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VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 28.06.2012 - 13a B 10.30172 - asyl.net: M19794
https://www.asyl.net/rsdb/M19794
Leitsatz:

Für eine Person, die an einer Traumafolgestörung erkrankt ist, besteht bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine erhebliche Gesundheitsgefahr, soweit sie sich auf keinerlei Halt gebenden Strukturen und keine nahen lVerwandten stützen kann. Diese Einschätzung ist unabhängig davon, ob in Afghanistan eine entsprechende Behandlung durchgeführt werden kann.

Bei einer psychologischen/ psychiatrischen Stellungnahme über eine psychische Erkrankung handelt es sich um ein neues Beweismittel im Sinne von § 51 VwVfG, wenn die Erkrankung im Erstverfahren zwar bereits vorhanden war, eine Stellungnahme jedoch noch nicht vorgelegt werden konnte.

Schlagwörter: Traumafolgestörung, Posttraumatische Belastungsstörung, Behandlungsbedarf, Therapie, Retraumatisierung, zwangsweise Rückführung, Afghanistan, Gefahrenprognose, Gesundheitsverschlechterung, sequenzielle Traumatisierung, Drei-Monats-Frist, Asylfolgeantrag, Wiederaufgreifen, Wiederaufgreifensgrund, Wiederaufnahme, Wiederaufnahme des Verfahrens, Wiederaufnahmegründe, Gutachten, Sachverständigengutachten, psychologisches Gutachten, psychologische Stellungnahme, Beweismittel,
Normen: VwVfG § 51, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Der Kläger begehrt nur mehr die Verpflichtung, bei ihm ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen. Insoweit ist der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 21. Januar 2008 rechtswidrig und war das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 9. April 2008 abzuändern. Das Bundesamt ist nach der jetzt maßgeblichen Sach- und Rechtslage (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) verpflichtet, festzustellen, dass für den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan besteht (§ 113 Abs. 5 VwGO).

1. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass es sich bei dem Antrag des Klägers, der dem Bescheid des Bundesamts zu Grunde liegt, um einen Folgeantrag im Sinn des § 71 AsylVfG handelt. [...] Im Rahmen des Asylfolgeantrags vom 10. Oktober 2007 stellte der Kläger unter Vorlage einer psychologischen Stellungnahme von exilio vom 13. Juli 2007 und einer ärztlichen Stellungnahme den streitgegenständlichen Wiederaufgreifensantrag. Im Asylfolgeverfahren kommt ein Wiederaufgreifen des rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG oder aber des § 51 Abs. 5 VwVfG in Verbindung mit §§ 48, 49 VwVfG in Betracht (BVerfG vom 20.12.2006 NVwZ 2007; 1046). Nach § 51 VwVfG ist u.a. erforderlich, dass neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Ausländer günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VWVFG). Der Antrag ist nach § 51 Abs. 2 VwVfG nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außer Stande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren geltend zu machen. Ferner muss der Antrag nach § 51 Abs. 3 VwVfG binnen drei Monaten ab dem Tage, an dem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erlangt hat, gestellt werden. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.

Beweismittel sind Erkenntnismittel, die die Überzeugung von der Existenz oder Nichtexistenz von Tatsachen begründen können. Unter neuen Beweismitteln sind neben Beweismitteln, die während der Anhängigkeit des ersten Verfahrens noch nicht existierten, auch solche Beweismittel zu verstehen, die zwar damals schon vorhanden waren, vom Betroffenen damals aber nicht beigebracht werden konnten (BVerwG vom 13.5.1993 BVerwGE 92, 278; vom 28.7.1989 BVerwGE 82, 272). So ist es hier. Zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Erstantrag im Jahr 2005 existierte die vom Kläger nunmehr vorgelegte Stellungnahme von exilio vom 13. Juli 2007, in der eine mittelgradige depressive Episode und sonstige spezifische Angststörungen diagnostiziert wurden, noch nicht. Die Stellungnahme erscheint auch geeignet, dem Antrag des Klägers zum Erfolg zu verhelfen, was er in seinem Folgeantrag schlüssig dargelegt hat. Dieses neue Beweismittel wurde mit der Antragstellung am 10. Oktober 2007 auch innerhalb der Drei-Monats-Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG geltend gemacht.

Der Kläger war auch ohne grobes Verschulden außer Stande, diesen Grund für das Wiederaufgreifen im Erstverfahren geltend zu machen. Grobes Verschulden nach § 51 Abs. 2 VwVfG liegt in der Regel dann vor, wenn dem Betroffenen das Bestehen des Wiederaufnahmegrunds bekannt war oder hätte bekannt sein müssen und er sich trotzdem unter Verletzung seiner Mitwirkungspflichten nicht darum gekümmert hat (Hailbronner, AusIR, RdNr. 55 zu § 71 AsylVfG; Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Auflage 2008, RdNr. 127 zu § 51). Zwar bestätigte das nervenärztliche Attest vom 22. April 2005 das Vorliegen einer Depression noch vor Erlass des Urteils im Erstverfahren am 26. April 2005, jedoch kann dem Kläger nicht zum Vorwurf gemacht werden, die Erkrankung an Depression nicht im Rechtsbehelfsverfahren weiter verfolgt zu haben. Zum einen hat exilio in der ergänzenden Stellungnahme vom 15. März 2008 darauf verwiesen, dass sich die Angstsymptomatik erst zu einem späteren Zeitpunkt ausgebildet hat, auch wenn das nervenärztliche Attest aus dem Jahr 2005 im Einklang mit den eigenen Untersuchungsergebnissen das Vorliegen einer Depression bereits diagnostiziert hat. Übereinstimmend hierzu führt das im Berufungsverfahren eingeholte Gutachten aus, dass eine sorgfältige Diagnostik erstmals im Befund der Ambulanz für Flüchtlinge Konstanz vom 28. April 2010 dargestellt werde. Damit war zum damaligen Zeitpunkt die Krankheit weder in vollem Umfang vorhanden noch entsprechend diagnostiziert. Das nunmehrige Vorbringen des Klägers zur Erkrankung ist somit nicht schon allein deshalb unbeachtlich, weil er bereits 2005 in nervenärztlicher Behandlung war. Die bloße Behandlung wegen noch nicht in vollem Umfang diagnostizierter und näher geklärter Beschwerden kann in der Regel nicht die Obliegenheit begründen, sogleich ein Folgeschutzgesuch zu stellen, um nicht später mit sämtlichem Vorbringen zu einer Erkrankung präkludiert zu sein (BVerfG vom 20.12.2006 NVwZ 2007, 1046). Zum anderen blieb die psychische Erkrankung, soweit sie schon ausgebrochen war, im Gerichtsverfahren schon deshalb unberücksichtigt, weil das Verwaltungsgericht davon ausging, dass der Kläger wegen des bestehenden Abschiebestopps des Schutzes nicht bedurfte. Bei dessen Wegfall könne das Vorliegen einer extremen Gefahrenlage und der psychischen Erkrankung im Wege des Wiederaufgreifens geltend gemacht werden. Ein solcher verfahrensrechtlicher Ausschluss darf dem Kläger nicht zum Nachteil gereichen, weil er objektiv außerstande war, diese Umstände im vorangegangenen Asylverfahren vorzubringen (siehe hierzu auch Hailbronner, a.a.O., RdNr. 57 zu § 71 AsylVfG; Renner, Ausländerrecht, 9. Auflage 2011, RdNr. 22 zu § 71 AsylVfG). Dies lässt sich der gesetzlichen Regelung des § 51 VwVfG entnehmen, wonach ein "neues" Beweismittel (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG) erforderlich ist, das der Betroffene ohne "grobes Verschulden" in dem früheren Verfahren nicht geltend machen konnte (§ 51 Abs. 2 VwVfG). Neben Beweismitteln, die im Erstverfahren noch nicht existierten, können deshalb im Wiederaufgreifensverfahren auch solche Beweismittel eingeführt werden, die damals zwar schon vorhanden waren, aber ohne Verschulden des Betroffenen nicht oder nicht rechtzeitig verwertet werden konnten (BVerwG vom 21.4.1982 NJW 1982, 2204). Die Regelung in § 51 Abs. 2 VwVfG bestätigt dies, denn sie setzt die Beachtlichkeit (auch) von bereits während der Anhängigkeit des ersten Verfahrens existenter Beweismittel voraus. Im Hinblick auf die für einen Laien schwer überschaubare Rechtslage hinsichtlich der Rangfolge der verschiedenen Vorschriften zum Abschiebungsschutz kann somit dem Kläger allenfalls leichte Fahrlässigkeit, aber kein grobes Verschulden zur Last gelegt werden. Insgesamt ist damit über den Antrag des Klägers auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG neu zu entscheiden.

2. Der Kläger hat Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan. Einer Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG bedarf es deshalb nicht mehr. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Wegen seiner Erkrankung droht dem Kläger bei Rückkehr in die Heimat eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr.

a) Die Regelung in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfasst nur solche Gefahren, die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind, während Gefahren, die sich aus der Abschiebung als solcher ergeben, nur von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können (st. Rspr. zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG, siehe BVerwG vom 19.10.2002 AuAS 2003, 106; vom 25.11.1997 BVerwGE 105, 383 m.w.N.). Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich auch aus der Krankheit eines Ausländers ergeben, wenn diese sich im Heimatstaat verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich darüber hinaus trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung aber auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist. Bei einer Krankheit denkbar ist auch das Hinzutreten von Infektionen, die aufgrund zielstaatsbezogener Umstände dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (BVerwG vom 17.10.2006 BVerwGE 127, 33). In die Beurteilung mit einzubeziehen und bei der Gefahrenprognose zu berücksichtigen sind sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände, die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können. Für die Annahme einer "konkreten Gefahr" genügt nicht die bloße theoretische Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in Leib, Leben oder Freiheit zu werden. Vielmehr ist der Begriff der "Gefahr" im Sinn von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Ansatz kein anderer als der im asylrechtlichen Prognosemaßstab der "beachtlichen Wahrscheinlichkeit" angelegte, wobei allerdings das Element der "Konkretheit" der Gefahr für "diesen" Ausländer das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation statuiert (BVerwG vom 17.10.1995 BVerwGE 99, 324 zu § 53 Abs. 6 Aus(G).

b) Das im Berufungsverfahren eingeholte Gutachten der Trauma-Ambulanz Stuttgart vom 13. November 2011 kommt zum Ergebnis, dass beim Kläger eine Traumafolgestörung vorliegt. Gegen diese Diagnose und die Sachkunde des Gutachters bestehen keine Bedenken. Das Ergebnis ist nachvollziehbar dargelegt, der Gutachter hat sich widerspruchsfrei geäußert (BVerwG vom 26.6.1992 NVwZ 1993, 572).

Das Gutachtensergebnis beruht auf einer dreimaligen persönlichen Untersuchung des Klägers unter Einschaltung eines Dolmetschers, die insgesamt mehr als 5 Stunden dauerte. Vorangegangen war das Studium der Verfahrensunterlagen und der ärztlich-psychologischen Vorbefunde. [...]

Damit legt das Gutachten zur Überzeugung des Senats dar, dass der Kläger an einer Traumafolgestörung erkrankt ist; insbesondere setzt sich der Gutachter hierbei nachvollziehbar mit den sich widersprechenden Angaben des Klägers auseinander. Mit der Beklagten ist davon auszugehen, dass das Gutachten zur Frage, ob das Verfofgungsschicksal glaubhaft ist, keinen Beitrag leisten kann. Es soll sich allein zum Vorliegen einer Erkrankung äußern. Ob darüber hinaus ein Verfolgungsschicksal glaubhaft gemacht wird und insoweit asylrechtliche Folgen eintreten, spielt für die Erkrankung keine Rolle. Im Übrigen war die Glaubhaftigkeit des Verfolgungsschicksals auch nicht Gegenstand des Gutachtensauftrags. Im Beweisbeschluss war lediglich die Frage enthalten, ob sich eine - unterstellt - unglaubwürdige Schilderung des Verfolgungsschicksals auf die Annahme einer Erkrankung auswirken kann. Nicht beizupflichten ist der Beklagten darin, dass der Gutachter den vom Kläger berichteten Sachverhalt unkritisch unterstellen würde. Vielmehr nimmt er eine Gegenprüfung vor und vergleicht das Verhalten des Klägers und seine Reaktionen bei den jeweiligen Details der Schilderung. So wird beschrieben, dass der Kläger im Laufe der Zeit während des normalen Gesprächs eine freundlich-zugewandte Haltung eingenommen hat. Bei der Schilderung der prägenden Erlebnisse jedoch sei dies nicht mehr der Fall gewesen. Auch sei dann der Denkablauf sprunghaft gewesen. Bei "unkritischen" Themen hingegen wurde ein geordnetes Denken festgestellt. Weiter erklärt der Gutachter, weshalb es zu widersprüchlichen Angaben gekommen sei, die Zweifel an der Glaubwürdigkeit entstehen lassen. Zum einen sei das Vermeidungsverhalten krankheitstypisch, zum anderen sei der Kläger allgemein ohne zeitliche Orientierung aufgewachsen. Er könne selbst Dinge, die ihm weder zum Vor- noch zum Nachteil gereichten, nicht zeitlich einordnen. Auf der Grundlage dieser Feststellungen bestand für den Gutachter auch keine Veranlassung mehr, auf eine Motivation des Klägers, als minderjährig zu gelten, einzugehen.

c) Bei Rückkehr droht dem Kläger in seiner Heimat wegen der Erkrankung auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr.

Dem Gutachten zufolge besteht für einen längeren Zeitraum Behandlungsbedarf. Bei Wegfall der bestehenden Therapie und des bestehenden sozialen Hintergrunds wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer Destabilisierung zu rechnen, Weiter wäre bei Wegfall der Halt gebenden Strukturen mit einer schwerwiegenden Einschränkung der Fähigkeiten zur Alltagsbewältigung zu rechnen. Eine zwangsweise Rückführung in die Heimat würde eine schwerwiegende Belastung darstellen, da der Kläger dort, zumindest nach eigener Überzeugung, auf keinerlei Halt gewährende Strukturen und keinen lebenden nahen Verwandten mehr treffen würde. Dies würde eine weitere sequenzielle Traumatisierung bedeuten; es wäre sogar mit einer lebensbedrohlichen Schädigung der psychischen Funktionen zu rechnen. Parallel zur Häufigkeit traumatischer Ereignisse nehme die Chronifizierung einer psychischen Traumafolgestörung und die damit verbundene Unfähigkeit zur üblichen Bewältigung des Alltags zu.

Durch diese Ausführungen sieht der Senat als belegt an, dass sich der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in einer aussichtslosen Lage befände. Dabei geht die Beurteilung von der Situation aus, die den Kläger in seiner Heimat erwarten würde. Nur solche zielstaatsbezogenen Umstände sind bei der Gefahrenprognose zu berücksichtigen. Eine Verschlimmerung tritt vorliegend nicht nur wegen des Wegfalls der bereits eingeleiteten sachkundigen Behandlung ein, sondern vor allem wegen des Fehlens von Halt gewährenden Strukturen, mit denen er in Afghanistan nicht rechnen kann. Diese Situation an sich würde für den Kläger eine erneute weitere Gewalteinwirkung darstellen. Ungeachtet der Frage, ob dort eine Behandlung überhaupt möglich wäre, würde somit allein die Tatsache, dass der Kläger in der Heimat weder seine Eltern noch sonstige Strukturen finden würde, die ihm Sicherheit vermitteln könnten, zu einer sequenziellen Traumatisierung sowie einer lebensbedrohlichen Schädigung der psychischen Funktionen führen. Selbst wenn in Afghanistan eine entsprechende Behandlung durchgeführt werden könnte, würde sie aus individuellen, in der Person des Klägers liegenden Gründen nicht zum Erfolg führen, geschweige denn die sequenzielle Traumatisierung beseitigen können. Insoweit liegt ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis vor. Von einem inlandsbezogenen Abschiebungshindernis wäre in Übereinstimmung mit der Beklagten nur dann auszugehen, wenn allein der Abbruch der hier begonnenen Therapie zur Gesundheitsverschlechterung führen würde. Dies ist nach obigen Ausführungen beim Kläger aber nicht der Fall.

Die Beklagte rügt weiter, das Gutachten lege nicht nachvollziehbar dar, dass konkret dem Kläger die Gefahr einer wesentlichen Gesundheitsverschlechterung drohe. Dies wird daraus geschlossen, dass die Erfahrungen mit schwer traumatisierten Menschen dem Gutachten zufolge im Falle einer Rückkehr nicht eindeutig seien. In dieser Allgemeinheit kann dem Schluss allerdings nicht gefolgt werden. Richtig ist, dass auch das Gutachten einräumen muss, dass eindeutige Erfahrungen nicht existieren. Allerdings kann es im Falle einer seelischen Erkrankung wie der vorliegenden keine absolute Sicherheit geben. Vielmehr ist ein Gutachter in einem solchen Fall auf die persönliche Einschätzung und Beurteilung angewiesen, die ihm eine Prognose erlaubt. Das Gutachten befasst sich in Punkt "V. Prognostische Überlegungen" (S. 9) ausführlich mit der Frage, wie sich eine Abschiebung für den Kläger auswirken würde. Es wird darauf hingewiesen, dass der Kläger in Deutschland einen familiären Hintergrund habe, der zur Stabilisierung beitrage. Eine Destabilisierung würde aufgrund mehrerer Ursachen eintreten. Genannt werden der Wegfall der bestehenden Therapie, der Wegfall der Halt gebenden Strukturen und erneute weitere Gewalteinwirkungen durch die Situation in der Heimat, wo der Kläger auf keinerlei Halt gewährende Strukturen treffen würde. Damit setzt sich das Gutachten ausführlich mit der konkreten Situation des Klägers auseinander. Lediglich in der Zusammenfassung (S. 12) wird verkürzt dargestellt, dass in der Regel eine sequenzielle Traumatisierung die Folge sei. Anhaltspunkte dafür, dass es sich beim Kläger anders als im Regelfall verhalten sollte, lagen den prognostischen Überlegungen zufolge nicht vor. Damit ist die Einschätzung hinsichtlich einer wesentlichen Gesundheitsverschlechterung überzeugend dargelegt. [...]