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OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.04.2012 - 18 B 1585/11 - asyl.net: M19900
https://www.asyl.net/rsdb/M19900
Leitsatz:

Wird eine Abschiebung durch eine Ausländerbehörde im Wege der Amtshilfe durchgeführt, wird sie dadurch nicht für die Gewährung von Abschiebungsschutz zuständig.

Die örtlich zuständige Ausländerbehörde kann verpflichtet sein, einem Ausländer, dessen Aufenthalt nach § 61 Abs. 1 Satz 1 AufenthG auf das Gebiet eines anderen Bundeslandes beschränkt ist, einen länderübergreifenden Wohnsitzwechsel durch Erteilung einer (Zweit-)Duldung zu ermöglichen.

Schlagwörter: Duldung, Duldungsbescheinigung, Zweitduldung, Herstellung und Wahrung der Familieneinheit, familiäre Lebensgemeinschaft, örtliche Zuständigkeit, Amtshilfe,
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, AufenthG § 61 Abs. 1 S. 1, GG Art. 6 Abs. 1, GG Art. 6 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Die Beschwerde hat Erfolg. Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat beschränkt ist, § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO, geben Anlass, den angefochtenen Beschluss abzuändern oder aufzuheben.

Der Antragsgegnerin fehlt zwar die örtliche Zuständigkeit für die Gewährung von Abschiebungsschutz, soweit der Antragsteller sich gegen die von der Ausländerbehörde E. veranlasste und von der Antragsgegnerin im Wege der Amtshilfe durchzuführende Abschiebung wendet. § 4 Abs. 1 OBG NRW ist, weil der Antragsteller sich insoweit gegen eine nicht von der Antragsgegnerin veranlasste Maßnahme wendet, für die Bestimmung der örtlich zuständigen Ausländerbehörde ohne Bedeutung (vgl. hierzu Senatsbeschlüsse vom 13. Februar 2007 - 18 B 243/07 - , juris, und vom 18. März 2004 - 18 B 581/04 -, juris).

Das Begehren des Antragstellers ist allerdings zugleich darauf gerichtet, ihm im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO durch Erteilung einer Duldung zumindest vorläufig den weiteren Aufenthalt mit seiner Familie im Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin zu ermöglichen. Insoweit hat die Beschwerde Erfolg, denn der Antragsteller hat sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Dem Antragsteller steht ein Anspruch auf Erteilung einer Duldung (§ 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG) gegenüber der Antragsgegnerin zu.

Der Duldungsanspruch des Antragstellers richtet sich zutreffend gegen die Antragsgegnerin. Sie ist passiv legitimiert, weil sie örtlich für die Erteilung der Duldung zuständig ist. Es entspricht der Senatsrechtsprechung (vgl. Senatsbeschlüsse vom 17. Februar 2006 - 18 B 1707/05 -, juris, vom 2. März 2005 - 18 B 263/05 -, juris, und vom 10. Juli 1997 - 18 B 1853/96 -, NVwZ-RR 1998, 201 -; vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 29. November 2005 - 19 B 2364/03 -, InfAuslR 2006, 64), dass die für den vorgesehenen Aufenthaltsort gemäß § 4 Abs. 1 OBG NRW örtlich zuständige Ausländerbehörde einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer, der kein Asylverfahren betrieben hat (vgl. zu den Besonderheiten bei ehemaligen Asylbewerbern Senatsbeschluss vom 10. März 2010 - 18 B 1702/09 -, AuAS 2010, 176; Funke-Kaiser, GK-AufenthG, Stand März 2012, § 61 Rdnr. 25) und dessen Aufenthalt nach § 61 Abs. 1 Satz 1 AufenthG auf das Gebiet eines anderen Bundeslandes beschränkt ist, einen länderübergreifenden Wohnsitzwechsel durch Erteilung einer (Zweit-)Duldung ermöglichen kann. Mit der Erteilung dieser Duldung erledigt sich regelmäßig die dem Ausländer zunächst erteilte Duldung auf andere Weise im Sinne von § 43 Abs. 2 VwVfG. Zugleich tritt die nach § 61 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bestehende räumliche Beschränkung auf das Gebiet des Bundeslandes, in dem die neue Duldung erteilt wird, an die Stelle der bisherigen räumlichen Beschränkung (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. November 2005 - 19 B 2364/03 -, InfAuslR 2006, 64; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15. Februar 2012 - 7 A 11177/11 -, juris; SächsOVG, Beschluss vom 19. Mai 2004 - 3 BS 380/03 -, InfAuslR 2004, 341; Armbruster, HTK-AuslR/§ 61 AufenthG/ zu Abs. 1/Wohnsitzwechsel 09/2011 Nr. 2; vgl. auch Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, Stand März 2012, § 61 AufenthG, Rdnr. 21 ff., Duldung mit auflösenden Bedingungen insb. bei weitergehenden räumlichen Beschränkungen; Hailbronner, AuslR, Stand September 2011, § 61 Rdnr. 7a).

Ein Anspruch auf Erteilung einer (Zweit-)Duldung kann gegeben sein, wenn der Wohnsitzwechsel zur Herstellung und Wahrung der Familieneinheit erforderlich ist. In einer derartigen Situation verbietet es Art. 6 Abs. 1 und 2 GG grundsätzlich der für den vorgesehenen Aufenthaltsort zuständigen Ausländerbehörde, den Ausländer auf die Herstellung der Familieneinheit in einem anderen Bundesland zu verweisen, es sei denn eine Ausländerbehörde dieses Bundeslandes hat verbindlich ihre Bereitschaft zur Aufnahme der gesamten Familie erklärt oder deren dahin gehende Verpflichtung ist verbindlich durch ein Verwaltungsgericht festgestellt worden (vgl. Senatsbeschluss vom 17. Februar 2006 - 18 B 1707/05 -, juris; Hailbronner, AuslR, Stand September 2011, § 61 Rdnr. 8).

Ausgehend hiervon liegen die Voraussetzungen für die Erteilung einer Duldung durch die Antragsgegnerin gegenwärtig und vorbehaltlich einer Änderung der maßgeblichen Verhältnisse wegen Art. 6 Abs. 1 GG vor. Der Antragsteller, dem zuletzt von der Ausländerbehörde der Stadt E. eine mittlerweile abgelaufene Grenzübertrittbescheinigung erteilt wurde, lebt nach den von der Antragsgegnerin nicht in Frage gestellten Feststellungen des Verwaltungsgerichts mit seinem 2006 geborene Kind U. und dessen Mutter, die mit dem Antragsteller verlobt ist, im Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin in einer nach Art. 6 GG geschützten familiären Lebensgemeinschaft. Die Verlobte des Antragstellers ist zugleich Mutter des im Jahr 2004 geborenen Kindes L., das von seinem in Frankreich lebenden Vater Herrn L., der ursprünglich malischer Staatsangehöriger war, abgeleitet die französische Staatsangehörigkeit erworben hat. Ob der Familie mit Blick hierauf eine gemeinsame Ausreise zwecks Führung der familiären Lebensgemeinschaft außerhalb des Bundesgebietes ohne weiteres möglich ist, ist gegenwärtig noch völlig offen. Zwar besitzen die Mutter, der Antragsteller und T. die kamerunische Staatsangehörigkeit. Mit Blick auf die vom Antragsteller vorgelegte Erklärung der Republik Kamerun vom 17. Januar 2012, wonach die doppelte Staatsbürgerschaft in Kamerun nicht anerkannt ist, ist allerdings fraglich, ob dies auch für D. gilt und ob dieser mit Blick auf ihre (jedenfalls noch bestehende) französische Staatsangehörigkeit eine Ausreise nach Kamerun möglich und zumutbar ist. So geht auch die Antragsgegnerin selbst wohl (zutreffend) davon aus, dass eine Abschiebung der Kindesmutter mit den Kindern wegen der noch offenen Fragen der Staatsangehörigkeit hinsichtlich des Kindes D. und seines Vaters - diesem soll die französische Staatsangehörigkeit möglicherweise aberkannt werden - gegenwärtig nicht in Betracht kommt. Ist aber unklar, ob der Mutter und den Kindern eine gemeinsame Ausreise in absehbare Zeit möglich ist, steht Art. 6 GG einer alleinigen Abschiebung des Antragstellers nach Kamerun entgegen, da dies nach gegenwärtigem Sachstand zu einer Trennung des Antragstellers von seiner Familie für unabsehbare Zeit führt.

Auf die Führung der familiären Lebensgemeinschaft im Zuständigkeitsbereich der Ausländerbehörde E. kann der Antragsteller ebensowenig verwiesen werden wie auf die Möglichkeit, bei der dortigen Ausländerbehörde eine Verlassenserlaubnis nach § 12 Abs. 5 AufenthG zu beantragen. Letztere ermöglichen dem Antragsteller lediglich besuchsweise Aufenthalte, nicht aber die dauerhafte Führung der familiären Lebensgemeinschaft in Köln. Die Ausländerbehörde E. hat auch eine Bereitschaft zur Aufnahme der gesamten Familie nicht erklärt. Die Einbindung der Kinder in das in L. bestehende soziale Umfeld dürften einem Umzug der Kindesmutter und der Kinder nach E. zudem entgegenstehen. Im Übrigen sind keine sonstigen, der Erteilung einer Duldung im Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin entgegenstehenden zwingenden Gründe ersichtlich.

Lediglich ergänzend wird darauf hingewiesen, dass die Antragsgegnerin verpflichtet ist, gegenüber der Ausländerbehörde E., die von dem Umzug des Antragstellers Kenntnis besitzt und insoweit auch keine Bedenken geäußert hat, ihr Einvernehmen zur Aufhebung einer etwaig noch nach § 51 Abs. 6 AufenthG fortbestehenden und einer Wohnsitzverlagerung nach L. entgegenstehenden Wohnsitzbeschränkung zu erteilen (§ 72 Abs. 3 AufenthG) (vgl. insoweit auch Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 26.10.2009 (GMBl. 2009 S. 877) 12.2.5.2.4.2. und 72.3.1.2). [...]