BlueSky

VG Gelsenkirchen

Merkliste
Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 25.07.2012 - 15a L 668/12.A - asyl.net: M20020
https://www.asyl.net/rsdb/M20020
Leitsatz:

Die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist bei einer Rückführung im Rahmen der Dublin II-VO gerechtfertigt, da nicht mit der nötigen Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass der Betroffenen im Zielstaat Italien unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Stellungnahme des UNHCR vom 24. April 2012, wonach in Italien in den letzten Jahren Verbesserungen des Aufnahmesystems stattgefunden hätten.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Überstellung, unmenschliche Behandlung, erniedrigende Behandlung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Italien, Ansturm von Flüchtlingen, UNHCR, Aufnahmebedingungen,
Normen: AsylVfG § 34a Abs. 2, AsylVfG § 26a,
Auszüge:

[...]

Der Antrag der Antragstellerin, die aufschiebende Wirkung ihrer Klage 15a K 2592/12.A gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid des Bundesamtes vom 21. Mai 2012 anzuordnen, ist entgegen der Regelung in § 34 a Abs. 2 AsylVfG, wonach die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat (§ 26 a AsylVfG) nicht nach § 80 VwGO oder § 123 VwGO ausgesetzt werden darf, zulässig.

Zwar ist zunächst entgegen dem Vorbringen der Antragstellerin im vorliegenden summarischen Verfahren davon auszugehen, dass sie aus Italien als einem sicheren Drittstaat nach § 26 a Abs. 1 und 2 AsylVfG eingereist ist. Ihre Aussage, nach ihrem Aufenthalt in Italien Ende 2009 in den Sudan zurückgekehrt und am 6. Dezember 2010 von dort mit dem Flugzeug über Ägypten und Frankfurt am Main nach Deutschland eingereist zu sein, wertet die Kammer als unglaubhafte verfahrensangepasste Schutzbehauptung. Weder hat die Antragstellerin trotz entsprechender Aufforderung durch das Gericht im Einzelnen geschildert, wann um wie sie in den Sudan zurückgekehrt sein will und wie sich ihr dortiger einjähriger Aufenthalt gestaltet hat, noch wie sie die notwendigen finanziellen Mittel für eine erneute Reise nach Deutschland aufgebracht haben will.

Die Vorschrift des § 34 a AsylVfG findet ihre verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 16 a Abs. 2 Satz 3 GG (vgl. BVerfG Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938, 2315/93 - , BVerfGE 94, 49 (84 ff)).

Wie das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung bereits entschieden hat, bedarf die Regelung allerdings einer sinnentsprechenden restriktiven Auslegung. Danach kann die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes trotz der Ausschlussregelung in § 34 a Abs. 2 AsylVfG in gewissen Sonderfällen gleichwohl statthaft und geboten sein, etwa wenn sich die für die Qualifizierung als "sicher" maßgeblichen Verhältnisse im Drittland schlagartig geändert haben und die gebotene Reaktion der Bundesregierung nach § 26 a Abs. 3 AsylVfG hierauf noch aussteht, wenn der Drittstaat selbst gegen den Schutzsuchenden zu Maßnahmen politischer Verfolgung oder unmenschlicher Behandlung (Art. 3 EMRK) greift und dadurch zum Verfolgerstaat wird oder wenn sich der Drittstaat - etwa aus Gründen besonderer politischer Rücksichtnahme gegenüber dem Herkunftsstaat - von seinen rechtlichen Verpflichtungen löst und einem bestimmten Ausländer Schutz dadurch verweigert, dass er sich seiner ohne jede Prüfung des Schutzgesuchs entledigen wird (vgl. auch OVG NRW, Beschlüsse vom 07. Oktober 2009 - 8 B 1433/09.A - und vom 31. August 2009 - 9 B 1198/09.A -, jeweils in juris).

In diesen Fällen hat die Antragsgegnerin Schutz zu gewähren, weil Abschiebungshindernisse durch bestimmte Umstände begründet werden, die ihrer Eigenart nach nicht vorweg im Rahmen des Konzepts normativer Vergewisserung von Verfassung oder Gesetz berücksichtigt werden können und damit von vornherein außerhalb der Grenzen liegen, die der Durchführung eines solchen Konzepts aus sicher heraus gesetzt sind. Neben diesen vom Bundesverfassungsgericht in der vorzitierten Entscheidung ausdrücklich angeführten Sonderfällen erfordert die normative Konzeption des sicheren Drittstaates, dass in dem jeweiligen Drittstaat die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EuGrdRCh) und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sicher gestellt ist. Danach liegt ein weiterer Sonderfall vor, wenn in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft eine ständige Verletzung der Kernanforderungen des Europäischen Asylrechts, wie sie in den Richtlinien 2005/85/EG (Richtlinie über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft vom 01. Dezember 2005) und 2003/9/EG (Richtlinie zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten vom 27. Januar 2003) Niederschlag gefunden haben, stattfindet und dadurch die Menschenwürde, das Leben und die körperliche Unversehrtheit des Flüchtlings beeinträchtigt wird. So ist die Überstellung eines Asylbewerbers in einen an sich zuständigen Mitgliedstaat mit Art. 4 EuGrdRCh unvereinbar, wenn systematische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in dem zuständigen Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH Urteil vom 21. Dezember 2011 - C - 411/10 -, juris).

Ist die Schutzgewährung entsprechend den europa- und völkerrechtlichen Regelungen nicht im Kern sichergestellt, ist diese Situation von vergleichbarem Gewicht, wie der vom Bundesverfassungsgericht angeführte Sonderfall, dass sich die für die Qualifizierung als sicher maßgeblichen Verhältnisse im Drittstaat schlagartig verändert haben und die Reaktion der Bundesregierung noch aussteht.

Nach den für ein Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes geltenden Maßstäben der summarischen Prüfung hält die Kammer das Vorliegen eines derartigen Ausnahmefalls, was die Beurteilung der Verhältnisse in Italien betrifft, in einem Grad für ernstlich wahrscheinlich, welcher die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes im Ergebnis rechtfertigt. Es kann nicht mit der nötigen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Antragstellerin im Zielstaat Italien unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen drohen. Die Sicherung des Existenzminimums erscheint nicht gewährleistet. So waren die in Italien herrschenden Zustände für Asylbewerber bereits vor Beginn der Unruhen in der arabischen Welt im Februar 2011 einer erheblichen Kritik unterzogen. Insbesondere der Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe über "Asylverfahren und Aufnahmebedingungen in Italien" aus Mai 2011 verdeutlichte, dass der Lebensunterhalt einschließlich der Unterbringung von Asylbewerbern wie auch deren medizinische Versorgung in vielen Gegenden nicht ausreichend gewährleistet ist. So werden dort zahlreiche Fälle von Obdachlosigkeit und fehlender existenzieller Versorgung aufgrund der vor allem die Aufnahmekapazitäten der Unterbringungseinrichtungen überschreitenden Anzahl der Asylbewerber geschildert. Das führe dazu, dass zahlreiche Asylbewerber ohne jegliche Unterstützung auf der Straße lebten. Diese Einschätzung der Lage in Italien wird geteilt von weiteren übereinstimmenden Berichten von Nichtregierungsorganisationen (vgl. hinsichtlich der umfassenden Wiedergabe des Berichts der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und der weiteren Berichte VG Freiburg, Beschluss vom 02. Februar 2012 - A 4 K 2203/11 -, juris).

Durch den Ansturm von Flüchtlingen, die von der Nordafrikanischen Küste im Laufe des Jahres 2011 Italien erreicht haben, hat sich deren Lage in Italien noch weiter verschärft. Dies gilt insbesondere hinsichtlich des Mangels an Unterkünften und damit einhergehenden Fehlens der Sicherung elementarer Lebensbedürfnisse. So hätten nach Angaben des UNHCR (http://www.unhcr.de/home/artikel/042d9651d6d525aad46e97d7ee7848db / hunderte -neuankoemmlinge-aus-libyen-und-tunesien-initalien. html?L=0) im Jahre 2011 bis Mitte August 52.000 Menschen im Zuge der Nordafrikanischen Flüchtlingskriese Italien erreicht. Zwar bescheinigt der UNHCR in seiner Stellungnahme vom 24. April 2012 gegenüber dem Verwaltungsgericht Braunschweig (7 A 57/11), dass in Italien in den letzten Jahren Verbesserungen des Aufnahmesystems stattgefunden hätten. So seien die Aufnahmeeinrichtungen in der Lage, dem Aufnahmebedarf einer signifikanten Anzahl an Asylsuchenden nachzukommen. Jedoch dürfte die Kapazitätsgrenze für die Unterbringung von Asylsuchenden im Durchschnitt bei ca. 5.000 Personen liegen. Obwohl die meisten Drittstaatsangehörigen in Italien keinen größeren Schwierigkeiten begegnen würden, Internationalen Schutz zu beantragen, bestünden in einigen Fällen Bedenken hinsichtlich des Zugangs zum Asylverfahren. So sei zwar die Unterkunft, Ernährung und medizinische Versorgung von Asylsuchenden in Italien sichergestellt, wenn ein formaler Antrag gestellt und der Zeitraum von sechs Monaten Verfahrensdauer nicht überschritten werde. Diese Einschätzung gelte jedoch nur, soweit die aktuellen Zahlen der Asylbewerber die Kapazitäten nicht übersteigen würden. Ob dies nach dem Ansturm im Jahre 2011 zum Zeitpunkt der Stellungnahme des UNHCR im April 2012 der Fall war oder die Kapazitäten der Aufnahmeeinrichtungen wie im Jahr 2011 bei weitem nicht ausreichen, wird dort nicht weiter ausgeführt. Im Hinblick darauf, dass schon bis Anfang 2011 Italien Schwierigkeiten hinsichtlich der zeitgerechten Bearbeitung der Asylgesuche innerhalb von sechs Monaten und der Unterbringung der Asylbewerber hatte, ist wenig wahrscheinlich, dass dies zum gegenwärtigen Zeitpunkt gewährleistet ist. Danach ist weiterhin zu befürchten, dass sich zahlreiche Asylbewerber in Italien obdachlos ohne weitere Unterstützung auf der Straße und damit in einer menschenunwürdigen, existenzbedrohenden Situation befinden. Eine genauere und abschließende, dabei tatsächliche Feststellungen und die Bewertung von bestimmten Erkenntnissen verknüpfende Prüfung der Frage, ob bzw. inwieweit das Konzept der normativen Versicherung in Italien generell noch greift, muss jedoch letztlich der Endentscheidung im zugehörigen Klageverfahren vorbehalten werden (so auch OVG NRW, Beschluss vom 01 März 2012 - 1 B 234/12.A -, juris).

Grade der Umstand, dass es hinsichtlich der Würdigung der Verhältnisse in Italien gemessen an dem gemeinschaftsrechtlich allgemein vorgegebenen Schutzniveau zahlreiche erstinstanzliche Entscheidungen mit unterschiedlichen Ergebnissen gibt (vgl. insoweit die Zusammenstellung im Beschluss des VG Bremen vom 24. Januar 2012 - 6 V 1549/11.A -, juris), verdeutlicht die bestehende Schwierigkeit einer eindeutigen Bewertung und damit die Notwendigkeit einer besonders gründlichen tatsächlichen und rechtlichen Prüfung, die nur im Hauptsacheverfahren erfolgen kann. [...]