VG Oldenburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 23.01.2002 - 5 A 2159/01 - asyl.net: M1990
https://www.asyl.net/rsdb/M1990
Leitsatz:

Mittelbare staatliche Verfolgung von Yeziden in der Türkei; zur Feststellung der yezidischen Glaubensgebundenheit im Einzelfall; keine Zweifel an Gutachten des yezidischen Kulturforums; Glaubensgebundenheit setzt voraus, dass die wesentlichen Grundsätze des yezidischen Glaubens beachtet werden, nicht jedoch, sich allen geltenden Normen menschlichen Zusammenlebens sowie den yezidischen Grundsätzen der Wahrhaftigkeit, der Scham und des Eingestehens von Schuld verpflichtet zu fühlen.

 

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Jesiden, Gruppenverfolgung, Mittelbare Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Religiös motivierte Verfolgung, Glaubwürdigkeit, Beweismittel, jezidisches Kulturforum, Parteigutachten, Gefälligkeitsbescheinigungen, Sachkunde, Beweiswürdigung
Normen: AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Mittelbare staatliche Verfolgung von Yeziden in der Türkei; zur Feststellung der yezidischen Glaubensgebundenheit im Einzelfall; keine Zweifel an Gutachten des yezidischen Kulturforums; Glaubensgebundenheit setzt voraus, dass die wesentlichen Grundsätze des yezidischen Glaubens beachtet werden, nicht jedoch, sich allen geltenden Normen menschlichen Zusammenlebens sowie den yezidischen Grundsätzen der Wahrhaftigkeit, der Scham und des Eingestehens von Schuld verpflichtet zu fühlen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Kläger haben Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG.

Nach ständiger Rechtsprechung des OVG Lüneburg (vgl. Grundsatzurteil vom 28. Januar 1993, 11 L 513/89) und des erkennenden Gerichts (vgl. Urteil vom 16. Juni 1997, 5 A 118/94) sind Yeziden in der Türkei zumindest seit 1988/89 in ihrem angestammten Siedlungsgebiet im Südosten der Türkei einer mittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung durch die moslemische Bevölkerungsmehrheit ausgesetzt, der sie sich nicht durch ein Ausweichen in andere Landesteile entziehen können. Erkenntnisse, welche die Annahme rechtfertigen könnten, die Situation habe sich inzwischen verbessert, liegen nicht vor. Danach sind glaubensgebundene Yeziden grundsätzlich asylberechtigt, sie genießen Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG.

Die Kläger sind nach Überzeugung des erkennenden Gerichts glaubensgebundene Yeziden. Sie haben glaubhaft gemacht, sich ihrer Glaubensgemeinschaft verbunden zu fühlen und ihrer Tradition gemäß zu leben. Das erkennende Gericht ist davon überzeugt, dass sie fest in ihrem yezidischen Glauben verwurzelt sind. Die bereits aufgrund der Herkunft der Kläger aus einem yezidischen Dorf berechtigte Annahme, dass sie yezidischer Religionszugehörigkeit sind, wird dadurch erhärtet, dass sie einer yezidischen Familie entstammen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme haben die Kläger auch die ihnen in der Anhörung vor dem Bundesamt gestellten Fragen zur yezidischen Religion im wesentlichen zutreffend beantwortet. Dass die Kläger über einen unterschiedlichen Kenntnisstand verfügen und einzelne Fragen nach Ansicht der Sachverständigen nicht in jeder Hinsicht korrekt beantwortet haben, ist nach Auffassung des erkennenden Gerichts kein Grund, deren Zugehörigkeit zur yezidischen Glaubensgemeinschaft in Frage zu stellen. Denn es ist neben dem Bildungsstand der Kläger auch zu beachten, dass einfache Gläubige (Muriden) oftmals nur über geringe Kenntnisse der yezidischen Religion verfügen (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 24. September 1998, 11 L 6819/96). Hinzu kommt, dass bestimmte Glaubensgrundsätze je nach regionaler Herkunft streitig sind und dass die tägliche religiöse Praxis sowie die religiösen Traditionen unterschiedlich gehandhabt werden (vgl. Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom 14. November 2001 an das VG Stade).

Die aufgrund der "Kreuztätowierungen" der Kläger zu 1) und zu 2) sowie der Äußerung der Klägerin zu 2) in der Anhörung vor dem Bundesamt, sie verehre auch Jesus Christus, durchaus berechtigten Zweifel der Beklagten wurden durch die vom erkennenden Gericht eingeholte Stellungnahme des yezidischen Kulturforums Oldenburg vom 9. Oktober 2001 nachvollziehbar und überzeugend ausgeräumt. Danach sind derartige Kreuztätowierungen im Viransehir-Gebiet nicht unüblich, sie gelten als Körperschmuck und stehen nicht in Zusammenhang mit dem christlichen Kreuz.

In der Stellungnahme des Kulturforums vom 9. Oktober 2001 wurde weiter ausgeführt, das Tragen eines blauen Kopftuches sei zwar für yezidische Frauen unüblich, daraus lasse sich jedoch nicht ableiten, die Klägerin zu 2) missachte die yezidischen Traditionen. Auch dass sie Jesus verehre, stehe dazu nicht im Widerspruch, denn Jesus werde von den Yeziden als Kind Gottes angesehen und werde in den Gebeten der Yeziden namentlich genannt. Die Erklärung, "Sherfeddin" sei ihre Religion, sei ein festes Bekenntnis zur Lehre Sheikh Adi s. Gründe, diese Ausführungen in Zweifel zu ziehen, sieht das erkennende Gericht nicht. Die Beklagte ist dem auch nicht im einzelnen entgegengetreten.

Die Beklagte hat vielmehr geltend gemacht, die von den Klägern vorgelegten Bescheinigungen des yezidischen Kulturforums Oldenburg seien als Parteigutachten nicht als Beweismittel geeignet. Die Unterzeichner verfügten als Muriden nicht über den erforderlichen Sachverstand. Das Wissen über die Religionszugehörigkeit und zur Glaubensgebundenheit der Betroffenen könne nicht ausschließlich aus dem Wissen anderer Yeziden hergeleitet werden. Auch könne man sich nicht blind auf die Angaben der Betroffenen verlassen. Glaubensgebundenheit bescheinige das Kulturforum allen formal der yezidischen Gemeinschaft zugehörigen Yeziden, die Rechtsprechung dazu werde missachtet; die durch das Gericht eingeholte Stellungnahme sei nicht unparteilich.

Dem mag das erkennende Gericht nicht zu folgen.

Konkrete Gründe, die von dem yezidischen Kulturforum in Oldenburg ausgestellten Bescheinigungen generell oder im Einzelfall in Zweifel zu ziehen, sind in der Vergangenheit nicht bekannt geworden. Auch im vorliegenden Fall haben sich keine derartigen Erkenntnisse ergeben. Nach der ausführlichen Anhörung der als Sachverständige geladenen Unterzeichner, der von den Klägern vorgelegten Bescheinigungen sowie der durch das Gericht eingeholten Stellungnahme ist das erkennende Gericht vielmehr zu der Überzeugung gelangt, dass die in Frage stehenden Bescheinigungen und die genannte Stellungnahme auf der Grundlage einer außerordentlichen Sachkunde, unparteiisch sowie nach bestem Wissen und Gewissen (vgl. § 410 Abs. 2 ZPO) erstellt wurden. Dass es sich bei den von den Klägern vorgelegten Bescheinigungen verfahrensrechtlich nicht um ein Sachverständigengutachten im Sinne des § 411 ZPO, sondern um Parteivorbringen handelt, steht deren Berücksichtigung nicht entgegen, denn das Gericht entscheidet gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung.

An der Sachkunde der insoweit für das yezidische Kulturforum handelnden Personen besteht entgegen der Ansicht der Beklagten keinerlei Zweifel. Die Beweisaufnahme hat ergeben, dass die Sachverständigen ein umfassendes Wissen über die yezidische Religion haben. Das Deutsche Orient-Institut hat in der Stellungnahme vom 14. November 2001 an das VG Stade dazu ausgeführt, zu dem Kreis der beim yezidischen Kulturforum Oldenburg maßgebenden Personen gehörten auch Leute, die sich innerhalb der yezidischen Religionsgemeinschaft höchster Achtung erfreuten und die über ein außerordentlich fundiertes Wissen über die yezidische Religion verfügten.

Auch für die weitere - nicht näher begründete - Behauptung der Beklagten, das yezidische Kulturforum Oldenburg stelle "Gefälligkeitsbescheinigungen" aus, haben sich keine Anhaltspunkte ergeben.

Das erkennende Gericht ist auch zu der Überzeugung gelangt, dass die Kläger glaubensgebundene Yeziden sind. Eine glaubensgebundene, religiös geprägte Persönlichkeit ist derjenige, der die Überzeugungen und Forderungen seines Glaubens als wesentliches Element seiner Einstellung zur Welt und zu den Menschen in sich aufgenommen hat, mit anderen Worten, wer die wesentlichen Glaubensgrundsätze und Gebote seiner Religion als verpflichtend ansieht und nach ihnen zu leben bemüht ist (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 24. September 1998, 11 L 6819/96). Dazu steht entgegen der Auffassung der Beklagten die Ansicht der in der mündlichen Verhandlung gehörten Sachverständigen nicht im Widerspruch, die Glaubensgebundenheit der Yeziden folge aus der Beachtung der Heiratsgebote (Heirat nur innerhalb der Region und der eigenen Kaste), dem Bekenntnis zu Gott und Tá usi-Melek, der Respektierung der geistlichen Würdenträger und der Verwurzelung in der yezidischen Gemeinschaft durch Teilnahme am religiösen (und kulturellen) Leben. Denn dabei handelt es sich um die wesentlichen Grundsätze der yezidischen Religion. Das erkennende Gericht teilt die Ansicht der Sachverständigen, die Frage nach der Einhaltung ethisch-moralischer oder sittlicher Grundsätze sei im Hinblick auf die Glaubensgebundenheit nicht

(- grundsätzlich -) von entscheidender Bedeutung. Das Deutsche Orient-Institut hat in seiner Stellungnahme vom 14. November 2001 an das VG Stade dazu ausgeführt, das Kulturforum stelle völlig zu Recht nicht auf die individuelle Tiefe der Verbundenheit mit der eigenen Religion ab, denn es stelle keine "Gewissensbescheinigung" über die Einhaltung der religiösen Vorschriften aus. Dem folgt das erkennende Gericht jedenfalls insoweit, als damit zum Ausdruck gebracht werden soll, dass hinsichtlich der Frage der Glaubensgebundenheit nicht maßgeblich darauf abzustellen ist, ob der Betroffene die - ungeachtet der Religionszugehörigkeit - für alle geltenden Normen menschlichen Zusammenlebens achtet sowie ob und in welcher Weise er sich den (yezidischen) Grundsätzen der Wahrhaftigkeit, der Scham und des Eingestehens von Schuld verpflichtet fühlt. Entscheidend sind daher auch im Falle eines straffällig gewordenen Angehörigen der yezidischen Religionsgemeinschaft - wie auch sonst - die konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalles. Der ohne nähere Darlegung von Einzelheiten erfolgte Hinweis der Beklagten, durch das yezidische Kulturforum sei auch rechtskräftig verurteilten Straftätern bescheinigt worden, glaubensgebundene Yeziden zu sein, rechtfertigt daher für sich genommen keinesfalls generelle Bedenken hinsichtlich der durch das Kulturforum ausgestellten Bescheinigungen.