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Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 30.07.2012 - 5386174-269 - asyl.net: M19996
https://www.asyl.net/rsdb/M19996
Leitsatz:

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund Verfolgung wegen Homosexualität im Senegal.

Schlagwörter: Homosexualität, homosexuell, Senegal, Posttraumatische Belastungsstörung, Suizidgefahr, soziale Gruppe, Strafbarkeit, nichtstaatliche Verfolgung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 3,
Auszüge:

[...]

Dem Antrag wird entsprochen, soweit die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft begehrt wurde.

Voraussetzung für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist gern. § 60 Abs. 1 AufenthG zunächst die Prüfung, ob eine politische Verfolgung vorliegt. Insoweit entspricht die Regelung des § 60 Abs. 1 AufenthG den Anerkennungsvoraussetzungen nach Art. 16 a Abs. 1 GG.

Der Schutzbereich des § 60 Abs. 1 AufenthG ist jedoch weiter gefasst. So können die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auch dann erfüllt sein, wenn ein Asylanspruch aus Art. 16a Abs. 1 GG trotz drohender politischer Verfolgung - etwa wegen der Einreise über einen sicheren Drittstaat (§ 26a Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG) oder anderweitige Sicherheit vor Verfolgung (§ 27 Abs. 1 AsylVfG) - ausscheidet.

Daneben geht auch die Regelung über die Verfolgung durch "nichtstaatliche Akteure" (§ 60 Abs. 1 Satz 4c AufenthG ) über den Schutzbereich des Art. 16a GG hinaus, der eine zumindest mittelbare staatliche oder quasistaatliche Verfolgung voraussetzt.

Als weitere Voraussetzung muss dem Antragsteller bei Rückkehr in seinen Herkunftsstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG drohen. Dabei ist zugunsten vorverfolgter Antragsteller Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG (QualfRL) anzuwenden (§ 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG), der - anders als der im Rahmen der Prüfung des Art. 16a Abs. 1 GG anzuwendende Maßstab der hinreichenden Sicherheit - für den Antragsteller folgende Regelvermutung aufstellt. Hat der Asylbewerber schon einmal politische Verfolgung erlitten, so gilt dies als ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist. Der Flüchtlingsschutz kann ihm danach nur versagt werden, wenn stichhaltige Gründe gegen eine erneute Verfolgung sprechen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2010, BVerwGE 136, 377).

Nach § 60 Abs. 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine Verfolgung kann gem. § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ausgehen vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen (staatsähnliche Akteure), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern staatliche oder staatsähnliche Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der landesweit drohenden Verfolgung zu bieten. Dies gilt unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft.

Aufgrund des von ihm geschilderten Sachverhaltes und der hier vorliegenden Erkenntnisse ist davon auszugehen, dass die Furcht des Ausländers, im Falle einer Rückkehr in den Senegal zum gegenwärtigen Zeitpunkt Verfolgungsmaßnahmen i.S. von § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt zu sein, begründet ist. […]

[Aus der Klagebegründung:]

Homosexuelle Handlungen stehen im Senegal unter Strafe; nach Art. 3.913 des Senegalesischen Strafgesetzbuches werden homosexuelle Handlungen mit Strafen zwischen 1 und 5 Jahren und Geldstrafen bestraft. Die Strafvorschriften werden auch angewandt. Wir verweisen hierzu auf den beigefügten Bericht der International Gay and Lesbian Human Rights Commission vom 20.08.2009 und den beigefügten Bericht des US Department of State für 2010. Staatliche Verfolgung von Homosexuellen im Senegal aufgrund der sexuellen Orientierung ist damit erwiesen. Daneben berichten sämtliche Quellen auch von nichtstaatlicher Verfolgung. Diese hat in letzter Zeit drastisch zugenommen. Besonders abscheulich ist die Schändung von Leichen, über die in den Medien berichtet wird.

Zur Verfolgung von Homosexuellen im Senegal überreichen wir verschiedene Artikel der New York Times, der Huffington Post und der International Gay and Lesbian Human Rights Commission. Über die Grabschändungen wird auch im Menschenrechtsbericht des US Department of State berichtet.

Wie sich aus allen genannten Berichten ergibt, hat sich die Lage von Homosexuellen im Senegal seit März 2008 drastisch verschärft. Die Homosexuellen werden zu Sündenböcken gemacht, gesellschaftliche Probleme, wie z.B. die zunehmende Armut aufgrund steigender Lebensmittelpreise werden ihnen in die Schuhe geschoben. Vor allem in den muslimischen Gemeinschaften wird offen gegen Homosexuelle gehetzt, wie sich aus dem Artikel der Huffington Post ergibt.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen sind die Schilderungen des Antragstellers absolut glaubwürdig. Er ist somit vor nichtstaatlicher politischer Verfolgung geflohen. Eine interne Fluchtalternative oder den staatlichen Schutz konnte der Antragsteller nicht erreichen. Da er nach senegalesischem Recht strafbare Handlungen verübt hat, konnte er sich der Polizei nicht offenbaren.

3. Inzwischen hat der Antragsteller die Beratungsstelle für schwule Männer im … aufgesucht. Seit dem … ist der Antragsteller in psychosozialer Betreuung. Seither nimmt er wöchentlich einmal Behandlungstermine wahr.

Der behandelnde Therapeut … attestiert eine schwere posttraumatische Belastungsstörung. Der Antragsteller leidet unter Flashbacks, Hyperarousal, Panikattacken, Schlafstörungen, Albträumen, depressiven Einbrüchen, Suizidgedanken sowie zeitweise unter manifester Suizidalität. Gegenüber potentiellen Triggern von Flashbacks besteht das typische Vermeidungsverhalten. Sämtliche Phänomene einer posttraumatischen Belastungsstörung sind gegeben. In einer der Beratungsstunden ist der Antragsteller im Anschluss an die Schilderung eines Albtraumes akut suizidal geworden, so dass eine Behandlung in der psychiatrischen Klinik der Universität München sowie nachfolgend ein stationärer Aufenthalt im Bezirkskrankenhaus Augsburg erforderlich wurde. Im Bezirkskrankenhaus … hielt sich der Antragsteller vom ... bis ... auf. Diagnostiziert wurde eine schwere depressive Episode. Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung wurden ebenfalls festgestellt.

Die Befundberichte des Bezirkskrankenhauses … sowie die Stellungnahme des Dipl.-Psych. … und des ehrenamtlichen Beraters ... sind beigefügt.

Wie sich aus der Stellungnahme des ... ergibt, besteht an der Glaubwürdigkeit des Vorbringens des Antragstellers kein Zweifel. Es besteht eine dringende Behandlungsbedürftigkeit. Eine Rückkehr in den Senegal wäre für den Antragsteller nicht nur retraumatisierend, sondern real lebensbedrohlich. Ein im Verborgenen gelebtes homosexuelles Leben ist für den Antragsteller aufgrund der Kontakte des … der strengen, soziokulturell verankerten Heiratspflicht im Senegal und der umfassenden gesamtgesellschaftlichen (d.h. sowohl sozialen als auch staatlich-juristischen) Verachtung, Dämonisierung und von Hassgewalt motivierter Bedrohung gleichgeschlechtlicher Lebensformen gerade in jüngster Zeit im Senegal und anderen Teilen Afrikas nicht realisierbar.

4. Dem Antragsteller droht im Senegal politische Verfolgung i.S.d. § 60 1 AufenthG. Homosexuelle stellen eine soziale Gruppe i.S.d. § 60 1 Satz 1 und 4 AufenthG i.V.m. Art. 10 Abs. 1d Satz 2 der Richtlinie 2004/83/EG dar. Nach Art. 10 Abs. 1d Satz 2 der Richtlinie kann als eine soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmale der sexuellen Ausrichtung gründet.

Die frühere, aus der Zeit vor der Qualifikationsrichtlinie stammende Rechtsprechung, derzufolge Homosexuelle grundsätzlich keine "soziale Gruppe" im Sinne des Art. 1 A Nr. 2 GK sein können (so BVerwG, Urteil vom 15. März 1988, 9 C 278.86, BVerwGE 79, 143, 145), ist demzufolge überholt. Darauf, ob die Homosexualität für den Betroffenen „unentrinnbar" ist, so dass er sich gleichgeschlechtlicher Betätigung gar nicht enthalten kann (vgl. BVerwG, vom 15. März 1988, 9 C 278.86, BVerwGE 79, 143, 151 und Urteil vom 17. Oktober 1989, 9 C 25.89, NVwZ-RR 1990, 375 zu Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG a.F.), kommt es daher nicht mehr an. Das Erfordernis der "Unentrinnbarkeit" wurde vom Bundesverwaltungsgericht deshalb aufgestellt, weil es Homosexuelle nicht als "soziale Gruppe" ansah, sondern ihre Unterdrückung unter das Tatbestandsmerkmal "Verfolgung wegen eines unabänderlichen, mit Rasse oder Nationalität vergleichbaren Merkmals" subsumierte (vgl. BVerwG, vom 15. März 1988, 9 C 278.86, BVerwGE 79, 143, 145 - 147; dazu auch Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung, § 19 Rn. 37). Als ein solches "unabänderliches" Merkmal kommt natürlich nur eine "unentrinnbare", für den Betroffenen nicht veränderbare sexuelle Ausrichtung in Betracht. Die Qualifikationsrichtlinie ordnet dagegen ausweislich der Begründung des Kommissionsentwurfs zu Art. 10 Abs. 1 lit d) die sexuelle Ausrichtung nicht den unveränderlichen Merkmalen zu, sondern denjenigen, deren Verzicht vom Kläger auch bei Abänderlichkeit wegen ihres identitätsprägenden Charakters nicht verlangt werden kann (Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung, § 19 Rn. 30, 39, VG Oldenburg, Urteil vom 13.11.2007, 1 A 1824/07)

Der Antragsteller kann auch nicht darauf verwiesen werden, der drohenden Verfolgung im Senegal dadurch zu entgehen, dass er sich dort in Zukunft gegen seine Veranlagung homosexueller Betätigung enthält.

Homosexuelles Verhalten ist eine wesentliche Ausdrucksmöglichkeit der menschlichen Persönlichkeit und gehört daher zu der durch die völkerrechtlichen Menschenrechtsnormen (vgl. nur Art. 8 EMRK) geschützten Privatsphäre (vgl. EGMR, Urteil vom 22.10.1981, Dudgeon ./. Vereinigtes Königreich, NJW 1984, 541, 543). Die sexuelle Identität stellt einen konstitutiven Bestandteil der Persönlichkeit eines jeden Menschen dar. Wird ein Mensch gezwungen, diesen wesentlichen Bestandteil seiner Persönlichkeit zu negieren, ist er in seiner durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Menschenwürde in erheblichem Maße beeinträchtigt (VG Gießen, Beschluss vom 28. August 1999, 10 E 30832/98, NVwZ-Beilage 1999, Heft 12, S. 7). Es kann ihm daher nicht ohne weiteres zugemutet werden, dieses persönlichkeitsprägende Merkmal zu unterdrücken oder zu verheimlichen (so im Ergebnis auch VG München, Urteil vom 30. Januar 2007, M 21 K 04.51494, Asylmagazin 912007, 25, 26 f.). Es kann von einem Betroffenen nicht verlangt werden, dass er generell auf sexuelle Betätigung verzichten muss, nur weil sein Sexualverhalten nicht demjenigen der Mehrheit entspricht (VG Gießen, Beschluss vom 28. August 1999, 10 E 30832/98, NVwZ-Beilage 1999, Heft 12, S. 8).(VG Oldenburg 1 A 1824/07). [...]