie von "Pro Asyl" - aus Berichten des UNHCR und anderer Organisationen deutlich, dass der Zugang zu rechtlicher Unterstützung für Flüchtlinge in Rumänien zwar gesetzlich vorgesehen sei, faktisch hierfür aber keine Strukturen vorhanden seien. Meist hätten sie keinen Zugang zu Dolmetschern, weder für eine Beratung, noch für die Anhörung selbst. Komme es schließlich im Rahmen solcher mangelhaften Verfahren zu einer Ablehnung des Asylantrags, so würden die Flüchtlinge bis zu ihrer Abschiebung oft monatelang inhaftiert. Auch gebe es Berichte von Flüchtlingen, die einen Schutzstatus erhalten hätten und trotzdem auf unbegrenzte Zeit ins Gefängnis gekommen seien.

Eine eingehende und abschließende Würdigung der Sach- und Rechtslage kann freilich nicht im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes erfolgen, sondern bedarf - gegebenenfalls nach einer Beweisaufnahme - einer Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren. Bei dieser Sachlage hat das unionsrechtliche Interesse an der konsequenten Umsetzung der Zuständigkeitsregelungen der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02.2003 - Dublin II-VO - hinter dem Schutzanspruch des Antragstellers zurückzutreten. [...]