OVG Mecklenburg-Vorpommern

Merkliste
Zitieren als:
OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 29.11.2011 - 3 L 200/06 - asyl.net: M19926
https://www.asyl.net/rsdb/M19926
Leitsatz:

Die von den russischen Sicherheitsbehörden im Jahr 2002 in Tschetschenien gegen die Zivilbevölkerung praktizierte Vorgehensweise erfüllt die Kriterien einer Gruppenverfolgung.

Nach den vorliegenden Erkenntnismaterialien ist die aktuelle Situation in Tschetschenien dadurch gekennzeichnet, dass für Angehörige der Zivilbevölkerung weiterhin eine tatsächliche Gefahr besteht, durch die nunmehr tschetschenischen Sicherheitskräfte, die eng mit den föderalen Sicherheitsbehörden zusammenarbeiten, festgenommen und erniedrigender Behandlung ausgesetzt zu werden. Diese Maßnahmen dienen der Bekämpfung abweichender politischer Überzeugungen der unmittelbar Betroffenen, aber auch der Bevölkerung insgesamt. Besonders Personen, die nach längerem Aufenthalt in Westeuropa zurückkehren, erregen das erhöhte Interesse der tschetschenischen Sicherheitsbehörden, weil sie auch dem Verdacht unterliegen, den tschetschenischen Widerstand zu unterstützen.

Schlagwörter: Verfolgungshandlung, Gruppenverfolgung, Tschetschenien, Tschetschenen, Zivilbevölkerung, Kadyrov, Kadyrow, interner Schutz, interne Fluchtalternative, willkürliches Vorgehen, Kontrolle,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 3 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4, RL 2004/83/EG Art. 7-10, RL 2004/83/EG Art. 9, RL 2004/83/EG Art. 10, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 1, RL 2004/83/EG Art. 8,
Auszüge:

[...]

2) Die Kläger waren aber im Zeitpunkt ihrer Ausreise von einer Gruppenverfolgung unmittelbar bedroht.

Zu den Voraussetzungen der Gruppenverfolgung im Allgemeinen hat das BVerwG zusammenfassend ausgeführt:

"Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Verfolgung grundsätzlich geklärt (vgl. vor allem Urteil vom 5. Juli 1994 - BVerwG 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 m.w.N.). Die Gefahr eigener Verfolgung des Asylbewerbers, die Voraussetzung sowohl einer Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a GG als auch als (Konventions-)Flüchtling nach § 60 Abs. 1 AufenthG ist, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung; vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 - 2 BvR 902/85 u.a. - BVerfGE 83, 216 und BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 a.a.O. S. 202). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen (vgl. Beschluss vom 5. Mai 2003 - BVerwG 1 B 234.02 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 271 und Urteil vom 30. April 1996 - BVerwG 9 C 171.95 - BVerwGE 101, 134 <140 f.>). Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt ferner eine bestimmte "Verfolgungsdichte" voraus, welche die "Regelvermutung" eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. Urteil vom 5. Juli 1994 a.a.O. S. 203). Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Der Feststellung dicht und eng gestreuter Verfolgungsschläge bedarf es jedoch nicht, wenn hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein (staatliches) Verfolgungsprogramm bestehen, dessen Umsetzung bereits eingeleitet ist oder alsbald bevorsteht (Urteil vom 5. Juli 1994 a.a.O.; zu der ferner zu beachtenden Möglichkeit einer "Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit" vgl. zuletzt etwa Beschluss vom 5. Mai 2003 - BVerwG 1 B 234.02 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 271 sowie BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 a.a.O. S. 234, jeweils m.w.N.). Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie mit Rücksicht auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität des Asyl- und Flüchtlingsrechts den Betroffenen einen Schutzanspruch im Ausland nur vermittelt, wenn sie im Herkunftsland landesweit droht, d.h. wenn auch keine innerstaatliche/inländische Fluchtalternative besteht, die im Falle einer drohenden Rückkehrverfolgung vom Zufluchtsland aus erreichbar sein muss" (BVerwG U. v. 18.07. 2006 - 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243)."

An diesen für die Gruppenverfolgung entwickelten Maßstäben ist auch unter Geltung der Qualifikationsrichtlinie festzuhalten (BVerwG U. v. 21.04.2009 - 10 C 11/08 -, NVwZ 2009, 1237) mit der Einschränkung, dass unter der Geltung des Art. 4 Abs. 4 QRL eine zum Zeitpunkt der Ausreise bestehende inländische Fluchtalternative rechtlich ohne Bedeutung ist (BVerwG U. v. 19.01.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 135, 55). Aus diesem Grund ist es rechtlich unerheblich, wenn sich eine Gruppenverfolgung zum Zeitpunkt der Ausreise als eine im Sinne der früheren Rechtsprechung regionale Gruppenverfolgung darstellt, die nicht landesweit vorliegt, so dass den von dieser Art der Gruppenverfolgung Bedrohten das Ausweichen innerhalb des eigenen mehrgesichtigen Staates zumutbar war.

Die von den russischen Sicherheitsbehörden im Jahr 2002 praktizierte Vorgehensweise in Tschetschenien gegen die Zivilbevölkerung erfüllt diese Anforderungen an eine Gruppenverfolgung. Aus den in das Verfahren eingeführten Ad hoc-Berichten des Auswärtigen Amtes vom 07.05.2002 und 27.11.2002 ergibt sich, dass "der umfassende russische Militäreinsatz zur Niederringung des bewaffneten Widerstandes in Tschetschenien, den die russische Regierung als Terrorismusbekämpfung bezeichnet, Übergriffe russischer Truppen auf Zivilisten sowie sog. "Säuberungsaktionen" der russischen Streitkräfte zu großen Leiden in der Zivilbevölkerung" führen. "Russische und internationale Menschenrechtsorganisationen und -gruppen berichten über massive Menschenrechtsverletzungen durch die russischen Streitkräfte ( ) . Sowohl die Kampfhandlungen als auch die Übergriffe russischer Truppenteile auf Zivilisten haben zu zahlreichen Opfern unter der Zivilbevölkerung geführt. Auch Flüchtlinge sollen immer wieder durch russische Truppen beschossen worden sein. (...) In den von russischen Truppen kontrollierten Gebieten Tschetscheniens (umfassen mit Ausnahme schwer zugänglicher Gebirgsregionen das ganze Territorium der Teilrepublik) ist die Sicherheit der Zivilbevölkerung wegen ständiger Razzien, Guerilla-Aktivitäten, Geiselnahmen, Säuberungsaktionen, Plünderungen und Übergriffen (vor allem durch russische Soldaten) nicht gewährleistet". Diese Lageeinschätzung entspricht auch der UNHCR-Stellungnahme über Asylsuchende aus der russischen Föderation im Zusammenhang mit der Lage in Tschetschenien vom Januar 2002: "Die Aussagen von Zeugen lassen ein gegen nicht am Kampfgeschehen Beteiligte gerichtetes Muster der Gewalt erkennen, das Folter, Massenexekutionen, willkürliche Inhaftnahmen, Verschwindenlassen, Vergewaltigungen, Misshandlungen, weitreichende Zerstörungen und Plünderungen von Eigentum mit einschließt. Über 350.000 Personen wurden gezwungen, aus ihren Häusern zu fliehen". Sie entspricht auch Erkenntnissen von amnesty international, wie sie in der Auskunft an das Verwaltungsgericht Braunschweig vom 20.02.2002 wiedergegeben werden.

Bei seiner Würdigung der vorstehend auszugsweise zitierten Erkenntnisquellen hat der Senat die einschlägige Rechtsprechung des BVerwG zum Umfang der gerichtlichen Überprüfung berücksichtigt. Danach ist "von den Tatsachengerichten aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden. Alle danach gleichgearteten, auf eine nach denselben Merkmalen zusammengesetzte Gruppe bezogenen Verfolgungsmaßnahmen müssen schließlich zur Größe dieser Gruppe in Beziehung gesetzt werden, weil eine bestimmte Anzahl von Eingriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweist, gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen kann (U. v. 18.07.2006 - 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243)".

In den angeführten Erkenntnisquellen finden sich hinreichend konkrete und detaillierte Angaben zu einzelnen Geschehnissen, die von diesen Quellen als beispielhaft für die Vorgehensweise der russischen Sicherheitskräfte genannt werden. Eine ins Einzelne gehende Ermittlung aller Vorgänge war zum damaligen Zeitpunkt wegen der Kampfhandlungen und der hohen Gefahr für Leib und Leben für unabhängige Beobachter, auf die das Auswärtige Amt hinweist, nicht möglich. Dass auch gegenwärtig Personen, die Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien aufklären wollen, sich in Lebensgefahr begeben, ist allgemein bekannt, so dass eine weitere Aufklärung des Vorgehens der russischen Sicherheitskräfte im Jahr 2002 nicht möglich ist. Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass diese gegen die Zivilbevölkerung gerichteten Maßnahmen objektiv an ihre Volkszugehörigkeit, also im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ihre Rasse, anknüpften, denn Tschetschenen wurden generell als feindselig betrachtet, sofern sie nicht auf der Seite der russischen Sicherheitskräfte tätig waren. Der Senat sieht auch, dass die Gefahren für die Zivilbevölkerung ebenso von den bewaffneten tschetschenischen Kämpfern ausgegangen sind, die die russischen Sicherheitskräfte und die sie unterstützenden Tschetschenen bekämpften. Der Senat sieht aber die Gefahren, denen zum damaligen Zeitpunkt die tschetschenische Zivilbevölkerung ausgesetzt war, im Wesentlichen durch die russischen Sicherheitskräfte verursacht, die durch die massive Gewaltanwendung gegen die Zivilbevölkerung den bewaffneten tschetschenischen Widerstand brechen wollten. Dabei geht der Senat von einer damaligen Bevölkerungszahl deutlich unter 1 Millionen Menschen für Tschetschenien aus (vgl. Luchterhandt Gutachten für VGH Kassel vom 08.08.2007; Auswärtiges Amt an VGH Kassel vom 06.08.2007; OVG Bremen U.v. 29.04.2010 - 2 A 315/08 A).

Insgesamt stellt sich für den Senat die Situation im Tschetschenien des Jahres 2002 so dar, dass angesichts des Ausmaßes der von den russischen Sicherheitskräften ausgehenden Gewalt gegen die Zivilbevölkerung jedermann überall in Tschetschenien jederzeit Opfer von Gewaltmaßnahmen der russischen Sicherheitsbehörden werden konnte, weil diese gegenüber allen Tschetschenen, die nicht erkennbar mit ihnen zusammenarbeiteten, den Verdacht hegten, den Widerstand wenigstens zu unterstützen und die Möglichkeit hatten, unkontrolliert mit der Zivilbevölkerung zu tun und zu lassen, was sie wollten. Zu dieser Gruppe der tschetschenischen Zivilbevölkerung gehörten auch die Kläger zu 1 und 2.

3) Weil die Kläger nach der Überzeugung des Senats ihren Heimatstaat aus Furcht vor drohender politischer Verfolgung verlassen haben, kommt ihnen die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL zugute, wenn die ihnen bei einer Rückkehr drohende politische Verfolgung an die ihnen bei ihrer Ausreise drohende Verfolgung anknüpft. Die Vermutung nach Art. 4 Abs. 4 QRL setzt einen inneren Zusammenhang zwischen der Vorschädigung und dem befürchteten künftigen Schaden voraus (BVerwG U.v. 07.09.2010 - 10 C 11.09, juris). Dieser innere Zusammenhang liegt bei den Klägern zu 1 und 2, nicht aber beim Kläger zu 3, vor. Nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes, der Organisation Memorial bzw. Frau Gannuschkina und der Schweizerischen Flüchtlingshilfe sind Fälle bekannt geworden, in denen aus Westeuropa bzw. Ägypten nach Tschetschenien zurückgekehrte Personen verhaftet oder von Sicherheitsbehörden verschleppt wurden, weil sie unter dem Verdacht standen, den bewaffneten Widerstand unterstützt zu haben. Weiterhin herrscht in Tschetschenien ein Klima der Gewalt, Angst und Einschüchterung; Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung. Diese Situation resultiert aus der Alleinherrschaft des Ramsan Kadyrow, der auf Seiten der russischen Sicherheitskräfte im zweiten Tschetschenienkrieg kämpfte und von diesen als Republikpräsident gezielt aufgebaut und installiert wurde. Durch ihn wurde ein repressives, stark auf seine Person zugeschnittenes Regime errichtet, das durch die verbliebenen tschetschenischen Kämpfer immer wieder angegriffen wird und das seine massiven Menschenrechtsverletzungen mit der Bekämpfung dieser Kämpfer rechtfertigt. Die den Klägern zu 1 und 2 drohende Gefahr politischer Verfolgung stellt sich als die Fortsetzung der Gefahren dar, die ihn zur Ausreise gezwungen haben.

Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL bedeutet, dass bei einer Vorverfolgung davon auszugehen ist, dass die dem vorverfolgt Ausgereisten bei seiner Ausreise drohende Gefahr ihm bei seiner Rückkehr weiterhin droht, wenn nicht stichhaltige Gründe dagegen sprechen. Zu beurteilen, wann stichhaltige Gründe im Sinne des Art. 4 Abs. 4 QRL vorliegen, ist Aufgabe der tatrichterlichen Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung, wobei diese stichhaltigen Gründe im Einzelfall auch dann vorliegen können, wenn nach herkömmlicher Betrachtung keine hinreichende Sicherheit im Sinne des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde (BVerwG U.V. 27.04.2010 - 10 C 5.09 -, BVerwGE 136, 377; zitiert nach juris Rn. 24).

Die gegenwärtige Menschenrechtslage in Tschetschenien stellt sich bei Sichtung der verfügbaren und in das Verfahren eingeführten Erkenntnisse wie folgt dar:

"In Tschetschenien hat Oberhaupt Ramsan Kadyrow ein repressives, stark auf seine Person zugeschnittenes Regime etabliert. Betätigungsmöglichkeiten für die Zivilgesellschaft sind auf ein Minimum reduziert. Trotz deutlicher Wiederaufbauerfolge ist die ökonomische Lage in Tschetschenien desolat, es gibt wenige Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb des staatlichen Sektors. Nach zwei Jahren mit deutlichen Fortschritten sowohl bei der Sicherheits- als auch bei der Menschenrechtslage hat sich die Situation in den beiden Bereichen in den Jahren 2008 bis 2010 insgesamt wieder verschlechtert. (...) Nach glaubhaften Angaben von Menschenrechts-NROs haben die Behörden in einigen Fällen mit dem Abbrennen der Wohnhäuser der Familien von Personen, die sich den Rebellen angeschlossen haben, reagiert. Wieder angestiegen sind auch die Entführungszahlen: Memorial hat für 2009 in Tschetschenien 93 Entführungsfälle gegenüber 42 im Vorjahr registriert. Die Entführungen werden größtenteils den (v.a. republikinternen) Sicherheitskräften zugeschrieben. Weiterhin werden zahlreiche Fälle von Folter gemeldet. Unter Anwendung von Folter erlangte Geständnisse werden nach belastbaren Erkenntnissen von Memorial - auch außerhalb Tschetscheniens - regelmäßig in Gerichtsverfahren als Grundlage von Verurteilungen genutzt.

Vertreter russsicher und internationaler NROs zeichnen ein insgesamt düsteres Lagebild für Tschetschenien. Gewalt und Menschenrechtsverletzungen bleiben dort an der Tagesordnung, es herrscht ein Klima der Angst und Einschüchterung (Hervorhebung durch den Senat). Hierein fügen sich auch die Angriffe u.a. mit Farbpistolen auf tschetschenische Mädchen und Frauen im Herbst 2010, welche nach Meinung der Machthaber in der Öffentlichkeit nicht züchtig gekleidet erschienen. Kadyrow selbst hatte die Übergriffe öffentlich begrüßt." (Lagebericht Auswärtiges Amt Russische Föderation Stand Januar 2011).

Diese aktuelle Lageeinschätzung entspricht etwas älteren Erkenntnissen wie denen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom November 2009:

"Anstatt einer erhofften Entspannung mit einem Rückgang der Straßensperren, Reisebeschränkungen und "Säuberungsaktionen" [nach dem Ende der Anti-Terror-Operation durch föderale Sicherheitskräfte im April 2009] folgte jedoch eine massive Welle der Gewalt und Gegengewalt. Ramsan Kadyrow - bestrebt zu beweisen, dass er die Lage auch selbstständig unter Kontrolle hat - nahm mit seiner blutigen Kampagne gemäß Memorial vor allem das vermutete soziale Unterstützerumfeld ins Visier.

Alle drei Republiken [Dagestan/Inguschetien/Tschetschenien] kennzeichnet ein undurchsichtiges Geflecht von Sicherheitskräften Dies trägt wesentlich zur Straffreiheit verübter Menschenrechtsverletzungen bei.

Oft scheinen kurzzeitige Festnahmen mit Misshandlungen von Sicherheitskräften als 'Präventionsmaßnahme' eingesetzt zu werden. Insbesondere Junge sollen damit wohl nachhaltig eingeschüchtert und von einem Anschluss an die bewaffnete Opposition abgehalten werden, was allerdings teilweise die exakt gegenteilige Wirkung hat. (...) Memorial schätzt die Dunkelziffer als sehr hoch ein. Die große Mehrheit willkürlicher Festnahmen wird den Behörden nicht gemeldet. Nur die schlimmsten Fälle, in denen Personen für längere Zeit verschwunden bleiben, würden den Behörden gemeldet, welche alles unternehmen, um allfällige Untersuchungen baldmöglichst einzustellen.

Insbesondere die PPSM-2 [eine Polizeieinheit] scheint in den seit Jahren instabilen Bezirken Vedeno und Nozhai-Yurt Personen in ihren Anlagen geheim festgehalten zu haben.

Es ist jedoch ausdrücklich festzuhalten, dass im Nordkaukasus auch Durchschnittsbürger jederzeit zur falschen Zeit am falschen Ort sein können und damit gravierenden Risiken ausgesetzt sind.

Flüchtlinge, die aus dem Ausland nach Tschetschenien zurückkehren, sind nach Einschätzung von S. Gannuschkina, Memorials Flüchtlingsexpertin, speziellen Gefahren ausgesetzt. Auf sie fällt der Verdacht, wegen Zugehörigkeit zur bewaffneten Opposition geflohen zu sein und mit gewissem Wohlstand zurückzukehren".

Aus diesen Erkenntnissen entnimmt der Senat, dass die aktuelle Situation in Tschetschenien dadurch gekennzeichnet wird, dass weiterhin für die dort lebenden Personen eine tatsächliche Gefahr besteht, durch die nunmehr tschetschenischen Sicherheitskräfte, die eng mit den föderalen Sicherheitsbehörden zusammenarbeiten, festgenommen und erniedrigender Behandlung ausgesetzt zu werden. Diese Maßnahmen dienen der Bekämpfung abweichender politischer Überzeugungen der unmittelbar Betroffenen, aber auch der Bevölkerung insgesamt. Dadurch soll die Bereitschaft der Bevölkerung zur Unterstützung oppositioneller Aktivitäten gleich welcher Art verringert und verhindert werden. Dass diese Maßnahmen durchaus auch aus im weitesten Sinn kriminellem Antrieb heraus vorgenommen werden können, nimmt ihnen nicht die Bedeutung einer politischen Verfolgung, denn sie dienen objektiv der Sicherung der Herrschaft von Ramsan Kadyrow und damit der der russischen Zentralregierung (a.A. OVG Bremen U. v. 29.04.2010 - 2 A 315/08). Aus den Erkenntnissen geht hervor, dass diese Maßnahmen der tschetschenischen Sicherheitskräfte jedermann treffen können, unabhängig von seinen politischen Überzeugungen, weil bei allen Personen außerhalb des Apparates des tschetschenischen Machthabers von den tschetschenischen Sicherheitskräften vermutet wird, dass sie oppositionell eingestellt sein könnten. Die tschetschenischen Sicherheitsbehörden sind unberechenbar und unterliegen keiner unabhängigen Kontrolle, sondern allein dem Willen des Machthabers Kadyrow. Besonders Personen, die nach längerem Aufenthalt in Westeuropa zurückkehren, erregen das erhöhte Interesse der tschetschenischen Sicherheitsbehörden, weil sie auch dem Verdacht unterliegen, etwas mit dem tschetschenischen Widerstand zu tun zu haben. Über die Zahl solcher Rückkehrer liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor; auch die Beklagte konnte dazu keine näheren Auskünfte geben. Sie dürfte allerdings niedrig sein.

Unter diesem Umständen vermag der Senat keine stichhaltigen Gründe zu erkennen, dass die Kläger zu 1 und 2 bei einer Rückkehr nach Tschetschenien nicht von einer politischen Verfolgung im Sinne des Art. 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bedroht sind. Die früher nach nationalem Recht anzuwendenden gestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe sind unter der Geltung des Art. 4 Abs. 4 QRL nicht mehr anzuwenden (BVerwG U. v. 27.04.2010 - 10 C 5.09, BVerwGE 136, 377). Die den Klägern zu 1 und 2 drohende politische Verfolgung knüpft weiterhin daran an, dass die in Tschetschenien unkontrolliert agierenden Sicherheitskräfte, die die Aufgaben der russischen föderalen Sicherheitskräfte nach dem offiziellen Ende der von der Zentralregierung angeordneten und durchgeführten Anti-Terror-Aktion übernommen haben und deren Loyalität zur russischen Zentralregierung nicht in Zweifel zu ziehen ist, bei Tschetschenen, die nicht zum Machtapparat des Ramsan Kadyrow zählen, den Verdacht haben, dass es sich um Personen handelt, die in Opposition zum Regime zählen. Insoweit haben sich zwar die handelnden Personen und im Vergleich zur Situation im Zeitpunkt der Ausreise des Klägers auch die Intensität der Verfolgungsbedrohung verändert, doch fehlt es an einem grundlegenden Wandel der für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus maßgeblichen tatsächlichen Umstände. [...]

Die Kläger zu 1 und 2 können auch nicht auf den internen Schutz nach Art 8 QRL, eine so genannte inländische Fluchtalternative, verwiesen werden.

Das BVerwG hat in seinem Urteil vom 01.02.2007 (1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590) zu den Anforderungen an die inländische Fluchtalternative ausgeführt:

"Nach den vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Grundsätzen bietet ein verfolgungssicherer Ort erwerbsfähigen Personen das wirtschaftliche Existenzminimum aber in aller Regel dann, wenn sie dort, sei es durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können (Beschluss vom 21. Mai 2003 - BVerwG 1 B 298.02 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 270, gleichlautend mit Beschluss vom gleichen Tag - BVerwG 1 B 263.02 - juris). Zu den danach zumutbaren Arbeiten gehören auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise in der Landwirtschaft oder auf dem Bausektor, ausgeübt werden können. Nicht zumutbar sind hingegen die entgeltliche Erwerbstätigkeit für eine kriminelle Organisation, die in der fortgesetzten Begehung von oder Teilnahme an Verbrechen besteht. Ein verfolgungssicherer Ort, an dem das wirtschaftliche Existenzminimum nur durch derartiges kriminelles Handeln erlangt werden kann, ist keine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschlüsse vom 17. Mai 2006 - BVerwG 1 B 100.05 - juris, Rn. 11 und vom 9. Januar 1998 - BVerwG 9 B 1130.97 - juris, insoweit gleichlautend mit dem nicht veröffentlichten Beschluss vom 12. März 1998 - BVerwG 9 B 765.97)."

Dieser Maßstab hat sich auch unter Geltung des Art. 8 QRL nicht verändert. Unter der Geltung der QRL ist zu berücksichtigen, dass auch für die Annahme der Voraussetzungen der inländischen Fluchtalternative die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL gilt (BVerwG U. v. 05.05.2009 - 10 C 21/08 -, NVwZ 2009, 1308). Das bedeutet, dass bei einer gegebenen politischen Verfolgung in Tschetschenien nur bei Vorliegen stichhaltiger Gründe anzunehmen ist, dass sich diese nicht auf dem sonstigen Territorium der russischen Föderation fortsetzt.

Zur Situation von in der russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens lebenden Tschetschenen führt das Auswärtige Amt in seinem aktuellen Lagebericht Stand Januar 2011 aus:

"Personen kaukasischer Herkunft werden von den Behörden in der Russischen Föderation häufig benachteiligt. Menschenrechtsorganisationen berichten glaubhaft über Personenkontrollen und Wohnungsdurchsuchungen - teils ohne rechtliche Begründung - sowie über Festnahmen, Strafverfahren aufgrund fingierter Beweise und Kündigungsdruck auf Arbeitgeber und Vermieter. Kaukasier haben auch weiterhin Schwierigkeiten, eine Wohnortregistrierung außerhalb ihrer Heimatregion im Nordkaukasus auf legalem Weg zu erlangen. Als Reaktion auf die fremdenfeindlichen Demonstrationen Mitte Dezember in Moskau und weiteren Städten kündigte PM Putin an, die Registrierungsvorschriften für Großstädte verschärfen zu wollen und regte an, die Bewegungsfreiheit für Nordkaukasier einzuschränken. Offensichtliche Diskriminierungen, wie das Fälschen von Beweismitteln oder die Verfolgung durch die Miliz werden jedoch seltener.

Fremdenfeindliche und rassistische Ressentiments sind in der Bevölkerung und in den Behörden weit verbreitet. Sie richten sich insbesondere gegen Kaukasier und Zentralasiaten, so genannten 'Tschornyje' ('Schwarze'). Regelmäßige Medien berichte über Schlägereien zwischen ethnischen Gruppen zeigen, dass die Ressentiments schnell in Gewalt umschlagen können. Jüngster trauriger Höhepunkt waren fremdenfeindliche Gewaltausbrüche am 11.12.2010 und den Folgetagen in Moskau und weiteren russischen Städten, bei denen Tausende meist jugendlicher Hooligans gezielt Menschen mit ausländischen Aussehen angriffen. Dabei wurde ein Kirgise niedergestochen und mehrere weitere Personen zum Teil schwer verletzt. Erst ein massiver Einsatz von Sicherheitskräften und (vorbeugende) Festnahmen Hunderter potenzieller Gewalttäter konnten die Situation zunächst beruhigen.

Menschen 'nichtslawischen Aussehens' (vor allem Zuwanderer aus Zentralasien und Transkaukasien) sind häufig Ziel fremdenfeindlicher Angriffe durch 'Skinheads', obwohl jüngst ein Rückgang der Opferzahlen zu verzeichnen ist. Für 2008 verzeichnete die Menschenrechts-NRO 'Sowa', die die verlässlichste einschlägige Statistik führt, 71 Todesopfer und 333 Verletzte bei derartigen Übergriffen (Vergleichszahlen für 2008: 109 Todesopfer und 486 Verletzte). In den ersten neun Monaten 2010 wurden 23 Todesopfer und 241 Verletzte bei derartigen Übergriffen registriert (Vergleichszahlen für den entsprechenden Zeitraum 2009: 48 Todesopfer und 253 Verletzte).

Nichtregierungsorganisationen bemängeln, dass es bisher keine hinreichend energische Abwehr- und Aufklärungspolitik des Staates gegen solche Übergriffe gebe. Nach den gewaltsamen Vorfällen in Moskau scheinen der Staatsführung die Folgen der verschleppten Präventions- und Aufklärungsmaßnahmen deutlich geworden zu sein, und sie erklärte, Schritte im Kampf gegen fremdenfeindliche Tendenzen in der Gesellschaft unternehmen zu wollen. 'Sowa' listet für 2009 45 Gerichtsurteile auf, bei denen Gewalttäter ausdrücklich als rassistisch motiviert verurteilt wurden (Vergleichszahl 2008: 35); für die ersten neun Monate 2010 sind bereits 63 entsprechende Gerichtsurteile verzeichnet (Vergleichszahl für den entsprechenden Zeitraum 2009: 34 Verurteilungen). Dies dokumentiert eine gesteigerte Tätigkeit der Strafverfolgungsorgane gegenüber Rechtsextremen, erscheint angesichts der Zahl der Überfälle jedoch immer noch unzureichend.

Menschenrechtsorganisationen berichten glaubwürdig über zahlreiche Strafprozesse auf der Grundlage fingierten Materials gegen angebliche Terroristen aus dem Nordkaukasus, insbesondere Tschetschenen, die aufgrund von unter Folter erlangten Geständnissen oder gefälschten Beweisen zu hohen Haftstrafen verurteilt worden sind.

(...) gibt es praktisch in allen russischen Großstädten eine große, durch Flüchtlinge noch wachsende tschetschenische Diaspora: 200.000 in Moskau (nach Angaben der Tschetschenischen Vertretung in Moskau), 70.000 im Gebiet Rostow, 40.000 in der Region Stawropol und 30.000 in der Wolgaregion (Angaben des tschetschenischen Parlamentspräsidenten Abdurachmanow vom 05.06.2006). (...) In großen Städten (z.B. Moskau und St. Petersburg) wird der Zuzug von Personen reguliert. Dies beschränkt im Zusammenhang mit der antikaukasischen Stimmung besonders stark die Möglichkeit rückgeführter Tschetschenen, sich legal dort niederzulassen. Der Botschaft in Moskau sind Fälle von Tschetschenen bekannt, die gegenüber ihren Vermietern ihre Volkszugehörigkeit verheimlichen und sich stattdessen als Tartaren ausgaben, weil sie sich dadurch weniger Schwierigkeiten bei ihrer Registrierung erhofften. Der Menschenrechtsbeauftragte der russischen Föderation hat bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass Tschetschenen landesweit, insbesondere in den Großstädten, die Registrierung verweigert wird. (...) Als Reaktion auf die gewalttätigen Zusammenstöße Mitte Dezember 2010 zwischen (ethnischen) Russen auf der einen und Gastarbeitern aus dem Kaukasus und Zentralasien auf der anderen Seite kündigte PM Putin an, die Registrierungsvorschriften für die RUS Metropolen verschärfen zu wollen und regte an, die Migrationsströme von Angehörigen der kaukasischen Ethnien in Russland stärker zu kontrollieren.

Es ist darauf hinzuweisen, dass aus den Nordkaukasusrepubliken stammende Personen auch bei Übersiedlung in andere Teile Russlands grundsätzlich weiterhin dem Zugriff der Behörden ihrer Herkunftsregion unterworfen sind. Die regionalen Strafverfolgungsbehörden haben die Möglichkeit, auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Föderationssubjekten Personen in Gewahrsam zu nehmen und in ihre Heimatregion zu verbringen. Nach glaubhaften Berichten von Menschenrechts-NROs wie Memorial wird diese Möglichkeit regelmäßig genutzt.

Ebenso liegen dem Auswärtigen Amt keine gesicherten Erkenntnisse darüber vor, ob Russen mit tschetschenischer Volkszugehörigkeit nach ihrer Rückführung besonderen Repressionen ausgesetzt sind. Solange der Tschetschenien-Konflikt nicht endgültig gelöst ist, ist davon auszugehen, dass abgeschobene Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden erfahren. Das gilt insbesondere für solche Personen, die sich gegen die gegenwärtigen Machthaber engagiert haben bzw. denen die russischen Behörden ein solches Engagement unterstellen oder die im Verdacht stehen, einen fundamentalistischen Islam zu propagieren.

Der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen hat etwas abgenommen, wenngleich russische Menschenrechtsorganisationen nach wie vor von einem willkürlichen Vorgehen der Miliz gegen Kaukasier allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit berichten. Kaukasisch aussehende Personen stünden unter einer Art Generalverdacht. Personenkontrollen (Ausweis, Fingerabdrücke) auf der Strasse, in der U-Bahn und Hausdurchsuchungen (häufig ohne Durchsuchungsbefehle) finden statt, haben aber an Intensität abgenommen. Dem Auswärtigen Amt sind keine Anweisungen der russischen Innenbehörden zur spezifischen erkennungsdienstlichen Behandlung von Tschetschenen bekannt geworden. Kontrollen von kaukasisch aussehenden oder aus Zentralasien stammenden Personen erfolgen seit Jahrsbeginn 2007 zumeist im Rahmen des verstärkten Kampfes der Behörden gegen illegale Migration und Schwarzarbeit.

Tschetschenen steht wie allen russischen Staatsbürgern das Recht der Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthaltes in der russischen Föderation zu. Diese Rechte sind in der Verfassung verankert. Jedoch wird an vielen Orten (u.a. in großen Städten wie Moskau und St. Petersburg) der legale Zuzug von Personen aus den südlichen Republiken der Föderation durch Verwaltungsvorschriften stark erschwert. Diese Zuzugsbeschränkungen wirken sich im Zusammenhang mit anti-kaukasischer Stimmung besonders stark auf die Möglichkeit von aus anderen Staaten zurückgeführten Tschetschenen aus, sich legal dort niederzulassen. Die Rücksiedlung nach Tschetschenien wird von Regierungsseite nahe gelegt.

Mit dem Föderationsgesetz von 1993 wurde ein Registrierungssystem geschaffen, nach dem Bürger den örtlichen Stellen des Innenministeriums ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort ('vorübergehende Registrierung') und ihren Wohnsitz ("dauerhafte Registrierung') melden müssen. Die Registrierung legalisiert den Aufenthalt und ermöglicht den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen und zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt. Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandpasses (ein von russischen Auslandsvertretungen in Deutschland ausgestelltes Passersatzpapier reicht nicht aus) und nachweisbarer Wohnraum. Nur wer eine Bescheinigung seines Vermieters vorweist, kann sich registrieren lassen. Kaukasier haben jedoch größere Probleme als Neuankömmlinge anderer Nationalität, überhaupt einen Vermieter zu finden. Viele Vermieter weigern sich zudem, entsprechende Vordrucke auszufüllen, z.B. weil sie ihre Mieteinnahmen nicht versteuern wollen.

Die Registrierungsvorschriften gelten einheitlich im ganzen Land; ihre Anwendung ist jedoch regional unterschiedlich. Viele Regionalbehörden wenden örtliche Vorschriften oder Verwaltungspraktiken restriktiv an. Nach der Moskauer Geiselnahme in Oktober 2002 haben sich administrative Schwierigkeiten und Behördenwillkür gegen Tschetschenen im Allgemeinen und gegenüber zurückgeführten Personen im besonderen bei der Niederlassung verstärkt. Nichtregierungsorganisationen berichten auch, dass Registrierungsbehörden vereinzelt nicht kooperieren, wenn Tschetschenen sich in ihrem Kreis registrieren lassen oder dort wohnen möchten. Angesichts der Terrorgefahr dürfte sich an dieser Praxis der Behörden in absehbarer Zeit nichts ändern. Daher haben Tschetschenen erhebliche Schwierigkeiten, außerhalb Tschetscheniens eine offizielle Registrierung zu erhalten.

Nichtregistrierte Tschetschenen können innerhalb Russlands allenfalls in der tschetschenischen Diaspora untertauchen und dort überleben. Ihr Lebensstandard hängt stark davon ab, ob sie über Geld, Familienanschluss, Ausbildung und russische Sprachkenntnisse verfügen. Es kommt immer wieder zu Festnahmen wegen fehlender Registrierung oder aufgrund manipulierter Ermittlungsverfahren.

Russische Staatsangehörige, die seit dem 1. Juli 2004 (Ende der Umtauschfrist für sowjetische Inlandspässe) kein gültiges Personaldokument vorweisen können, müssen eine Geldstrafe zahlen, erhalten ein vorläufiges Personaldokument und müssen bei dem für sie zuständigen Meldeamt die Ausstellung eines neuen Inlandpasses beantragen. Dies kann dabei seit Inkrafttreten der Verordnung der Regierung der russischen Föderation Nr. 779 vom 20. Dezember 2006, am Wohnort, Aufenthaltsort oder dem Ort der Antragstellung erfolgen. Der Inlandspass ermöglicht (...) die Arbeitsaufnahme, die Eröffnung eines Bankkontos, aber auch den Kauf von Bahn- und Flugtickets."

Diese aktuelle Einschätzung, die sämtliche wesentlichen Erkenntnisquellen ihrerseits auswertet, entspricht im Wesentlichen der etwas älteren Einschätzung von Prof. Luchterhandt in seinem Gutachten für den VGH Kassel vom 08.08.2007 (S. 25 ff.) und der Einschätzung des "European Council on Refugees and Exiles" in seinem "The Russian Federation Country Report 2009" S. 19 ff.

Auch Prof. Luchterhandt weist auf die Fremde ablehnende Haltung großer Teile der slawischen Bevölkerung in der russischen Föderation hin:

"... die in der einheimischen, in der Regel slawischen Bevölkerung weit verbreiteten, mehr oder weniger stark ausgeprägten Überfremdungsängste und daraus gespeiste laute Forderungen, den Zuzug zu unterbinden; zweitens die in Behörden und ganz besonders bei den Organen des Innenministeriums (MWD) bzw. der Miliz noch stärker als in der Bevölkerung dominierende Haltung und Einstellung, für negative Erscheinungen jeder Art, an vorderster Stelle die Kriminalität, ferner Arbeitslosigkeit, Unordnung usw. die Migranten nichtslawischer Ethnien verantwortlich zu machen und ihre daraus resultierende repressive, mit Verboten operierende Verwaltungspraxis".

Nach diesen tatsächlichen Erkenntnissen unterliegen die Kläger zu 1 und 2 außerhalb Tschetscheniens keiner Individual- oder Gruppenverfolgung. Es gibt zwar eine größere Zahl von gewalttätigen Übergriffen gegen Tschetschenen und nicht nur in den größeren Städten, doch ist angesichts der Zahl der dort lebenden Tschetschenen oder überhaupt so genannter Kaukasier nicht von einer für die Gruppenverfolgung erforderlichen Dichte an Verfolgungsmaßnahmen auszugehen. Zudem scheint der Staat zunehmend solche nicht staatlichen Verfolgungsmaßnahmen zu bekämpfen. Das allgemein fremdenfeindliche Klima, die sehr häufige Verweigerung von Registrierungen und andere administrative Maßnahmen sind keine rechtlich bedeutsamen Verfolgungsmaßnahmen, die Art. 9 QRL voraussetzt.

Für die Kläger zu 1 und 2 besteht aber keine zumutbaren Möglichkeit, auf dem Gebiet der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens Schutz vor der ihm drohenden politischen Verfolgung in Tschetschenien zu suchen, weil von ihnen nicht vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sie sich dort aufhalten. Eine für einen zumutbaren dauernden Aufenthalt erforderliche Registrierung werden die Kläger nach den vorliegenden Auskünften mit hoher Wahrscheinlichkeit tatsächlich nicht erreichen können, weil sie ihnen, selbst wenn sie einen Anspruch darauf haben, nicht erteilt werden wird und sie sie angesichts des russischen Rechtssystems auch nicht mit Aussicht auf Erfolg einklagen können. Dieser Umstand führt dazu, dass sie zu einem Leben gezwungen werden, in dem die Gefahr der Festnahme wegen illegalen Aufenthaltes und des zwangsweisen Verbringens nach Tschetschenien besteht. Auch wenn dies wohl noch nicht ein Leben in der Illegalität im Sinne des Urteils des BVerwG v. 01.02.2007 (a.a.O.) ist, handelt es sich um ein Leben, das zu führen von den Klägern nicht im Sinne von Art. 8 Abs. 1 QRL vernünftigerweise erwartet werden kann.

Dies ist nämlich für die Kläger zu 1 und 2 nach Überzeugung des Gerichts deswegen auszuschließen, weil sie auch bei einem "Untertauchen in der tschetschenischen Diaspora" (Auswärtiges Amt Lagebericht Stand Januar 2011) nicht in der Lage sein werden, auf Dauer dort zu überleben. Dafür sind nach dem zitierten Lagebericht finanzielle Mittel, eine Ausbildung und Familienanschluss erforderlich. Darüber verfügen die Kläger nicht. Sie haben nach eigenen Angaben, an denen zu zweifeln der Senat keine Veranlassung hat, keine Berufsausbildung und keine Verwandten in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens. Dass die Kläger zu 1 und 2 über nennenswerte finanzielle Mittel verfügen, ist nicht erkennbar. Einzig die vorhandenen russischen Sprachkenntnisse des Klägers zu 1 würden ihm ein Leben in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens erleichtern. Sie allein genügen aber nicht, den Klägern zu 1 und 2 das Existenzminimum zu sichern, das unabdingbare Voraussetzung für das Vorliegen internen Schutzes ist.

Aus diesen Gründen haben die Kläger zu 1 und 2 den geltend gemachten Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. [...]