EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 06.09.2012 - C-147/11; C-148/11 - asyl.net: M20005
https://www.asyl.net/rsdb/M20005
Leitsatz:

Art. 12 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft ist dahin auszulegen, dass er einer Person, die tatsächlich die elterliche Sorge für ein Kind eines Wanderarbeitnehmers oder eines ehemaligen Wanderarbeitnehmers ausübt, das seine Ausbildung im Aufnahmemitgliedstaat fortsetzt, ein Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Staates verleiht, während er nicht dahin ausgelegt werden kann, dass er ein solches Recht einer Person verleiht, die tatsächlich die elterliche Sorge für ein Kind eines Selbständigen ausübt.

Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ist dahin auszulegen, dass sich ein Unionsbürger, der Angehöriger eines der Europäischen Union neu beigetretenen Mitgliedstaats ist, nach dieser Bestimmung auf ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht berufen kann, wenn er sich mehr als fünf Jahre lang, von denen ein Teil vor dem Beitritt des erstgenannten Mitgliedstaats zur Europäischen Union zurückgelegt wurde, ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, soweit der Aufenthalt im Einklang mit den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 stand.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Vorabentscheidungsverfahren, Vorabentscheidungsersuchen, Unionsbürger, Familienangehörige, Aufenthaltsrecht, Wanderarbeitnehmer, Einkommensbeihilfe, Beihilfe, Kinder, elterliche Sorge, selbständige Erwerbstätigkeit, Schulbesuch, Schulbildung, Ausbildung,
Normen: VO 1612/68 Art. 12, VO 1612/68 Art. 7, RL 2004/38/EG Art. 16,
Auszüge:

[...]

Zu den Vorlagefragen

23 Mit seinen Fragen möchte das vorlegende Gericht im Kern wissen, ob Personen, die sich in der Lage von Frau Czop und Frau Punakova befinden, nach dem Unionsrecht ein Aufenthaltsrecht zukommt.

24 Zur Beantwortung dieser Fragen, mit denen das vorlegende Gericht feststellen möchte, ob solche Personen in den Genuss der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Einkommensbeihilfe kommen können, ist darauf hinzuweisen, dass Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 Kindern eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie dessen Staatsangehörigen das Recht auf Zugang zum allgemeinen Unterricht sowie zur Lehrlings- und Berufsausbildung verleiht (Urteil Teixeira, Randnr. 35).

25 Nach der Rechtsprechung impliziert dieses Recht auf Zugang zum Unterricht ein Aufenthaltsrecht des Kindes eines Wanderarbeitnehmers oder ehemaligen Wanderarbeitnehmers, wenn es seine Ausbildung im Aufnahmemitgliedstaat fortsetzen möchte, sowie ein entsprechendes Aufenthaltsrecht des Elternteils, der die elterliche Sorge für dieses Kind tatsächlich ausübt (vgl. Urteil Teixeira, Randnr. 36).

26 Ebenfalls nach der Rechtsprechung genügt es, dass das Kind, das im Aufnahmemitgliedstaat eine Ausbildung absolviert, in diesem Staat seinen Wohnsitz genommen hat, während einer seiner Elternteile dort ein Aufenthaltsrecht als Wanderarbeitnehmer wahrnahm. Das Recht des Kindes gemäß Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68, sich in diesem Staat aufzuhalten, um dort eine Ausbildung zu absolvieren, und demzufolge das Aufenthaltsrecht des Elternteils, der die elterliche Sorge für dieses Kind tatsächlich ausübt, können also nicht von der Voraussetzung abhängig gemacht werden, dass einer der Elternteile des Kindes zu dem Zeitpunkt, zu dem es seine Ausbildung begonnen hat, als Wanderarbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat erwerbstätig war (Urteil Teixeira, Randnr. 74).

27 Zu Frau Punakova geht aus den dem nationalen Gericht unterbreiteten Akten hervor, dass sie die tatsächliche elterliche Sorge für ihren Sohn Nikholas Buklierius innehat, der seit September 2008 die Schule besucht und Sohn von Herrn Buklierius, einem litauischen Staatsbürger, ist, der im Vereinigten Königreich in den Jahren 2004, 2005 und 2008 als Arbeitnehmer tätig war.

28 Wie von der Regierung des Vereinigten Königreichs in der mündlichen Verhandlung eingeräumt, hat Frau Punakova als Mutter eines Kindes eines Wanderarbeitnehmers, für das sie tatsächlich die elterliche Sorge ausübt und das die Schule besucht, somit ein Aufenthaltsrecht nach Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68.

29 Frau Czop dagegen kann ein Aufenthaltsrecht nicht allein daraus herleiten, dass sie tatsächlich die elterliche Sorge für ihren Sohn Lukasz Czop innehat, der im Jahr 2006 in das Schulsystem des Vereinigten Königreichs eingegliedert wurde.

30 Weder sein Vater noch Frau Czop selbst waren nämlich im Vereinigten Königreich als Arbeitnehmer erwerbstätig. Aus dem klaren und genauen Wortlaut von Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68, in dem von den "Kinder[n] eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der … beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist", die Rede ist, ergibt sich aber, dass diese Bestimmung nur für die Kinder von Arbeitnehmern gilt.

31 Bestätigt wird die wörtliche Auslegung dieser Bestimmung, wonach diese nur auf Arbeitnehmer abstellt, im Übrigen sowohl durch die allgemeine Systematik der Verordnung Nr. 1612/68, die auf Art. 49 EWG-Vertrag (später nach Änderung Art. 49 EG-Vertrag, dann nach Änderung Art. 40 EG) gestützt ist, als auch dadurch, dass Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 nicht in die Richtlinie 2004/38 übernommen wurde, sondern in die Verordnung Nr. 492/11, die ebenfalls die Arbeitnehmerfreizügigkeit regelt und auf Art. 46 AEUV gestützt ist, der Art. 40 EG entspricht.

32 Außerdem kann nach gefestigter Rechtsprechung eine Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht dazu führen, dem klaren und unmissverständlichen Wortlaut dieser Bestimmung jede praktische Wirksamkeit zu nehmen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. Dezember 2005, EZB/Deutschland, C-220/03, Slg. 2005, I-10595, Randnr. 31, und vom 26. Oktober 2006, Europäische Gemeinschaft, C-199/05, Slg. 2006, I-10485, Randnr. 42).

33 Demnach kann Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68, der nur auf die Arbeitnehmer abstellt, also nicht so ausgelegt werden, dass er auch für selbständig Erwerbstätige gilt.

34 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass Frau Czop nach den Angaben der Regierung des Vereinigten Königreichs in der mündlichen Verhandlung ein Recht auf Daueraufenthalt nach Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 hat.

35 Nach der Rechtsprechung sind nämlich für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt gemäß Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 Aufenthaltszeiten eines Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats vor dem Beitritt dieses Drittstaats zur Union in Ermangelung spezifischer Bestimmungen in der Beitrittsakte zu berücksichtigen, soweit sie im Einklang mit den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie zurückgelegt wurden (Urteil vom 21. Dezember 2011, Ziolkowski und Szeja, C-424/10 und C-425/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 63).

36 Insoweit steht zum einen fest, dass sich Frau Czop vor dem 29. Mai 2008, dem Tag, an dem sie die Einkommensbeihilfe beantragte, fünf Jahre lang ununterbrochen im Vereinigten Königreich aufhielt.

37 Zum anderen erweist sich nach den Angaben der Regierung des Vereinigten Königreichs in der mündlichen Verhandlung, dass sich Frau Czop "rechtmäßig" im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 im Vereinigten Königreich aufhielt.

38 Auch wenn sie nämlich keine Erwerbstätigkeit als Selbständige während fünf Jahren im Vereinigten Königreich ausgeübt hatte und daher nicht die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 erfüllte, so genügte sie doch, wie von der Regierung des Vereinigten Königreichs in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie.

39 Unter diesen Umständen braucht nicht geprüft zu werden, ob Frau Czop auch auf einer anderen Grundlage des Unionsrechts ein Aufenthaltsrecht hat.

40 Nach alledem sind die Vorlagefragen wie folgt zu beantworten:

Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 ist dahin auszulegen, dass er einer Person, die tatsächlich die elterliche Sorge für ein Kind eines Wanderarbeitnehmers oder eines ehemaligen Wanderarbeitnehmers ausübt, das seine Ausbildung im Aufnahmemitgliedstaat fortsetzt, ein Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Staates verleiht, während er nicht dahin ausgelegt werden kann, dass er ein solches Recht einer Person verleiht, die tatsächlich die elterliche Sorge für ein Kind eines Selbständigen ausübt;

Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 ist dahin auszulegen, dass sich ein Unionsbürger, der Angehöriger eines der Union neu beigetretenen Mitgliedstaats ist, nach dieser Bestimmung auf ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht berufen kann, wenn er sich mehr als fünf Jahre lang, von denen ein Teil vor dem Beitritt des erstgenannten Mitgliedstaats zur Union zurückgelegt wurde, ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, soweit der Aufenthalt im Einklang mit den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 stand. [...]

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 12 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft ist dahin auszulegen, dass er einer Person, die tatsächlich die elterliche Sorge für ein Kind eines Wanderarbeitnehmers oder eines ehemaligen Wanderarbeitnehmers ausübt, das seine Ausbildung im Aufnahmemitgliedstaat fortsetzt, ein Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Staates verleiht, während er nicht dahin ausgelegt werden kann, dass er ein solches Recht einer Person verleiht, die tatsächlich die elterliche Sorge für ein Kind eines Selbständigen ausübt.

Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ist dahin auszulegen, dass sich ein Unionsbürger, der Angehöriger eines der Europäischen Union neu beigetretenen Mitgliedstaats ist, nach dieser Bestimmung auf ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht berufen kann, wenn er sich mehr als fünf Jahre lang, von denen ein Teil vor dem Beitritt des erstgenannten Mitgliedstaats zur Europäischen Union zurückgelegt wurde, ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, soweit der Aufenthalt im Einklang mit den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 stand. [...]