OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18.04.2012 - 11 S 9.12 - asyl.net: M19970
https://www.asyl.net/rsdb/M19970
Leitsatz:

Bei der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ist darauf abzustellen, ob der Lebensunterhalt nicht nur bei punktueller Betrachtung gesichert erscheint, sondern unter Berücksichtigung der Berufschancen und der bisherigen Erwerbsbiographie eine gewisse Verlässlichkeit des Mittelzuflusses gewährleistet ist, die eine unter dem Gesichtspunkt der Dauerhaftigkeit positive Prognose zulässt. Dieser Prognosemaßstab gilt auch für die Beurteilung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren. Dass sich die negative Prognose in der Zukunft, vorliegend während des Hauptsacheverfahrens, ändern könnte, ist unerheblich und gebietet es insbesondere nicht, dies abzuwarten und die aufschiebende Wirkung einer Klage anzuordnen.

Schlagwörter: Freibetrag, Sicherung des Lebensunterhalts, punktuelle Betrachtung, Erwerbsbiografie, Erwerbstätigkeit, Prognose, Regelerteilungserfordernis, Stand-Still-Klausel, Stillhalteklausel, Aufenthaltserlaubnis, eigenständiges Aufenthaltsrecht, Verlängerung, Verlängerungsantrag, Mindesteinkommen, Regelsatz, SGB II-Regelsatz, Mindestbetrag,
Normen: ARB 1/80 Art. 13, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 31 Abs. 4, VwGO § 80 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

I.

Der 1978 geborene türkische Antragsteller reiste im Jahre 1999 erstmalig zu Asylzwecken nach Deutschland ein. Das diesbezügliche Verfahren ist bestandskräftig negativ abgeschlossen. Im Hinblick auf die Eheschließung mit einer 1959 geborenen deutschen Staatsangehörigen erhielt er im Juni 2000 eine Aufenthaltserlaubnis. Die Ehe ist nach Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft im Frühjahr 2004 seit 2005 geschieden.

Nachdem dem Antragsteller im Jahre 2004 zunächst eine einjährige Aufenthaltserlaubnis auf der Grundlage des Art. 6 Abs. 1 Spiegelstrich 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei (nachfolgend: ARB 1/80) erteilt worden war, erhielt er später Aufenthaltserlaubnisse gemäß § 31 Abs. 1 und 4 AufenthG, zuletzt am 11. Januar 2010 für die Dauer eines Jahres. Seinen weiteren Verlängerungsantrag lehnte der Antragsgegner durch Bescheid vom 27. September 2011 unter Androhung seiner Abschiebung mangels hinreichender eigenständiger Lebensunterhaltssicherung und Fehlen eines Aufenthaltsrechts aus Art. 6 ARB 1/80 ab.

Hiergegen hat der Antragsteller am 26. Oktober 2011 Klage erhoben (VG 29 K 264.11). Den gleichzeitig gestellten verfahrensgegenständlichen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes insoweit nebst Gestattung der Erwerbstätigkeit bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren lehnte das Verwaltungsgericht Berlin durch Beschluss vom 16. Januar 2012 ab. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage sei unbegründet. Denn die erforderliche positive Prognose, dass sein Lebensunterhalt künftig dauerhaft ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel gedeckt sei, liege nicht vor. Die Erwerbsbiographie des Antragstellers, der keine Berufsausbildung habe, sei insbesondere auch ab Sommer 2009 von nur kurzfristigen Arbeitsverhältnissen, Zeiten der Arbeitslosigkeit bzw. geringfügigen und stark schwankenden Arbeitseinkünften geprägt. Abzustellen sei bei der erforderlichen Gesamtbetrachtung deshalb nicht auf das aktuelle, Mitte Juli 2011 angetretene Arbeitsverhältnis, sondern auf die Erwerbstätigkeit im gesamten letzten Jahr. Für den Nachweiszeitraum von Oktober 2010 bis September 2011 ergebe sich dabei ein durchschnittlicher monatlicher Betrag der Nettoeinkünfte von 732,55 Euro. Dieser liege selbst unter Außerachtlassung der zu Unrecht berücksichtigten Steuerklasse 3 "sehr deutlich unter dem erforderlichen Mindestbetrag und zwar sogar noch klar unter der Summe von Regelsatz und Mietbedarf". Dieser war im Beschluss zuvor mit 752 Euro, bestehend aus dem SGB II-Regelsatz von 374 Euro und dem Wohnbedarf von 378 Euro beziffert worden. Für eine Ausnahme vom Regelerfordernis der Lebensunterhaltssicherung sei vorliegend nichts vorgetragen oder ersichtlich. Ansprüche aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 bestünden angesichts der stets nur relativ kurzzeitigen Arbeitsverhältnisse des Antragstellers nicht. Die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 sei beim Vergleich der Rechtslage mangels zwischenzeitlicher Begründung neuer Beschränkungen für den Zugang zum hiesigen Arbeitsmarkt nicht einschlägig. Auch der Antrag des Antragstellers auf Verpflichtung des Antragsgegners zur Gestattung weiterer Erwerbstätigkeit bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren könne keinen Erfolg haben. Ein Anordnungsanspruch insoweit sei nicht ersichtlich. Vielmehr regele sich die Dauer der Erwerbstätigkeit nach dem Aufenthaltsrecht und gehe nicht über die Erlaubnisfiktion seines Verlängerungsantrags hinaus, so dass er nur bei einem Erfolg seines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO insoweit einen derartigen Anspruch besitzen würde.

II.

Die rechtzeitig erhobene und begründete Beschwerde des Antragstellers hat auf der Grundlage des bis zum Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist geltend gemachten und nach § 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO allein maßgeblichen Beschwerdevorbringens keinen Erfolg.

1. Der Antragsteller macht zunächst geltend, das Verwaltungsgericht habe in seine Berechnung des Bedarfs für die Lebensunterhaltssicherung zu Unrecht die Freibeträge nach § 11 Abs. 2 SGB II eingestellt. Soweit dort auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. November 2010 zum Geschäftszeichen 1 C 21.09 verwiesen werde, müsse berücksichtigt werden, dass diese Entscheidung zur Frage des Anspruchs auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ergangen sei. In der damaligen mündlichen Verhandlung habe das Bundesverwaltungsgericht deutlich gemacht, dass diesbezüglich eine besonders stringente Prüfung nach den nationalen Vorschriften geboten sei, da das Europarecht lediglich garantieren solle, dass dem Familiennachzug keine besonderen Hindernisse entgegenstünden. Diese hohen Maßstäbe könnten auf den vorliegenden Fall bloßer Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis, die anders eine Niederlassungserlaubnis auch im behördlichen Ermessen stehe, nicht übertragen werden.

Dieses Vorbringen ist vorliegend jedenfalls unerheblich. Zwar geht der verwaltungsgerichtliche Beschluss, wie die dortigen Ausführungen auf Seite 3 Abs. 2 belegen, ersichtlich davon aus, dass bei der Ermittlung des voraussichtlichen Unterhaltsbedarfs des Antragstellers auch die genannten Freibeträge zu berücksichtigen wären. Allerdings kommt das Verwaltungsgericht bei seiner später dargelegten Berechnung der maßgeblichen durchschnittlichen monatlichen Nettoeinkünfte des Antragstellers im vergangenen Jahr zu dem Ergebnis, dass diese mit 732,55 Euro - und ungeachtet der teilweise zugrundegelegten, für ihn günstigeren Steuerklasse 3 - noch "unter der Summe von Regelsatz und Mietbedarf" liegt, die es zuvor, was mit der Beschwerde nicht angegriffen ist, mit 752 Euro (Regelsatz für eine alleinstehende Person ab dem 1. Januar 2012 von 374 Euro und Wohnbedarf von 378 Euro) beziffert hat. Nichts Anderes gilt im Übrigen dann, wenn man - hiervon abweichend - den zuvor geltenden SGB II-Regelsatz von 364 Euro zugrundelegen würde, da sich auch dann - zusammen mit dem Miet- bzw. Wohnbedarf - ein (nicht vollständig gedeckter) Unterhaltsbedarf von 742 Euro ergeben würde. Hierbei sind die genannten Freibeträge aber gerade nicht zu Lasten des Antragstellers berücksichtigt worden, so dass es auf seine Einwendungen insoweit - die Sicherung des Lebensunterhalts ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel stellt eine allgemeine Erteilungsvoraussetzung dar, ohne dass es einer Ermessensentscheidung bedarf - nicht ankommt.

Soweit der Antragsteller in diesem Zusammenhang weiterhin geltend macht, eine detaillierte Erörterung der Lebensunterhaltssicherung müsse dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben, derzeit habe er einen festen Arbeitsplatz, der ihm ein hinreichendes Einkommen sichere und den er verlieren würde, begründet das keine Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses. Denn das Verwaltungsgericht stellt in Übereinstimmung auch mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu Recht darauf ab, ob der Lebensunterhalt nicht nur auf der Grundlage einer punktuellen Betrachtung gesichert erscheint, sondern unter Berücksichtigung der Berufschancen und der bisherigen Erwerbsbiographie eine gewisse Verlässlichkeit des Mittelzuflusses gewährleistet ist, die eine unter dem Gesichtspunkt der Dauerhaftigkeit positive Prognose zulässt (vgl. Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz - AV-Bund - vom 26. Oktober 2009, Nr. 2.3.3; BVerwG, Urteil vom 7. April 2009 - 1 C 17.08 -, InfAuslR 2009, 270 ff.; Urteil vom 26. August 2008 - 1 C 32.07 -, NVwZ 2009, 248 ff.; Urteile des Senats vom 4. Februar 2008 - 11 B 4.07 - und vom 27. August 2009 - 11 B 1.09 -, jeweils in juris). Dieser Prognosemaßstab gilt auch für die Beurteilung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren. Dass sich die negative Prognose dabei in der Zukunft, vorliegend während des Hauptsacheverfahrens, ändern könnte, ist unerheblich und gebietet es insbesondere nicht, dies abzuwarten und die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.

2. Der Antragsteller beanstandet weiterhin, dass der verwaltungsgerichtliche Beschluss das Vorliegen eines Ausnahmefalls vom Regelerteilungserfordernis der Lebensunterhaltssicherung nicht hinreichend gewürdigt bzw. geprüft habe. Diese Annahme trifft nicht zu. Vielmehr ist dort ausgeführt, für das Vorliegen besonderer atypischer Umstände, die so bedeutsam seien, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung in § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG beseitigten, aber auch in Bezug auf den Schutzbereich von Ehe und Familie, sei nichts vorgetragen oder ersichtlich. Der Antragsteller sei alleinstehend, habe hier keine Kinder und sei erst mit 21 Jahren nach Deutschland eingereist, so dass seine Reintegrationsfähigkeit in die Türkei nicht zweifelhaft sei. Auch könne von einer nachhaltigen Aufenthaltsverfestigung in Deutschland nicht ausgegangen werden. Hiermit setzt sich das Beschwerdevorbringen, auch wenn es die Frage aufwirft, wie Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit infolge von Eheproblemen glaubhaft gemacht werden könnten, nicht im gemäß § 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO gebotenen Umfang auseinander, benennt insbesondere auch keine hinreichend gewichtigen Ausnahmeumstände.

3. Ferner macht der Antragsteller geltend, das Verwaltungsgericht verkenne mit seinen Ausführungen, nach denen die sogen. Stand-Still-Klausel des Art. 13 ARB 1/80 vorliegend keine weitergehenden Rechte begründe, die zwischenzeitlich durch das Inkrafttreten der SGB II-Regelungen (Hartz IV-Leistungen) neu entstandenen erhöhten Hürden für eine Verlängerung von Aufenthaltsansprüchen. Diese ergäben sich daraus, dass die Leistungen nach Hartz IV Beträge enthielten, die nicht mit denen gleichzusetzen seien, die im Rahmen der Sozialhilfe hätten beansprucht werden können.

Ein Verstoß gegen die Regelung aus Art. 13 ARB 1/80 ist damit nicht zu begründen. Dabei mag dahinstehen, ob die geänderte, insbesondere der Förderung der Arbeitsaufnahme dienende Freibeträge berücksichtigende Berechnung der Leistungen nach dem SGB II tatsächlich eine höhere Hürde für die Verlängerung von Aufenthaltserlaubnissen darstellen und ob darin ggf. eine Einführung einer "neuen Beschränkung für den Zugang zum Arbeitsmarkt" im Sinne des Art. 13 ARB 1/80 zu sehen wäre. Denn der Antragsteller, der selbst auf einen Vergleich mit den Ansprüchen aus dem SGB XII verwiesen hat, hat schon nicht dargelegt, dass sein Lebensunterhalt bei Anlegung der sich nach dem SGB XII ergebenden Kriterien gesichert wäre. Nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts reicht sein Einkommen auch ohne Abzug der Freibeträge nicht aus, um den Regelbedarf und die Wohnkosten zu decken. Andere, im konkreten Fall möglicherweise ein für ihn günstigeres Ergebnis begründende Abweichungen hat er nicht aufgezeigt.

4. Auch der erneute Antrag des Antragstellers, den Antragsgegner zur Gestattung weiterer Erwerbstätigkeit bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren zu verpflichten, hat gemäß § 123 VwGO keinen Erfolg.

Insoweit macht der Antragsteller zur Beschwerdebegründung geltend, der vom Verwaltungsgericht vermisste Anordnungsanspruch ergebe sich unmittelbar aus Art. 19 Abs. 4 GG. Denn die endgültige Entscheidung über das Bestehen eines Anspruchs auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis sei nach den rechtlichen und tatsächlichen Umständen im Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Tatsacheninstanz zu treffen. Insofern müsse ihm bis zu diesem Zeitpunkt Gelegenheit gegeben werden zu beweisen, dass er seinen Lebensunterhalt bestreiten könne.

Dem ist nicht zu folgen. Dabei mag dahinstehen, ob aus Art. 19 Abs. 4 GG allein überhaupt materielle Genehmigungsansprüche abzuleiten sind. Denn jedenfalls besteht, wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat, der vom Antragsteller geltend gemachte Anspruch auf Gestattung einer Erwerbstätigkeit unabhängig vom (zumindest fiktiven) Fortbestand seines Aufenthaltsrechts nicht. Insoweit ist auf die obigen Ausführungen zur entsprechenden Argumentation des Antragstellers zu verweisen. [...]