VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 26.04.2012 - 2 B 20/12 - asyl.net: M19801
https://www.asyl.net/rsdb/M19801
Leitsatz:

Das Freizügigkeitsrecht einer Italienerin geht nicht bei Einbürgerung in Deutschland verloren.

Der Widerspruch gegen die Ablehnung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern hat aufschiebende Wirkung.

Schlagwörter: freizügigkeitsberechtigt, Doppelstaatler, Unionsbürger, deutsche Staatsangehörigkeit, doppelte Staatsangehörigkeit, Einbürgerung, Aufenthaltskarte, Widerspruch, Freizügigkeitsrecht, Nichtbestehen, Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts, drittstaatsangehöriger Ehegatte, drittstaatsangehörige Familienangehörige,
Normen: FreizügG/EU § 2 Abs. 1, FreizügG/EU § 7, FreizügG/EU § 11 Abs. 2, VwGO § 80 Abs. 5, FreizügG/EU § 5 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Der vom Antragsteller gestellte Hauptantrag ist statthaft. In den Fällen, in denen der Bürger geltend macht, ein von ihm eingelegter Rechtsbehelf habe kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung, dieses von der Behörde indes bestritten wird, kann Rechtsschutz nur in analoger Anwendung des § 80 Abs. 5 VwGO durch eine gerichtliche Feststellung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsmittels erlangt werden. Diese Analogie ist geboten, weil anderenfalls der Rechtsschutz des Bürgers verkürzt würde (vgl. Kopp/Schenk, VwGO, Kommentar, § 80 Rd. 181).

Dieser Antrag ist auch begründet. Die Kammer teilt die Auffassung des Antragstellers, dass seinem Widerspruch vom 02.04.2012 hinsichtlich der Ablehnung der Ausstellung einer Bescheinigung gemäß § 5 Abs. 2 FreizügG/EU aufschiebende Wirkung bereits kraft Gesetzes zukommt. Das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis für diesen Antrag liegt vor, weil der Antragsgegner offensichtlich der Auffassung ist, dass er die Abschiebung des Antragstellers betreiben könnte, obwohl er auch hinsichtlich der mit Bescheid vom 21.03.2012 verfügten Ablehnung der Ausstellung einer Bescheinigung nach § 5 Abs. 2 FreizügG/EU nicht den Sofortvollzug angeordnet hat. Dies ergibt sich auch daraus, dass er den Antrag des Antragstellers vom 02.04.2012 auf Erteilung einer Bescheinigung über die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs mit Schreiben vom 03.04.2012 abgelehnt hat. Der Antragsteller muss daher damit rechnen, dass der Antragsgegner die im Bescheid vom 21.03.2012 enthaltene Abschiebungsandrohung im Falle der nicht freiwilligen Ausreise auch vollziehen wird.

Ein Wegfall der aufschiebenden Wirkung ergibt sich nicht aus § 11 Abs. 2 FreizügG/EU iVm § 84 Abs. 1 AufenthG. Nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU findet, soweit das Freizügigkeitsgesetz/EU keine besonderen Regelungen trifft, das Aufenthaltsgesetz Anwendung, wenn die Ausländerbehörde - wie hier - das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts festgestellt hat. § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG kommt aber nicht zur Anwendung, weil diese Vorschrift auf die Versagung eines Aufenthaltstitels und das damit einhergehende Erlöschen einer Duldungs- oder Aufenthaltsfiktion nach § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG zugeschnitten ist. Eine Feststellung iSd § 7 Abs. 1 Satz 1 bzw. § 11 Abs. 2 FreizügG/EU ist damit nicht vergleichbar, da sie systematisch etwas anderes als die Ablehnung eines Aufenthaltstitels darstellt und eine - für das Aufenthaltsgesetz spezifische - Fiktionswirkung nicht auslösen kann.

Ein Entfallen der aufschiebenden Wirkung ergibt sich auch nicht aus dem Gesetz selbst oder dem gesetzessystematischen Zusammenhang. Das EU-Freizügigkeitsgesetz enthält keine Regelung über die Vollziehbarkeit der Entscheidung über das Nichtbestehen oder den Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU. Ein entsprechender Wille des Gesetzgebers lässt sich auch nicht mit der erforderlichen Klarheit aus § 7 Abs. 1 FreizügG/EU ableiten. Danach darf zwar die Abschiebung in den Fällen, in denen ein Antrag nach § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung gestellt wird, nicht erfolgen, bevor über den Antrag entschieden wurde. Diese Regelung alleine rechtfertigt aber nicht die Annahme, der Gesetzgeber sei vom sofortigen Vollzug der behördlichen Entscheidung ausgegangen. Der Hinweis auf § 80 Abs. 5 VwGO macht auch Sinn, wenn er sich allein auf den Fall bezieht, dass die Behörde die Feststellung über das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts mit einer Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO verknüpft hat. Es wird daher überwiegend die Auffassung vertreten, dass die Entscheidung über das Nichtbestehen der Rechte nach § 2 FreizügGlEU zwar wirksam, aber erst durch die behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehung vollziehbar ist (vgl. VG Münster, Beschluss vom 22.10.2008 - 8 L 481/08 -; VG München, Beschluss vom 07.10.2010 - M 10 S 10.3198 -; GK-AufenthG, FreizügG/EU § 7 Rd. 8; Renner, AuslR, FreizügG/EU § 11 Rd. 10).

Nicht ausdrücklich in § 7 FreizügG/EU geregelt ist zwar der Status der Unionsbürger und Familienangehörigen, die kein Recht auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU genießen, bei denen die Ausländerbehörde aber noch keine Feststellung des Nichtbestehens oder Verlustes des Freizügigkeitsrechts erlassen hat. Die Kammer folgt der Auffassung, wonach auch in diesen Fällen die Ausländerbehörde eine Entscheidung über das Bestehen oder Nichtbestehen des Rechts nach § 2 FreizügG/EU zu treffen hat. Das Freizügigkeitsgesetz/EU geht von einer Freizügigkeitsvermutung aus. Ein Unionsbürger und ein drittstaatsangehöriger Familienangehöriger unterliegen dem Freizügigkeitsgesetz/EU so lange, bis die Ausländerbehörde eine Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlustes des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 FreizügG/EU erlassen hat (so Renner, AuslR, FreizügG/EU § 11 Rd. 7 unter Hinweis und Darlegung der entsprechenden Gesetzesmaterialien). Von daher kann nicht der Schluss gezogen werden, dass bei anfänglichem Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts von vornherein ohne weiteres das Aufenthaltsgesetz Anwendung findet. Einer solchen Auslegung stünde § 11 Abs. 1 FreizügG/EU entgegen, der - auch für drittstaatsangehörige Familienangehörige - bestimmt, dass das Aufenthaltsgesetz erst Anwendung findet, wenn die Ausländerbehörde das Nichtbestehen oder den Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt hat. § 11 Abs. 2 FreizügG/EU setzt also auch für drittstaatsangehörige Familienangehörige die Möglichkeit einer Nichtbestehensfeststellung voraus und verlangt eine solche, um in den Anwendungsbereich des Aufenthaltsgesetz zu gelangen. Erforderlich ist eine rechtsförmige Feststellung durch Verwaltungsakt (GK, AufenthG, FreizügG/EU § 7 Rd. 6; OVG Hamburg, Beschluss vom 06.03.2008 - 3 Bs 281/07 -). Durch die Ablehnung der Ausstellung einer Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern gemäß § 5 Abs. 2 FreizügG/EU mit Bescheid vom 21.03.2012 hat der Antragsgegner zugleich damit auch festgestellt, dass Rechte nach § 2 FreizügG/EU nicht bestehen. Der hiergegen eingelegte Widerspruch hat daher aufschiebende Wirkung, so dass dem Hauptantrag ohne weitere Interessenabwägung zu entsprechen ist.

Angemerkt sei noch, dass die Kammer im Falle der Anordnung des Sofortvollzuges einem Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung voraussichtlich stattgegeben hätte. Im Falle der vorzunehmenden Interessenabwägung wäre dem Interesse des Antragstellers, einstweilen hier in der Bundesrepublik Deutschland die familiäre Lebensgemeinschaft leben zu können, der Vorrang einzuräumen, weil die Frage, ob in Fallkonstellationen wie der vorliegenden die Rechtsstellung nach § 2 FreizügG/EU besteht, schwierig und bislang nicht höchstrichterlich geklärt ist. Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 05.05.2011 - C-434/09 - entschieden, dass ein Unionsbürger der - wie in dem dort zugrundeliegenden Sachverhalt - noch nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht und sich stets in einem Mitgliedsstaat aufgehalten hatte, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, auch dann nicht unter den Begriff "Berechtigter" iSv Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 fällt, wenn er im Besitz einer weiteren Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates ist. Dass ein Bürger die Staatsangehörigkeit mehr als eines Mitgliedstaates besitze, bedeute insoweit nämlich nicht, dass er von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hätte. Zudem sei nach dem Wortlaut der Richtlinie erforderlich, dass sich der Unionsbürger in einen "anderen" als den Mitgliedsstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitze, "begebe" oder sich dort "aufhalte".

Der vorliegende Fall weist allerdings die Besonderheit auf, dass die Ehefrau des Antragstellers sich als italienische Staatsangehörige - ohne zugleich im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit zu sein - über Jahrzehnte im Bundesgebiet aufgehalten hatte und während dieser Zeit zweifelsfrei die Rechte nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU erlangt hatte. Die Frage, die sich vorliegend stellt, ist, ob sie diese Rechte nach Annahme der deutschen Staatsangehörigkeit wieder verloren hat oder ob sich der Antragsteller jedenfalls hierauf nicht berufen kann, weil sie zwischenzeitlich die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen hat und damit möglicherweise ab diesem Zeitpunkt nicht mehr unter den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt. Allerdings weisen weder die Richtlinie noch das Freizügigkeitsgesetz/EU eine Regelung auf, wonach die Rechte aus dem Freizügigkeitsgesetz/EU bzw. der Richtlinie in dem Moment verloren gehen, in dem die Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats angenommen wird, in dem sich der Unionsbürger bislang aufgehalten hat. Mangels einer gesetzlichen Regelung müsste daher ein Verlust der Rechte aus der Unionsbürgerrichtlinie aus Sinn und Zweck der Richtlinie bzw. des Freizügigkeitsgesetzes hergeleitet werden. Gerade in den Fällen, in denen der Unionsbürger nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU bereits ein Daueraufenthaltsrecht erlangt hat, erscheint die Zulässigkeit einer derartigen Auslegung zweifelhaft (vgl. VG München, Urteil vom 07.12.2006 - M 24 K 06.2436 - zitiert nach juris). [...]