VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Beschluss vom 20.12.2011 - 8 L 127/11 - asyl.net: M19918
https://www.asyl.net/rsdb/M19918
Leitsatz:

Erfolgreicher Antrag eines türkischen Staatsangehörigen auf Erteilung einer Bescheinigung über seinen vorläufig als erlaubt geltenden Aufenthalt (Fiktionsbescheinigung) aufgrund der assoziationsrechtlichen Stillhalteklauseln (EU-Türkei).

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Besuchsvisum, Schengen-Visum, Fiktionswirkung, türkische Staatsangehörige, Stillhalteklausel, erstmalige Einreise, Aufenthaltserlaubnis, Antrag,
Normen: AuslG § 21 Abs. 3 S. 1, ARB 1/80 Art. 13, AufenthG § 81, ARB 2/76 Art. 7,
Auszüge:

[...]

Der Antragsteller hat mit einem für ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes hinreichenden Maß an Wahrscheinlichkeit einen (Anordnungs-)Anspruch auf die beantragte Bescheinigung. Er begehrt, bescheinigt zu bekommen, dass sein nach Ablauf seines für Besuchszwecke erteilten Schengen-Visums (gültig bis zum 16. März 2008) gestellter Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vom 25. Februar 2011 die Fiktion des vorläufig bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde erlaubten Aufenthalts ausgelöst hat. Er kann sich dabei zu Recht auf die sich aus § 21 Abs. 3 Satz 1 des Ausländergesetzes vom 28. April 1965 (BGBl. I S. 353) - im Folgenden: AuslG 1965 - ergebende Rechtslage berufen. Beantragte zur Zeit der Geltung dieses Gesetzes ein Ausländer nach der Einreise die Aufenthaltserlaubnis, so galt nach dieser Vorschrift sein Aufenthalt bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde vorläufig als erlaubt (Fiktion des erlaubten Aufenthalts). Zwar ist das AuslG 1965 nicht mehr in Kraft. Es ist allerdings für türkische Staatsangehörige nach Maßgabe des Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) für Arbeitnehmer und ihre Angehörigen - und für Arbeitnehmer bereits nach Art. 7 ARB 2/76 vom 20. Dezember 1976 - und nach Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Assoziationsabkommen EWG-Türkei vom 12. September 1963 dennoch anwendbar.

Nach Art. 13 ARB 1/80 dürfen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. In Art. 41 des Zusatzprotokolls ist festgeschrieben, dass die Vertragsparteien untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen. Diese Stillhalteklauseln stellen verfahrensrechtliche Vorschriften dar, die kraft ihrer unmittelbaren Wirkung in den Mitgliedsstaaten in zeitlicher Hinsicht festlegen, nach welchen Regelungen eines Mitgliedsstaats die Situation eines türkischen Staatsangehörigen zu beurteilen ist. Bei türkischen Staatsangehörigen, die sich auf die Stillhalteklauseln berufen können, führt dies dazu, dass etwaige, gegenüber einer zu einem anderen Zeitpunkt geltenden, für sie günstigeren Norm eingetretene Verschlechterungen ihrer rechtlichen Situation nicht anwendbar sind, sondern auf die entsprechende günstigere Vorschrift abzustellen ist (vgl. zu Artikel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls: Europäischer Gerichtshof (EuGH), Urteil vom 11. Mai 2000 - Rs. C-37/98 (Savas) -; zu Artikel 13 ARB 1/80: Urteil vom 20. September 1990 - Rs. C-192/89 (Sevince); siehe auch Urteil vom 21. Oktober 2003 - Rs. C-317/01 - (Abatay), zuletzt Urteil vom 15. November 2011 - Rs. C-256/11 (Dereci u. a.) -).

Der Antragsteller kann sich auf die Stillhalteklauseln berufen. Für Art. 13 ARB 1/80 ist es nicht erforderlich, dass er bereits Rechte in Bezug auf Beschäftigung und entsprechend auf Aufenthalt nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 genießt, sondern ausreichend, dass er sich darum bemüht, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen (EuGH, Urteil vom 29. April 2010 - C-92/07 (Kommission ./. Niederlande) -, InfAuslR 2010, 270; EuGH, Urteil vom 17. September 2009 - C-242/06 (Sahin) -, NVwZ 2009, 155; Urteil vom 21. Oktober 2003 - Rs. C-317/01 (Abatay) -).

Die frühere, am Wortlaut des Art. 13 ARB 1/80 ("...deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind") orientierte Auffassung, dass die Anspruchsteller sich rechtmäßig, d.h. gemäß den Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaats über die Einreise, den Aufenthalt und gegebenenfalls die Beschäftigung im Land aufhalten müssten, hat der EuGH nicht aufrecht erhalten. Er geht inzwischen vielmehr davon aus, dass die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 wegen der Gleichartigkeit und angesichts derselben Zielsetzung im Licht der Parallelvorschrift des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls auszulegen ist. Nach letztgenannter Vorschrift wird kein ordnungsgemäßer Aufenthalt vorausgesetzt (EuGH, Urteil vom 29. September 2011 - C-187/10 (Unal) -; Urteil vom 9. Dezember 2010 - C-300/09 und Rs. C-301/09 (Toprak und Oguz) -, NVwZ 2011, 349; Urteil vom 29. April 2010 - C-92/07 (Kommission ./. Niederlande) -, InfAuslR 2010, 270; EuGH, Urteil vom 17. September 2009 - C-242/06 (Sahin) -, NVwZ 2009, 155; siehe auch Urteil vom 20. September 2007 - C-16/05 (Tum und Dari) -, NVwZ 2008, 61).

Dementsprechend hat der EuGH insbesondere in den Rechtssachen Tum und Dari (Rs. C-16/05) sowie Sahin (Rs. C-242/06) den persönlichen Schutzbereich der Stillhalteklauseln als eröffnet angesehen, obwohl eine Aufenthaltserlaubnis nach dem Recht des Mitgliedsstaats nicht vorlag. In seinem o.g. Urteil in der Rechtssache Tum und Dari und in der o.g. Rechtssache der Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen das Königreich der Niederlande (Rs. C-92/07) geht der EuGH dabei ausdrücklich davon aus, dass die Stillhalteklauseln in Art. 13 ARB 1/80 und in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls auch auf die Regelung über die erstmalige Aufnahme türkischer Staatsangehöriger in einem Mitgliedstaat anwendbar ist, in dessen Hoheitsgebiet diese von der Niederlassungsfreiheit nach Maßgabe des Assoziierungsabkommens Gebrauch machen wollen. Spätestens mit seinem o. g. Urteil vom 15. November 2011 in der Rechtssache C-256/11 (Dereci u. a.) hat der Europäische Gerichtshof auf ein Vorabentscheidungsersuchen des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs klargestellt, dass die Stillhalteklausel (hier des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls) auch dann eingreift, wenn der betreffende türkische Staatsangehörige seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis während eines nicht rechtmäßigen Aufenthalts (aus einer nicht "ordnungsgemäßen Situation" heraus) stellt. Der in dieser Rechtssache hinsichtlich des Beschwerdeführers Dereci gegebene Sachverhalt ist dem des vorliegenden Falls ähnlich. Die Unterschiede bestehen (lediglich) in Folgendem: Der Beschwerdeführer Dereci reiste unrechtmäßig in die Bundesrepublik Österreich ein, heiratete eine österreichische Staatsbürgerin und beantragte nach der Eheschließung eine Aufenthaltserlaubnis. Der Antragsteller reiste mit einem befristeten Schengen-Visum in die Bundesrepublik Deutschland ein, "tauchte" nach Ablauf der Geltungszeit seines Schengen-Visums im März 2008 zunächst "unter" und stellte sodann nach der Geburt seiner Tochter, die deutsche Staatsangehörige ist, am 25. Februar 2011 einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Für die rechtliche Beurteilung sind diese Unterschiede nicht relevant. In rechtlicher Hinsicht ist die vom Gerichtshof beurteilte österreichische Rechtssituation im Ergebnis vergleichbar oder sogar identisch mit der hier vorliegenden, was die Fiktionswirkung der Antragstellung angeht. Im vom EuGH entschiedenen Fall wurde dem Beschwerdeführer eine Regelung des österreichischen Aufenthaltsrechts (nämlich der 2006 in Kraft getretene § 21 des Gesetzes über die Niederlassung und den Aufenthalt in Österreich - NAG -) entgegen gehalten, wonach der Antrag im Allgemeinen vom Ausland aus zu stellen ist, während zuvor, von 1997 bis 2006, gemäß § 49 des Gesetzes über die Einreise, den Aufenthalt und die Niederlassung von Fremden Anträge auf "Erstniederlassungsbewilligung" auch von Österreich aus gestellt werden konnten.

Im vorliegenden Fall gilt heute mit § 81 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) eine für den Antragsteller ungünstigere Rechtslage als am 1. Dezember 1976, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Art. 7 ARB 2/76 (der insoweit - trotz seiner Ablösung im Übrigen durch Art. 13 ARB 1/80 - hinsichtlich der zeitlichen Maßgabe für Arbeitnehmer noch fortgilt), und ebenso am 1. Dezember 1980, dem Inkrafttreten des Art. 13 ARB 1/80, sowie zur Zeit des Inkrafttretens des 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen über die Gründung der Assoziation am 1. Januar 1973. Der Frage, welche der Stillhalteklauseln für den Antragsteller hier einschlägig ist, ist nicht nachzugehen, weil sich aus jeder der Stillhalteklauseln dieselbe Rechtsfolge ergibt. Ohnehin ist diese Frage in Hintergrund getreten, wenn nicht bedeutungslos geworden, nachdem der EuGH, wie oben dargelegt, in den Rechtssachen Tum und Dari (Rs. C-16/05) und Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen das Königreich der Niederlande (Rs. C-92/07) entschieden hat, dass die Stillhalteklauseln ihre Wirkungen auch bzw. bereits im Hinblick auf die erstmalige Einreise in einen Mitgliedstaat entfalten, also bezüglich eines Zeitpunkts, in dem nicht unbedingt absehbar ist, auf welche Weise der betreffende Antragsteller seinen Lebensunterhalt im Mitgliedstaat zu bestreiten gedenkt.

Nach § 81 Abs. 3 AufenthG tritt eine Fiktion des rechtmäßigen Aufenthalts nur ein, wenn der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels von einem Ausländer gestellt wird, der sich bereits rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, also ggf. mit einem für den erstrebten Daueraufenthalt erforderlichen, in seinem Heimatland beantragten Visum eingereist ist. Demgegenüber galt - wie bereits eingangs dargelegt - nach § 21 Abs. 3 Satz 1 AuslG 1965 in den o. g. Inkrafttretenszeitpunkten der Stillhalteklauseln, dass der Ausländer nach der Einreise die Aufenthaltserlaubnis beantragen konnte und dadurch in den Genuss der Fiktion des erlaubten Aufenthalts kam. Es war gerade nicht vorausgesetzt, dass die Verlängerung während der Gültigkeit der bisherigen Aufenthaltserlaubnis beantragt werden musste. Das Bundesverwaltungsgerichts führte hierzu entsprechend dem Gesetzeswortlaut aus, dass § 21 Abs. 3 Satz 1 AuslG 1965 zur Folge habe, dass der Antragsteller schon allein auf Grund seines nach der Einreise gestellten Antrags auf Erteilung der Erlaubnis vorläufig so angesehen werden müsse, als ob sie ihm schon erteilt worden wäre. Der Ausländer sei somit vor der Entscheidung über seinen Antrag zum Aufenthalt im Geltungsbereich des Ausländergesetzes genauso berechtigt, wie er es

nach Erteilung der von ihm beantragten Erlaubnis wäre (Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 18. Dezember 1969 - I C 5.69 -, BVerwGE 34, 325, NJW 1970, 396). [...]