VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 29.08.2012 - W 6 K 12.30005 - asyl.net: M20013
https://www.asyl.net/rsdb/M20013
Leitsatz:

Für eine Muslima aus dem Iran, die nachvollziehbar zum christlichen Glauben übergetreten ist, besteht eine erhebliche Rückkehrgefahr, so dass Flüchtlingsschutz zu gewähren ist.

Schlagwörter: Iran, Konvertiten, Konversion, Christen, Islam, christlicher Glaube, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe,
Normen: AsylVfG § 28 Abs. 1 a, AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[…]

Nach Überzeugung des Gerichts besteht für die Klägerin auf Grund ihrer Konversion vom Islam zum Christentum eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in den Iran.

Denn aufgrund der aktuellen Lage, welche sich aus den in den Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln ergibt, besteht im Iran für christliche Konvertiten, die ihren Glauben in Gemeinschaft mit anderen ausüben, die beachtliche Gefahr von Verfolgungshandlungen. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Gerichts (vgl. im Einzelnen VG Würzburg, U.v. 11.07.2012, Az.: W 6 K 11.30392) sowie verschiedener Obergerichte (vgl. OVG Saarland, U.v. 26.06.2007, Az.: 1 A 222/07, InfAuslR 2008, 183; BayVGH, U.v. 23.10.2007, Az.: 14 B 06.30315, DÖV 2008, 164; SächsOVG, U.v. 03.04.2008, Az.: A 2 B 36/06; OVG Nordrhein-Westfalen, U.v. 30.07.2009, Az.: 5 A 982/07.A, EzAR-NF 62 Nr. 19; HessVGH, U.v. 18.11.2009, Az.: 6 A 2105/08.A, ESVGH 60, 248 - jeweils mit weiteren Nachweisen; kritischer OVG Nordrhein-Westfalen, U.v. 09.06.2011, Az.: 13 A 947/10.A, DVBI. 2011, 1166 in einem gesondert gelagerten Einzelfall) unterliegen iranische Staatsangehörige, die vom Islam zum Christentum konvertiert sind, bereits dann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung i.S. des Art. 9 der Qualifikationsrichtlinie, wenn sie im Iran lediglich ihren Glauben ausüben und an öffentlichen Riten teilnehmen. Insgesamt betrachtet ist eine religiöse Betätigung von muslimischen Konvertiten, die einer evangelikalen oder freikirchlichen Gruppierung angehören, im Iran selbst im häuslich-privaten oder nachbarschaftlich kommunikativen Bereich nicht mehr gefahrlos möglich (vgl. HessVGH, U.v. 18.11.2009, Az.: 6 A 2105/08 A, ESVGH 60, 248; B.v. 23.02.2010, Az.: 6 A 2067/08.A, Entscheiderbrief 10/2010, 3).

Aufgrund des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung besteht nach Überzeugung des Gerichts für die Klägerin eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in den Iran, da die Klägerin aufgrund einer tiefen inneren Glaubensüberzeugung lebensgeschichtlich nachvollziehbar den christlichen Glauben angenommen hat. Das Gericht ist weiterhin davon überzeugt, dass die Klägerin aufgrund ihrer persönlichen religiösen Prägung das unbedingte Bedürfnis hat, ihren Glauben in Gemeinschaft mit anderen Gläubigen auszuüben, und dass sie ihn auch tatsächlich ausübt. Das Gericht hat nach der Anhörung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung nicht den Eindruck, dass sich die Klägerin bezogen auf den entscheidungserheblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) nur vorgeschoben aus opportunistischen, asyltaktischen Gründen dem Christentum zugewandt hat. Die Würdigung der Angaben der Klägerin zu ihrer Konversion ist ureigene Aufgabe des Gerichts (OVG Nordrhein-Westfalen, B.v. 30.01.2012, Az.: 13 A 589/11.A. Entscheiderbrief 4/2012, 5 und B.v. 10.04.2012, Az.: 13 A 796/12.A; vgl. auch VG Magdeburg, U.v. 19.12.2011, Az.: 5 A 12/10 MD, Entscheiderbrief 2/2012, 5).

Das Gericht ist nach informatorischer Anhörung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung sowie aufgrund der schriftlich vorgelegten Unterlagen davon überzeugt, dass diese ernsthaft vom Islam zum Christentum konvertiert ist. So legte die Klägerin ein persönliches Bekenntnis zum Christentum ab. Die Klägerin schilderte weiter nachvollziehbar und ohne Widersprüche glaubhaft ihren Weg vom Islam zum Christentum, Inhalte des christlichen Glaubens und ihre christlichen Aktivitäten. Die Schilderungen der Klägerin sind plausibel und in sich schlüssig. Die Klägerin legte verschiedene Unterlagen vor. In diesen Unterlagen werden die Taufe der Klägerin, ihre Konversion zum Christentum sowie ihre christlichen Aktivitäten bestätigt.

Die Klägerin hat glaubhaft ihren Weg vom Islam zum Christentum dargetan. […]

Die Klägerin verdeutlichte in der mündlichen Verhandlung plausibel ihre Beweggründe für die Abkehr vom Islam und die Hinwendung zum Christentum. In dem Zusammenhang schilderte sie nicht nur ihre inneren Zweifel und Kämpfe, sondern legte - in ihren Worten - auch zentrale Elemente des christlichen Glaubens als für sie wichtig dar. […]

Die Klägerin offenbarte weiter konkrete wesentliche Glaubensinhalte und Glaubenskenntnisse, die ihre Glaubensentscheidung und ihren Gewissensschritt zusätzlich belegen. Sie nannte in dem Zusammenhang die christlichen Feiertage, Gebete sowie auch Gebote und nicht zuletzt Stellen aus der Bibel.

Besonders zu erwähnen ist der Umstand, dass die Klägerin ihren Glauben nicht nur öffentlich und nach außen hin lebt, sondern dass sie sich auch in der Öffentlichkeit für ihren Glauben engagiert und andere missioniert. So hat sie nicht nur Verwandte und Freunde zum christlichen Glauben bewegt, sondern ist auch im Internet aktiv, wie sie glaubhaft mit Verweis auf entsprechende Seiten belegte. Sie habe einen Weblog und sei bei Facebook. In ihrem Weblog bringe sie zum einen Bibelzitate, lade Videoclips hoch und bringe Nachrichten über Minderheiten im Iran. Bei ihrem Internetauftritt sei sie auch namentlich genannt. […]

Des Weiteren brachte die Klägerin einleuchtend vor, sie wolle auf keinen Fall zum Islam zurückkehren. Sie habe schlechte Erinnerungen; der Gedanke sei schrecklich. Sie habe jetzt ihre Ruhe gefunden. Bei einer Rückkehr in den Iran sei sie in Gefahr, weil ihre Konversion dort bekannt sei, und zwar sowohl innerhalb der Familie als auch über ihre Internetaktivitäten.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das gesamte Verhalten der Klägerin vor und nach ihrer Ausreise im Zusammenhang mit der Konversion zum Christentum sowie die von ihr vorgetragenen Glaubensinhalte und Glaubenskenntnisse über die christliche Religion - auch in Abgrenzung zum Islam - eine ehrliche Konversion glaubhaft machen und erwarten lassen, dass die Klägerin bei einer angenommenen Rückkehr in ihre Heimat ihrer neu gewonnenen Religion entsprechend leben würde. Die Klägerin hat lebensgeschichtlich nachvollziehbar ihre Motive für die Abkehr vom Islam und ihre Hinwendung zum christlichen Glauben dargestellt. Sie hat ihre Konversion anhand der von ihr gezeigten Glaubenskenntnisse über das Christentum und durch ihre Glaubensbetätigung gerade auch in Bezug zur Öffentlichkeit nachhaltig und glaubhaft vorgetragen. Der Eindruck einer ernsthaften Konversion wird dadurch verstärkt, dass die Klägerin missionarische Aktivitäten entwickelt, indem sie bei den anderen für den christlichen Glauben wirbt. Dies gilt insbesondere für ihr Engagement im Internet sowie durch die Veröffentlichung und Verteilung ihres Buches. Weiter ist nicht davon auszugehen, dass die Klägerin bei einer theoretischen Rückkehr in den Iran ihre Konversion verheimlichen würde. Abgesehen davon spricht Vieles dafür, dass einem Gläubigen von den deutschen Behörden bzw. Gerichten nicht zugemutet werden kann, bei einer Rückkehr in den Iran von seiner religiösen Betätigung Abstand zu nehmen, um nicht verfolgt zu werden (so Generalanwalt Bot, Schlussantrag vom 19.04.2012, EuGH, Az.: C-71/11 und C-99/11). Die Klägerin hat insgesamt durch ihr Auftreten in der mündlichen Verhandlung und durch die Darlegung ihrer Beweggründe nicht den Eindruck hinterlassen, dass sie nur aus opportunistischen und asyltaktischen Gründen motiviert dem christlichen Glauben nähergetreten ist, sondern auf Grund einer ernsthaften Gewissensentscheidung und aus einer tiefen Überzeugung heraus den religiösen Einstellungswandel vollzogen hat. Dieser Eindruck erhärtet sich durch das schriftliche Vorbringen sowie die vorgelegten Unterlagen und wird zusätzlich durch die Aussagen ihrer beiden Beistände in der mündlichen Verhandlung bekräftigt.

Nach § 28 Abs. 1 a AsylVfG kann sich ein Kläger bzw. eine Klägerin bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG auch auf Umstände stützen, die nach Verlassen seines Herkunftslandes entstanden sind. Dies gilt gerade, wenn wie vorliegend eine Iranerin ihre religiöse Überzeugung aufgrund ernsthafter Erwägungen wechselt und nach gewissenhafter Prüfung vom Islam zum Christentum übertritt (Bergmann in Renner, AuslR, 9. Aufl. 2011, § 28 AsylVfG, Rd.Nr. 17). Hinzu kommt, dass sich die Situation für Konvertiten im Iran im Laufe der letzten Jahre verschärft hat, so dass eine gestiegene Verfolgungsgefahr auch auf Gründen beruht, die unabhängig vom Verhalten der Klägerin sind.

Nach alledem war der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen und der angefochtene Bundesamtsbescheid insoweit in seinen Nrn. 2 bis 4 aufzuheben. Über die hilfsweise gestellten Anträge zum subsidiären Abschiebungsschutz (§ 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG) war nicht zu entscheiden (§ 31 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG). […]