VG Frankfurt/Oder

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Zitieren als:
VG Frankfurt/Oder, Urteil vom 11.07.2012 - 6 K 217/10.A - asyl.net: M19901
https://www.asyl.net/rsdb/M19901
Leitsatz:

Ein detailarmes und wenig konkretes Vorbringen allein reicht für eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet im Sinne von § 30 Abs. 3 AsylVfG nicht aus; vielmehr muss der Kern des Sachvorbringens in einer Weise unsubstantiiert sein, dass dem Betroffenen über die Ablehnung des Asylbegehrens hinaus die von § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG vorausgesetzte grobe Verletzung seiner Mitwirkungspflichten vorgeworfen werden kann.

Schlagwörter: Kenia, Mungiki, PNU, Party of National Unity, Mungiki-Sekte, Verletzung der Mitwirkungspflicht, Mitwirkungspflicht, Sachvorbringen, Asylantrag, behaupetes Verfolgungsschicksal, Vorbringen, Anhörung, beschränkte Anfechtung, beschränkte Aufhebung, Rechtsschutzinteresse, offensichtlich unbegründet, beschränkte Anfechtung,
Normen: AsylVfG § 30 Abs. 3, AsylVfG § 30 Abs. 3 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG. Diese Vorschrift bestimmt, dass in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 - GFK- (BGBI. 1953 II S. 559) ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden darf, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Nach § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG kann die Verfolgung ausgehen vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern staatliche oder staatsähnliche Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor landesweit drohender Verfolgung zu bieten.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Klägerin in Kenia Verfolgung im vorgenannten Sinne droht. Bei der Würdigung des Verfolgungsschicksals, das der Asylbewerber behauptet, muss das Gericht von der Wahrheit - und nicht nur der Wahrscheinlichkeit – des Vorgetragenen überzeugt sein. Dabei kommt im Rahmen der Prüfung, ob eine individuelle Verfolgungssituation gegeben ist bzw. gegeben sein kann, dem Vorbringen des Asylsuchenden ein besonderer Stellenwert zu. Denn wegen des sachtypischen Beweisnotstandes dient in erster Linie dieses Vorbringen dem Gericht als Grundlage dafür, sich von der Wahrheit des behaupteten Verfolgungsschicksals zu überzeugen. Vom Asylsuchenden ist in diesem Zusammenhang eine schlüssige und im Kernbereich widerspruchsfreie Schilderung seines persönlichen Verfolgungsschicksals zu verlangen.

Diesen Anforderungen genügt der Tatsachenvortrag der Klägerin nicht. Schon die Angaben der Klägerin zu der angeblichen Ermordung ihrer Eltern durch Mungiki während der Präsidentschaftswahlen im Dezember 2007 sind sehr oberflächlich. Auf der Grundlage ihrer Befragung in der mündlichen Verhandlung ist insoweit allenfalls festzustellen, dass die Klägerin vermutet, ihre Eltern seien durch Mungiki ermordet wurden, weil diese sie zuvor mehrfach bedroht hatten. Ebenso vage ist ihr Vortrag, sie sei nach dem Tod ihrer Eltern selbst von den Mungiki bedroht worden. Trotz mehrfacher Nachfrage gab die Klägerin in der mündlichen Verhandlung hierzu lediglich an, sie habe sich bedroht gefühlt bzw. erfahren, dass die Mungiki auch nach ihr suchen würden. Ein nachvollziehbares Motiv für diese behauptete Verfolgung konnte die Klägerin nicht benennen. Weder das politische Engagement der Eltern als einfache Mitglieder der PNU noch das angebliche Verstecken von Buschmessern durch den Vater der Klägerin können erklären, dass die Mungiki die Klägerin noch jahrelang - wie von ihr behauptet - als letzte Überlebende der Familie verfolgten. Vor diesem Hintergrund bestehen auch erhebliche Zweifel, ob sich der vorgetragene Überfall auf die Klägerin im Dezember 2009 so wie von ihr geschildert zugetragen hat. Der Klägerin konnte weder das genaue Datum dieses Vorfalls angeben noch den Namen des Mannes nennen, der ihr dabei zu Hilfe gekommen und sie bei sich aufgenommen haben soll.

Schließlich wäre selbst im Falle einer Verfolgung durch die Mungiki nicht ersichtlich, dass die Klägerin keine innerstaatliche Fluchtalternative in Kenia hätte. Dem Gericht liegen keine Erkenntnisse dafür vor, dass eine etwaige Bedrohung durch die Mungiki-Sekte, deren Verbreitungsgebiet regionale Schwerpunkte aufweist (vgl. Bundesamt (Hrsg.): Die Mungiki-Sekte in Kenia, Nürnberg, Juni 2007), landesweit bestehen würde.

Auch der auf die Feststellung von Abschiebungshindernissen gerichtete Hilfsantrag bleibt ohne Erfolg. Gründe, aus denen sich vorliegend ein solches Abschiebungshindernis ergeben könnte, sind nicht ersichtlich. Der Vortrag der Klägerin, sie habe keine Geschwister oder andere nähere Angehörige in Kenia, die ihr helfen könnten, ändert daran nichts. Die Klägerin ist ausgebildete Sekretärin und hat bereits einige Jahre in diesem Beruf gearbeitet. Nach ihrem eigenen Vortrag war sie dadurch in der Lage, auch nach dem Tod ihrer Eltern ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Zur weiteren Begründung wird auf die Ausführungen des angegriffenen Bescheides und des Beschlusses der Kammer vom 26. März 2010 verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylVfG).

Der angegriffene Bescheid ist jedoch rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, soweit das Bundesamt ihren Asylantrag (auch) nach § 30 Abs. 3 AsylVfG als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat. Ein derart begrenzter Aufhebungsantrag ist – wie die Prozessbevollmächtigte der Klägerin in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich klargestellt hat – als "Minus" von ihrem auf die Aufhebung des angegriffenen Bescheides gerichteten Antrag umfasst, mit dem die Klägerin ersichtlich alle aus diesem Bescheid für sie resultierenden nachteiligen Rechtsfolgen beseitigen will (vgl. VG Braunschweig, Urteil vom 3. März 2008 – 6 A 141/05 -, juris).

Das Rechtsschutzbedürfnis für die beschränkte Anfechtung und Aufhebung der Offensichtlichkeitsentscheidung ergibt sich aus § 10 Abs. 3 Satz 2 Aufenthaltsgesetz – AufenthG -. Danach darf die Ausländerbehörde grundsätzlich - von den in Satz 3 der Vorschrift geregelten Ausnahmen abgesehen - vor der Ausreise keinen Aufenthaltstitel erteilen, sofern der Asylantrag nach § 30 Abs. 3 AsylVfG als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde. Aufgrund dieser gesetzlichen Sperre für die Erteilung von Aufenthaltstiteln ergeben sich für diejenigen Ausländer, deren Asylantrag das Bundesamt nach § 30 Abs. 3 AsylVfG abgelehnt hat, auch insoweit aus dem angegriffenen Asylbescheid eigenständige nachteilige Rechtsfolgen, die nur mit der gerichtlichen Aufhebung des Offensichtlichkeitsurteils - soweit es auf § 30 Abs. 3 AsylVfG gestützt wird - abgewendet werden können (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. November 2006 - 1 C 10/06 -, BVerwGE 127, 161 ff.).

Vorliegend ist davon auszugehen, dass der Asylantrag der Klägerin (jedenfalls auch) nach § 30 Abs. 3 AsylVfG als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde, da das Bundesamt in der Begründung des Bescheides vom 4. März 2010 die verschiedenen Tatbestände des § 30 Abs. 3 AsylVfG - freilich ohne erkennbare Subsumtion - angeführt hat (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 25. August 2009 - 1 C 30.08 -, BVerwGE 134, 335; VG Braunschweig, a. a. O.). Im Übrigen wäre die Klägerin angesichts der gravierenden Rechtsfolgen, die § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG an eine solche qualifizierte Ablehnung knüpft, auch berechtigt, die Aufhebung des dadurch erzeugten Rechtsscheins einer Ablehnung als offensichtlich unbegründet nach § 30 Abs. 3 AsylVfG zu verlangen.

Die Ablehnung des Asylantrags der Klägerin nach § 30 Abs. 3 AsylVfG ist nicht gerechtfertigt, wobei ohnehin allein der Tatbestand des Abs. 3 Nr. 1 näher in Betracht kommt. Danach ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn das Vorbringen des Ausländers in wesentlichen Punkten nicht substantiiert oder in sich widersprüchlich ist, offenkundig den Tatsachen nicht entspricht oder auf gefälschte oder verfälschte Beweismittel gestützt wird. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor, wobei auch insoweit gem. § 77 Abs. 1 AsylVfG auf den Zeitpunkt der (letzten) mündlichen Verhandlung abzustellen ist (ebenso VG Stuttgart, Urteil vom 13.April 2005 - A 11 K 11220/03 -, juris). Jedenfalls unter Berücksichtigung des Vorbringens der Klägerin in der mündlichen Verhandlung ist eine Verletzung der Darlegungspflichten i. S. d. § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG nicht anzunehmen. Zunächst kann trotz intensiver Befragung durch das Gericht nicht festgestellt werden, dass sich die Klägerin in Widersprüche verwickelt hat oder ihr Vorbringen aus sonstigen Gründen offenkundig nicht den Tatsachen entsprechen kann. Zwar mangelt es den Schilderungen der Klägerin – wie oben dargelegt – insgesamt an Detailreichtum und Konkretheit; der Kern ihres Sachvorbringens – die Verfolgung durch die Mungiki – ist jedoch nicht in einer Weise unsubstantiiert, dass der Klägerin (über die Ablehnung des Asylbegehrens hinaus) die von § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG vorausgesetzte grobe Verletzung ihrer Mitwirkungspflichten vorgeworfen werden könnte. [...]