LG Traunstein

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Zitieren als:
LG Traunstein, Beschluss vom 14.06.2012 - 4 T 2208/12, 4 T 2219/12 - asyl.net: M19771
https://www.asyl.net/rsdb/M19771
Leitsatz:

Eine Unterbringung von Abschiebungsgefangenen gemeinsam mit Untersuchungsgefangenen ist unter richtlinienkonformer Auslegung nicht statthaft.

Die Berücksichtigung alterstypischer Belange eines Minderjährigen ist bei einer Unterbringung in einer Abteilung für erwachsene Abschiebungsgefangene nicht möglich.

Wird bei einer Altersfeststellung das Alter von 19 Jahren festgestellt, ist bei einer Standardabweichung von 12 Monaten von der Minderjährigkeit auszugehen, da dies bedeuten kann, dass der Betroffene knapp unter 18 Jahren alt ist.

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Zurückschiebung, Haftgründe, unerlaubter Aufenthalt, unerlaubte Einreise, spezielle Hafteinrichtung, minderjährig, Rückführungsrichtlinie, Trennung von Strafgefangenen, Trennung, Strafgefangene, Untersuchungsgefangene, alterstypische Belange, Altersfeststellung, Standardabweichung,
Normen: AufenthG § 57 Abs. 1, AufenthG § 57 Abs. 3, AufenthG § 62 Abs. 3, AufenthG § 62 Abs. 3 Nr. 1, AufenthG § 62a, AufnthG § 62a Abs. 3, RL 2008/115/EG Art. 17
Auszüge:

[...]

2. Die Beschwerde hat in der Sache Erfolg.

Gem. §§ 57 Abs. 1, 3, 62 Abs. 3 AufenthG ist ein Ausländer zur Sicherung der Zurückschiebung auf richterliche Anordnung in Haft zu nehmen, wenn er gemäß Ziffer 1 auf Grund einer unerlaubten Einreise vollziehbar ausreisepflichtig ist (§ 58 Abs. 3 Ziffer 1 AufenthG) oder gem. Ziffer 5 der begründete Verdacht besteht, dass er sich der Abschiebung entziehen will. Eine Einreise ist unerlaubt, wenn der Ausländer den erforderlichen Pass nach § 3 AufenthG oder Aufenthaltstitel nach § 4 AufenthG nicht besaß (§ 14 Abs. 1 AufenthG).

a) Der Haftgrund des § 62 Abs. 3 Ziffer 1 AufenthG liegt vor. Der Betroffene ist am 01.06.2012 unerlaubt von Österreich aus kommend in das Bundesgebiet eingereist. Er war dabei nicht im Besitz von Ausweisdokumenten, welche seinen Aufenthalt im Bundesgebiet legalisieren wurden. Er ist daher gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG zur Ausreise verpflichtet, wobei die Ausreisepflicht aufgrund der unerlaubten Einreise auch vollziehbar ist, § 58 Abs. 2 Ziff. 1 AufenthG.

b) Die Anordnung der Abschiebehaft ist bereits deshalb aufzuheben, weil der Vollzug der Zurückschiebehaft gegen § 62a AufenthG verstieß und weiter verstößt.

(1) Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG wird die Abschiebungshaft in speziellen Haueinrichtungen vollzogen. Sind spezielle Hafteinrichtungen in einem Land nicht vorhanden, kann die Abschiebungshaft in diesem Land in sonstigen Haftanstalten vollzogen werden; die Abschiebungsgefangenen sind dann getrennt von den Strafgefangenen unterzubringen. Die Einhaltung von § 62a AufenthG ist im Verfahren der Beschwerde gegen den Zurückschiebehaftbefehl zu berücksichtigen (vgl. BGH vom 07.03.2012 und 08.05.2012, V ZB 41/12).

Bei minderjährigen Abschiebungsgefangenen sind nach § 62a Abs. 3 AufenthG unter Beachtung der Maßgaben der in Art. 17 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 vom 24. Dezember 2008, S. 98) alterstypische Belange zu berücksichtigen. In Haft genommene Minderjährige müssen die Gelegenheit zu Freizeitbeschäftigungen einschließlich altersgerechter Spiel- und Erholungsmöglichkeiten und, je nach Dauer ihres Aufenthalts, Zugang zur Bildung erhalten (Art. 17 Abs. 3 der Rückführungsrichtlinie). Unbegleitete Minderjährige müssen so weit wie möglich in Einrichtungen untergebracht werden, die personell und materiell zur Berücksichtigung ihrer altersgemäßen Bedürfnisse in der Lage sind (Art. 17 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie). Insgesamt ist dem Wohl des Betroffenen im Zusammenhang mit der Abschiebehaft bei Minderjährigen Vorrang einzuräumen (Art. 17 Abs. 5 der Rückführungsrichtlinie; vgl. BGH vom 07.03.2012, V ZB 41/12).

(2) Die Kammer geht davon aus, dass es sich bei dem Betroffenen um einen Minderjährigen im Sinne von § 62a Abs. 3 AufenthG handelt. Der Betroffene gab als Geburtsdatum den ... 1995 an, ist nach seinen Angaben also 16 Jahre und ... Monate alt. Wie sich aus der vorgelegten Eurodac-Auskunft (Bl. 12) ergibt, hat er in Italien das gleiche Geburtsdatum angegeben. Demgegenüber hat die Ausländerbehörde nicht nachgewiesen, dass der Betroffene tatsächlich über 18 Jahre alt ist. Im fachärztlichen Attest des RoMed Klinikums Rosenheim vom 11.06.2012 wird ausgeführt, dass bei dem Betroffenen eine Röntgenaufnahme der linken Hand durchgeführt wurde und ein Vergleich mit Skeletttafeln ein Skelettalter von 19 Jahren mit einer Standardabweichung von 12 Monaten ergeben habe. Die Kammer teilt nicht die Auffassung der Ausländerbehörde, dass damit nachgewiesen ist; dass der Betroffene über 18 Jahre alt ist. Nach Auffassung der Kammer kann bei einer Standardabweichung von 12 Monaten von den festgestellten 19 Jahren dies auch bedeuten, dass der Betroffene knapp unter 18 Jahre alt ist.

(3) Solange der Betroffene zunächst in der Jugendabteilung in der JVA München-Stadelheim untergebracht war, verstieß dies gegen das Gebot der Trennung von Strafgefangenen (§ 62a Abs. 1 AufenthG). Die Ausführungen der Ausländerbehörde in ihrem Antrag, dass in der JVA München eine Trennung von Strafgefangenen stattfindet, bedeuten nicht, dass auch eine Trennung von Untersuchungsgefangenen stattfindet. Vielmehr ist gerichtsbekannt, dass dort die Abschiebungsgefangenen gemeinsam mit Untersuchungsgefangenen untergebracht sind und jedenfalls zu Aufschlusszeiten Kontakt zu Untersuchungsgefangenen haben. Dies verstößt gegen § 62a Abs. 1 AufenthG, da diese Vorschrift keine Unterscheidung zwischen verurteilten Strafgefangenen und Untersuchungshäftlingen trifft. Vielmehr sind bei richtlinienkonformer Auslegung auch die Untersuchungsgefangenen als "Strafgefangene" im Sinne des § 62a Abs. 1 Satz 2 AufenthG anzusehen (vgl. Landgericht München I vom 26.04.2012, 13 T 8230/12, und vom 13.03.2012, 13 T 1606/12). Ob die Jugendabteilung materiell und personell entsprechend der Rückführungsrichtlinie ausgestattet ist, kann daher dahinstehen.

(4) Seit der Betroffene jetzt in der Abteilung für erwachsene Abschiebungsgefangene untergebracht ist, verstößt dies gegen § 62a Abs. 3 AufenthG, da dort die alterstypischen Belange des Betroffenen nicht berücksichtigt werden. [...]