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Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 25.06.2012 - 10 B 6.12 - asyl.net: M19915
https://www.asyl.net/rsdb/M19915
Leitsatz:

Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie ist zu beachten, wenn der Antragsteller frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Verfolgung geltend macht, dass sich die Verfolgung im Falle der Rückkehr in das Heimatland wiederholen wird.

Wird davon ausgegangen, dass der Betroffene im Zeitpunkt der Ausreise unmittelbar von einer an seine Volkszugehörigkeit anknüpfenden Verfolgung bedroht war, so wird dabei nicht nur an die Volkszugehörigkeit des Betroffenen (hier tschetschenisch) angeknüpft, sondern auch an die dieser Volksgruppe von den verfolgenden Sicherheitskräften generell zugeschriebene Gegnerschaft und damit an ihre vermeintliche politische Überzeugung.

Schlagwörter: Vermutungswirkung, Gruppenverfolgung, Verfolgungsakteur, Wechsel des Verfolgungsakteurs, Tschetschenien, Russische Föderation, Russland, Tschetschenen, Volkszugehörigkeit, ethnische Zugehörigkeit,
Normen: RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4, RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 3, RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. 3, RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Im Übrigen ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) geklärt, dass die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG im Asylerstverfahren zu beachten ist, wenn der Antragsteller frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht geltend macht, dass sich die Verfolgung im Falle der Rückkehr in das Heimatland wiederholen werde. Die solchen früheren Handlungen oder Bedrohungen nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2004/83/EG ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 - Rs. C-175/08 u.a., Abdulla u.a. - Slg. 2010, I-1493 Rn. 93). In Anwendung dieser Grundsätze ist das Berufungsgericht - ungeachtet seiner missverständlichen Formulierung, dass es an einem „grundlegenden Wandel der für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus maßgeblichen tatsächlichen Umstände“ fehle (UA S. 13) - der Sache nach davon ausgegangen, dass sich die den Klägern zu 1 und 2 im Falle einer Rückkehr drohende Gefahr trotz zwischenzeitlichen Wechsels des Verfolgungsakteurs und Änderung der Intensität der Verfolgungsbedrohung als Fortsetzung der Gefahren darstellen würde, die sie zur Ausreise gezwungen hätten (UA S. 11), und keine stichhaltigen Gründe zu erkennen seien, dass sie bei einer Rückkehr nicht von Verfolgung bedroht wären (UA S. 13). Begründet hat es dies damit, dass die Kläger im Zeitpunkt ihrer Ausreise unmittelbar von einer an ihre Volkszugehörigkeit anknüpfenden Verfolgung bedroht gewesen seien, da seinerzeit die russischen Sicherheitskräfte Tschetschenen generell als feindselig betrachtet hätten, sofern sie nicht auf ihrer Seite tätig gewesen seien (UA S. 9 f.). Damit knüpfte die vom Berufungsgericht angenommene Vorverfolgung nicht nur an die tschetschenische Volkszugehörigkeit der Kläger, sondern auch an die dieser Volksgruppe von den verfolgenden russischen Sicherheitskräften generell zugeschriebene Gegnerschaft und damit an ihre vermeintliche politische Überzeugung an (vgl. Art. 9 Abs. 3 i.V.m. Art. 10 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 2 der Richtlinie 2004/83/EG). Gleiches gilt nach den Feststellungen des Berufungsgerichts für die den Klägern zu 1 und 2 im Falle einer Rückkehr nach Tschetschenien nunmehr von den tschetschenischen Sicherheitskräften drohende Gefahr. [...]