VG Osnabrück

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Zitieren als:
VG Osnabrück, Urteil vom 13.04.2012 - 5 A 227/10 - asyl.net: M19798
https://www.asyl.net/rsdb/M19798
Leitsatz:

Einem Mitglied der Partei des Präsidenten der Côte d'Ivoire, der als Sicherheitsbeauftragter der Partei für einen Bezirk eine herausgehobene Position innehatte, droht durch die weiterhin aktiven Anhänger Gbagbos Gefahr an Leib und Leben.

Schlagwörter: Gbagbo, Côte d’Ivoire, Rassemblement des Républicains, RDR, Folter, Ouattara, Racheakte, Rache, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist teilweise begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG. Auch Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 2 - 5, 7 Satz 2 AufenthG sind nicht gegeben. Es liegt jedoch ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. Der Bescheid des Bundesamtes vom 28.06.2010 war insoweit aufzuheben, da er den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 und 5 VwGO). [...]

Nach dem persönlichen Eindruck, den das Gericht durch die ausführliche Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, ist dieser bis zu seiner Ausreise aus der Côte d'Ivoire politisch verfolgt worden. Diese Verfolgungsmaßnahmen sind durch den ivorischen Staat erfolgt bzw. sind diesem zurechenbar. Der Bericht des Klägers über die Festnahmen, die erlittenen Misshandlungen und das Verhör, die Zerstörung seines Hauses, die Ermordung seines Vaters und seine Aktivitäten als Sicherheitsbeauftragter der RDR im Bezirk ... überzeugen die Kammer trotz gewisser Unstimmigkeiten - [...] vom Wahrheitsgehalt des geltend gemachten Verfolgungsschicksals. [...]

Der Kläger hat jedoch im Falle seiner Rückkehr keine politische Verfolgung durch den ivorischen Staat zu befürchten, da - wie er auch selbst festgestellt hat - der RDR-Vorsitzende Alassane Ouattara seit dem 21.05.2011 Präsident der Côte d'Ivoire ist. Die RDR hat auch die Parlamentswahlen am 11.12.2011 mit einer Mehrheit von 86 % gewonnen. Der ehemalige Präsidenten Gbagbo wurde festgenommen. Die Befürchtung, durch frühere Angehörige der Milizen Gbagbos angegriffen zu werden (vgl. Amnesty International: "Klima der Angst: Anhaltende Unsicherheit in der Côte d'Ivoire" unter Bezugnahme auf den Bericht "We want to go home, but we can't", 28.07.2011), ist angesichts der doch recht umfangreichen politischen Aktivitäten des vorverfolgt ausgereisten Klägers in diesem Einzelfall durchaus berechtigt. Viele Mitglieder der Milizen Gbagbos sind weiterhin aktiv und greifen die Bevölkerung an (vgl. Amnesty International, aa0). In der Côte d'Ivoire sind in Folge der Unruhen viele Waffen im Umlauf (vgl. Auswärtiges Amt, "Kleinwaffenkontrolle in Côte d'Ivoire" vom 02.12.2011, abrufbar unter www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Friedenspolitik/Abruestung/Projekte/111202-Kleinwaffenkontrolle_CIV node.html). Der Kläger als Sicherheitsbeauftragter der Sektion 47 der RDR ist im Gegensatz zu einfachen Parteimitgliedern in herausgehobener Position tätig gewesen. Nicht zuletzt das von ihm gegebene Interview, das in der Zeitung "Le Flambeau" erschienen ist, sowie sein Auftritt bei einer Parteiversammlung lassen vermuten, dass er im Falle einer Rückkehr in die Côte d'Ivoire wiederum in das Blickfeld der Anhänger Gbagbos geraten und Opfer politischer Verfolgung werden wird. Diese Verfolgungsmaßnahmen wären jedoch dem ivorischen Staat nicht zurechenbar, da keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass der Staat nicht bereit oder nicht in der Lage ist, die ihm verfügbaren Mittel zum Schutz des Klägers einzusetzen.

Der Kläger hat ebenfalls keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. [...]

Für die Beurteilung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Art. 4 Abs. 4 und Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304 S. 12) (sog. Qualifikationsrichtlinie) ergänzend anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG).

Wie oben bereits ausgeführt, hat der Kläger politische Verfolgung durch den ivorischen Staat nicht (mehr) zu befürchten. Die befürchteten Übergriffe durch frühere Anhänger Gbagbos rechtfertigen auf Grund der Schutzfähigkeit und -willigkeit des ivorischen Staates sowie der Präsenz internationaler Einsatzkräfte - das Mandat der Truppen der Vereinten Nationen in der Côte d'Ivoire (ONUCI) wurde am 27.07.2011 um ein weiteres Jahr verlängert und französische Soldaten werden langfristig im Land stationiert, um die Sicherheitslage zu stabilisieren (vgl. Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.: Länderbericht "Côte d'Ivoire - Der lange Weg aus der Krise", 16.08.2011, abrufbar unter www.kas.de/wf/doc/kas_23636-1522-1-30.pdf) - ebenfalls nicht die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Beim Kläger liegt auch kein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 2 AufenthG vor. Danach darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden.

Eine staatliche Zurechenbarkeit der Verfolgungshandlungen ist im Rahmen des § 60 Abs. 2 AufenthG nicht erforderlich (Hailbronner, § 60 AufenthG, Rn. 125).

Die Kammer glaubt dem Kläger, dass er verhaftet und gefoltert wurde, dass sein Vater ermordet und sein Haus zerstört wurde sowie dass er konkrete Morddrohungen erhalten hat. In seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung war zu erkennen, dass er immer noch psychisch durch die damals stattgefundenen Ereignisse stark belastet ist.

Bei dem Kläger, der vorverfolgt aus der Côte d'Ivoire ausgereist ist, streitet die Vermutung, dass sich eine frühere Verfolgung oder Schädigung bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, NVwZ 2011, 51; BVerwGE 136, 377). Viele Mitglieder der Milizen Gbagbos sind weiterhin aktiv und greifen die Bevölkerung an (vgl. Amnesty International, aaO). In der Côte d'Ivoire sind in Folge der Unruhen viele Waffen im Umlauf (vgl. Auswärtiges Amt, "Kleinwaffenkontrolle in Côte d'Ivoire" vom 02.12.2011, aaO). Der Kläger als Sicherheitsbeauftragter der Sektion 47 der RDR ist im Gegensatz zu einfachen Parteimitgliedern in herausgehobener Position tätig gewesen. Nicht zuletzt das von ihm gegebene Interview, das in der Zeitung "Le Flambeau" erschienen ist, sowie sein Auftritt bei einer Parteiversammlung lassen vermuten, dass er im Falle einer Rückkehr in die Côte d'Ivoire wiederum in das Blickfeld der Anhänger Gbagbos geraten wird. Diese Vermutung ist jedoch insoweit durch "stichhaltige Gründe" widerlegt, als lediglich die erlittene Folter die Zuerkennung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 2 AufenthG rechtfertigen würde. Die übrigen Erlebnisse des Klägers stellen keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des § 60 Abs. 2 AufenthG dar (zu den diesbezüglichen hohen Maßstäben vgl. Hailbronner, AuslR, § 60 AufenthG, Rn. 112 ff.). Bei der Folter handelt es sich jedoch um ein einmaliges Ereignis anlässlich der Inhaftierung des Klägers im Jahre 2002, das sich trotz seiner in der Folge fortgesetzten politischen Aktivitäten nicht wiederholt hat. Der Kläger war zwar zur Überzeugung der Kammer auch in der Folge verschiedenen Repressionen ausgesetzt; diese erreichten jedoch nicht die erforderliche Intensität.

Aus diesem Grunde hat der Kläger auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK.

Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG besteht trotz der Unruhen in der Côte d'Ivoire nach den der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln und den allgemein zugänglichen Informationen nicht. Nach dieser Vorschrift, mit der die sich aus Art. 18 in Verbindung mit Art. 15 lit. c) der Qualifikationsrichtlinie ergebenden Verpflichtungen auf Gewährung eines "subsidiären Schutzstatus" bzw. "subsidiären Schutzes" in nationales Recht umgesetzt werden, ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. An diesen Voraussetzungen fehlt es im vorliegenden Fall. [...]

Die Frage, ob die derzeitige Situation in der Côte d'Ivoire die landesweit oder auch nur regional gültige Annahme eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts rechtfertigt, kann dahinstehen. Denn selbst bei der Annahme eines solchen Konflikts besteht ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur dann, wenn der Ausländer einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben "im Rahmen" dieses Konflikts ausgesetzt ist. Eine solche Gefahr lässt sich im vorliegenden Fall bislang nicht feststellen.

Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14.07.2009 - 10 C 9.08 - (BVerwGE 134, 188) kann sich die nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG erforderliche Individualisierung der sich aus einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt ergebenden allgemeinen Gefahr nicht nur aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Ausländers ergeben. Sie kann vielmehr unabhängig davon ausnahmsweise auch bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre. Gefahrerhöhende Umstände im Sinne einer politischen Orientierung oder Aktivität in seiner Person werden vom Kläger nicht geltend gemacht. Insbesondere seine Tätigkeit für die Rebellen stellt nach dem Wahlsieg und Amtsantritt des Präsidenten Ouattara keinen gefahrerhöhenden Umstand mehr dar. Die erforderliche Individualisierung könnte sich daher nur durch einen besonders hohen Grad der dem Kläger in seiner Heimatregion drohenden Gefahren ergeben, vor denen er auch in den übrigen Teilen der Côte d'Ivoire keinen Schutz finden kann. Ein so hoher Gefahrengrad, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre, lässt sich jedoch für die Côte d'Ivoire nach Auffassung der Kammer nicht feststellen. Durch die jüngsten Entwicklungen - die Festnahme des ehemaligen Präsidenten Gbagbo sowie den Amtsantritt des nunmehrigen Präsidenten Ouattara - hat sich die innenpolitische Lage allmählich beruhigt. Die meisten der Flüchtlinge konnten in die Côte d'Ivoire zurückkehren. Die Menschenrechtslage hat sich insgesamt verbessert (vgl. AFP, 02.05.2011; Auswärtiges Amt: Länderinformation Côte d'Ivoire - Innenpolitik, Stand Oktober 2011). Präsident Ouattara hat eine nationale Versöhnungskommission einberufen, die die Verbrechen, die während des Machtkampfes um das Präsidentenamt begangen wurden, aufklären soll; er plant zudem, seinen Amtsvorgänger Gbagbo wegen begangener Kriegsverbrechen vor Gericht zu stellen (vgl. Lukas Niemeyer: "Ivorische Flüchtlinge fürchten weiteren Gewalt", www.afrika-travel.de, 28.07.2011). Er hat zudem den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) angerufen. Eine erste IStGH-Delegation ist bereits vom 27.06. bis zum 04.07.2011 im Land gewesen, um über die Grundlage einer Verfahrensaufnahme zu entscheiden (vgl. Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.: Länderbericht "Côte d'Ivoire - Der lange Weg aus der Krise", 16.08.2011, aaO). Das Mandat der Truppen der Vereinten Nationen in der Côte d'Ivoire (ONUCI) wurde am 27.07.2011 um ein weiteres Jahr verlängert. Auch französische Soldaten werden langfristig im Land stationiert, um die Sicherheitslage zu stabilisieren (vgl. ebenda). Die Parlamentswahlen am 11.12.2011 hat die RDR mit einem Stimmenanteil von 86 % gewonnen. Es gibt weiterhin unsichere Regionen, in denen frühere Rebellen aus dem Lager Ouattaras, Angehörige der Forces republicaines de Côte d'Ivoire (FRCI) sowie der Dozo, einem traditionellen Jägervolk, und auch Anhänger des Gbagbo die Bevölkerung angreifen (vgl. Amnesty International, aaO); dies sind jedoch einzelne Übergriffe, die nicht den Gefahrengrad erreichen, der für die Annahme einer allgemeinen Gefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG erforderlich ist.

Der Kläger hat jedoch Anspruch auf die Zuerkennung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. [...]

Wie bereits im Rahmen der Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG ausgeführt, läuft der Kläger angesichts seiner konkreten Vorgeschichte, seiner politischen Aktivitäten sowie der erlittenen Repressalien vor dem Hintergrund der (noch) unsicheren Verhältnisse in der Côte d'Ivoire (vgl. Allgemeine Zeitung Namibia: "Der Frieden an der Elfenbeinküste ist zerbrechlich" vom 16.04.2012, abrufbar unter www.az.com.na/politik/der-frieden-an-der-elfenbeinkste-ist-zerbrechlich.146474.php; Ärzte ohne Grenzen: "Erneut Tote nach Gewalt gegen Zivilisten", Pressemitteilung vom 20.09.2011) Gefahr, im Falle seiner Rückkehr Opfer von Übergriffen zu werden. Diese können zur Überzeugung der Kammer in Gestalt von Racheakten wegen der angeblichen Verleumdungen im Interview mit der Zeitung "Le Flambeau" oder "lediglich" wegen der umfangreichen politischen Aktivitäten des Klägers geschehen. Die Anhänger Gbagbos sind weiterhin aktiv; unter ihnen befinden sich auch ehemalige Milizionäre, so dass die konkrete Gefahr dem Kläger in diesem Einzelfall derzeit auch mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit droht.

Überdies ist der Kläger nach dem persönlichen Eindruck des Gerichts durch die Erlebnisse, insbesondere die erlittene Folter in seinem Heimatland psychisch derart stark belastet, dass eine Rückkehr in die Côte d'Ivoire zu einer Retraumatisierung führen würde, so dass auch aus diesem Grund derzeit ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG besteht. [...]