SG Berlin

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Zitieren als:
SG Berlin, Beschluss vom 17.07.2012 - S 59 AS 17966/12 ER - asyl.net: M19937
https://www.asyl.net/rsdb/M19937
Leitsatz:

§ 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II stellt neben Abs. 1 Satz 1 eine selbständige Anspruchsgrundlage dar. Anspruchsvoraussetzung ist lediglich, dass der Anspruchsberechtigte mit einem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in Bedarfsgemeinschaft lebt.

Schlagwörter: gewöhnlicher Aufenthalt, Nichtvollziehbarkeit der Ausreise, Beschenigung L4048, erwerbsfähig, hilfebdürftig, Bedarfsgemeinschaft, Ausreisepflicht, Unmöglichkeit der Ausreise, Erlaubnisfiktion, Fiktionsbescheinigung,
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 84 Abs. 2 S. 2, SGB II § 7 Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

Nach § 7 Abs. 1 S. 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig sind, hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte).

Insoweit ist hier ein Anordnungsanspruch, d.h. die materielle Berechtigung Leistungsanspruchs als offen anzusehen, denn im Rahmen des Eilverfahrens ist nicht abschließend zu klären, ob der gewöhnliche Aufenthalt der Antragsteller mit der durch Bescheid vom 06.02.2012 durch das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten - Ausländerbehörde - verfügten Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis bzw. der Ablehnung der Erteilung eines Aufenthaltstitels in Form der Aufenthaltserlaubnis und Androhung der zwangsweisen Durchsetzung der Ausreise entfallen ist, wobei allein ein rechtmäßiger Aufenthalt eines Ausländers dem Erfordernis des gewöhnlichen Aufenthalts i.S.d. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II genügt (vgl. Thie/Schoch, LPK - SGB II, 4.Aufl., § 7 Rn.13).

Zur Überzeugung des Gerichts ist der zweifelsfreie Wegfall des (rechtmäßigen) gewöhnlichen Aufenthaltes der Antragsteller nicht zu belegen.

Denn einerseits bestimmt § 84 Abs. 2 Satz 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG), dass für Zwecke der Aufnahme oder Ausübung einer Erwerbstätigkeit der Aufenthaltstitel als fortbestehend gilt, solange die Frist zur Erhebung des Widerspruchs oder der Klage noch nicht abgelaufen ist, während eines gerichtlichen Verfahrens über einen zulässigen Antrag auf Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung oder solange der eingelegte Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat (aus diesem Grund in einer vergleichbaren Konstellation bereits einen Leistungsanspruch bejahend, Sozialgericht Berlin, Beschluss vom 07.02.2011, S 148 AS 1401/11).

Da die Klage der Antragsteller vor dem Verwaltungsgericht Berlin zu dem Aktenzeichen VG 35 K 57.12 in Bezug auf ihre Ausreisepflicht aufschiebende Wirkung hat, nachdem die Antragsteller am 14.05.2012 durch Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten - Ausländerbehörde - die Bescheinigung "L4048" (Nichtvollziehbarkeit der Ausreise) erhalten haben und damit die Ausreisepflicht der Antragsteller verwaltungsgerichtliche Verfahren derzeit nicht vollziehbar ist, wird gemäß § 84 Abs. 2 Satz 2 AufenthG für die Dauer des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens die Rechtmäßigkeit des (gewöhnlichen) Aufenthaltes der Antragsteller für Zwecke der Arbeitsaufnahme fingiert.

Andererseits differenziert § 84 Abs. 2 S. 1 AufenthG zwischen der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs und der Wirksamkeit der aufenthaltsbeendenden Entscheidung, indem die Vorschrift bestimmt, dass Widerspruch und Klage unbeschadet ihrer aufschiebenden Wirkung die Wirksamkeit der Ausweisung und eines sonstigen Verwaltungsaktes, der die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts beendet, unberührt lassen.

Die aufgehobene Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht der Antragsteller ließe demnach die Wirksamkeit der Ausweisung der Antragsteller durch Bescheid vom 06.02.2012, welcher die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts beendet, unberührt.

Zur Überzeugung des Gerichts ist derzeit jedoch kein sachlicher Differenzierungsgrund zu erkennen, der es rechtfertigen würde, Leistungsbezieher nach dem SGB II in Abhängigkeit vom Innehaben eines Arbeitsplatzes unterschiedlich zu behandeln (so auch Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 22.03.2012, L 11 AS 1045/11 B ER, Rn. 13, zitiert nach juris).

Selbst wenn dies für den Antragsteller zu 3) nicht gelten sollte, da für ihn kein Aufenthaltstitel, sondern lediglich eine Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ausgestellt worden ist, wäre sein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II auch nicht deswegen ausgeschlossen, weil er nach Auffassung des Antragsgegners seinen rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in der Bundesrepublik Deutschland hat. Denn der Anspruch auf Sozialgeld setzt nicht voraus, dass der Anspruchsberechtigte gem. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland begründet hat (so vereinzelt in der Literatur vertreten, vgl. Knickrehm in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl., § 28 Rz. 10).

Vielmehr stellt § 7 Abs. 2 S. 1 SGB II neben § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II eine weitere, selbstständige Grundlage für Ansprüche auf Leistungen nach dem SGB II dar (vgl. u.a. Brühl/Schoch in LPK-SGB II, § 7 Rz.42), deren einzige Voraussetzung ist, dass der Anspruchsberechtigte mit einem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in Bedarfsgemeinschaft lebt. Weitere Voraussetzungen muss der Anspruchsberechtigte nach dem Wortlaut der Norm nicht erfüllen; insbesondere müssen in seiner Person nicht die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II, auch nicht zum Teil, vorliegen. § 19 Abs. 1 S. 2 SGB II, der an § 7 Abs. 2 S. 1 SGB II unmittelbar anknüpft, weist ebenfalls keine derartige tatbestandliche Voraussetzung auf. Ausreichend ist, dass der Anspruchsinhaber Angehöriger eines erwerbsfähigen Hilfebedürftigen ist, nicht selbst erwerbsfähig ist und keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches hat (so auch SG Nürnberg, Urteil vom 26.08.2009, S 20 AS 906/09, Rn. 27, zitiert nach juris).

Die genannten Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 19 Abs. 1 S. 2 SGB II erfüllt der Antragsteller zu 3). Nicht erforderlich ist dagegen, dass der Antragsteller zu 3) gem. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II seinen rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland begründet hat.

Ausschlussgründe i.S.d. § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II hat der Antragsgegner bislang nicht zweifelsfrei belegen können. Die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Leistungen nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), wie vom Antragsgegner im Ablehnungsbescheid vom 30.04.2012 vorgetragen, sind nicht zu erkennen, nachdem die Antragsteller am 14.05.2012 die Bescheinigung "L4048" (Nichtvollziehbarkeit der Ausreise) erhalten haben und damit die Ausreisepflicht der Antragsteller im Hinblick auf das verwaltungsgerichtliche Verfahren derzeit nicht vollziehbar ist. [...]