VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 04.06.2012 - 4 K 2349/10.A - asyl.net: M19877
https://www.asyl.net/rsdb/M19877
Leitsatz:

Die bloße Aussage, als Christ in der Region Kurdistan-Irak bedroht zu sein, ist für eine Flüchtlingsanerkennung nicht ausreichend. Hierzu ist ein individuelles Verfolgungsschicksal glaubhaft zu machen.

Schlagwörter: Irak, Nordirak, Kurdistan, Kurdistan-Irak, Gruppenverfolgung, Chaldäer, Christen, Minderheit, Minderheiten, Arbil, familiärer Rückhalt, christliche Glaubenszugehörigkeit, Autonome Region Kurdistan, Diskriminierung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 60 aBs. 1 S. 4,
Auszüge:

[...]

Ausgehend von diesen Grundsätzen droht dem Kläger aufgrund der geänderten politischen Verhältnisse im Irak derzeit und in absehbarer Zukunft keine staatliche oder von einem Akteur im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ausgehende und auf die Merkmale des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bezogene Verfolgung im Irak. Der Kläger kann deshalb keinen Abschiebungsschutz wegen drohender Verfolgung nach § 60 Abs. 1 AufenthG beanspruchen.

Eine drohende Einzelverfolgung hat der Kläger nicht glaubhaft gemacht. Die bloße Aussage, Christen in der Region Kurdistan-Irak würden bedroht, ist insoweit nicht ausreichend.

Die Gefahr eigener Verfolgung kann sich allerdings nicht nur aus gegen den Betroffenen selbst gerichteten Maßnahmen ergeben, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das der Betroffene mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen vom hier nicht einschlägigen Fall eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms - eine bestimmte "Verfolgungsdichte" voraus, welche die Vermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, die vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss. Diese für die staatliche Gruppenverfolgung entwickelten Grundsätze sind auch auf die private Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie nunmehr durch § 60 Abs. 1 Satz 4 c) AufenthG ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 12. August 2010 - A 2 S 1134/10 -, juris; BVerwG, Urteil vom 21. April 2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237).

Nach diesen Maßstäben droht dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak auch keine Verfolgung aufgrund seiner christlichen Glaubenszugehörigkeit. In der Region Kurdistan-Irak unterliegen chaldäische Christen keiner Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure.

Dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 26. März 2012 ist zunächst zu entnehmen, dass offiziell anerkannte Minderheiten wie Christen, Yeziden oder Chaldäer zwar in der Verfassung verbriefte Minderheitenrechte genießen, in der Realität jedoch - außer in der Region Kurdistan-Irak - einem spezifischen Verfolgungs- und Vertreibungsdruck ausgesetzt sind (Seite 6). Nach Schätzungen leben heute noch etwa 300.000 Christen im Irak (2003: 1,2 Millionen). Die gravierende Verschlechterung der Situation der Christen seit dem Ende der Diktatur im April 2003 wird glaubhaft berichtet (Seite 23). In der Region Kurdistan-Irak hätten seit 2003 viele christliche Flüchtlinge aus anderen Landesteilen Zuflucht gefunden. In dieser Region seien Minderheiten weitgehend vor Gewalt und Verfolgung geschützt. Die im Juli 2009 von kurdischen Regionalparlament verabschiedete Verfassung - die noch durch ein Referendum bestätigt werden muss - sieht umfangreiche Rechte für religiöse und ethnische Minderheiten in der Region vor (Seite 17). Die kurdische Regionalregierung hat ein politisches Interesse am Verbleib der christlichen Minderheit (Seite 24) (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 26. März 2012; vgl. zur Lage der Christen im Nordirak auch VG Bayreuth, Urteil vom 20. September 2010 - B 3 K 09.30061 -, juris).

Auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge stellt in seiner Information "Lage der Religionsgemeinschaften in ausgewählten islamischen Ländern" vom August 2011 fest, dass es in den drei Provinzen, die unter Verwaltung der Kurdischen Regionalregierung stehen, kaum Anzeichen von Diskriminierung religiöser und ethnischer Minderheiten gebe (Seite 32).

Vor diesem Hintergrund ist nicht ersichtlich, dass dem Kläger in der Region Kurdistan-Irak eine Verfolgung wegen seiner christliche Glaubenszugehörigkeit drohen könnte. Da der Kläger aus Arbil stammt und bis zu seiner Ausreise dort gelebt hat, kann von ihm auch im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 QualRL "vernünftigerweise erwartet werden", dass er sich nach einer Rückkehr in den Irak "in diesem Landesteil aufhält". Dies gilt umso mehr, als der Kläger familiären Rückhalt vor Ort zu erwarten hat. [...]