FG Hamburg

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Zitieren als:
FG Hamburg, Gerichtsbescheid vom 10.05.2012 - 1 K 19/11 - asyl.net: M20022
https://www.asyl.net/rsdb/M20022
Leitsatz:

Besteht nach den Rechtsvorschriften mehrerer EU-Mitgliedstaaten nur ein Kindergeldanspruch einer Person, so kann ein Anspruch auf Kindergeld anderer Personen bzw. ein Anspruch auf Auszahlung des Kindergeldes an andere Personen nicht aufgrund europäischer Vorschriften fingiert werden.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: polnische Staatsangehörige, freizügigkeitsberechtigt, Kindergeld, polnische Familienleistungen, Wohnsitz, Polen, Kindergeldanspruch, Unterhaltspflicht, gesetzliche Unterhaltspflicht, Polen,
Normen: EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1, BKGG § 1, EStG § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, EStG § 32 Abs. 1 Nr. 1, EStG § 64, EStG § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, VO 883/2004 Art. 68 Abs. 1 Bst. b, VO 883/2004 Art. 68 Abs. 1 Bst. a, EStG § 74 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

II. Das Gericht legt die Klage in der Weise aus, dass der Kläger im Ergebnis begehrt, das Kindergeld für die beiden Kinder A und B zu seinen Gunsten festzusetzen und das festzusetzende Kindergeld an die Beigeladene weiterhin abzuzweigen. Nach diesem Begehren ist der Antrag des Klägers in der Weise zu fassen, den angefochtenen Bescheid vom ... 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom ... 2011 aufzuheben und das Kindergeld weiterhin an die Beigeladene auszuzahlen, da mit einem solchen Antrag die vorherige Rechtslage hergestellt wird, wonach Kindergeld für die beiden Kinder A und B festgesetzt war und an die Beigeladene ausgezahlt wurde.

Diese Auslegung ergibt sich aus dem Inhalt des angefochtenen Bescheides vom ... 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom ... 2011 und dem im Klageverfahren geäußerten Ziel des Klägers. Dem Begehren des Klägers entspricht es, sowohl über die Festsetzung des Kindergeldes und im Fall seiner Kindergeldberechtigung zugleich über die Frage der Abzweigung zu entscheiden. Zwar wäre in einem

Verfahren über die Frage, ob der Kläger allein kindergeldberechtigt ist, die Beigeladene nicht notwendig beizuladen (vgl. Bundesfinanzhof - BFH-, Urteil vom 16.12.2003 VIII R 67/00, Sammlung der Entscheidungen des BFH - BFH/NV - 2004, 934 mit weiteren Nachweisen - m. w. N. -). Allerdings würde dies dem Begehren des Klägers nicht gerecht, da der Kläger im Ergebnis die Auszahlung des für ihn festzusetzenden Kindergeldes an die Beigeladene begehrt, so wie es der Rechtslage vor Erlass des angefochtenen Bescheides entsprach. Für diese Auslegung sprechen im Übrigen auch prozessökonomische Gesichtspunkte.

III. Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid vom ... 2010 über die Aufhebung der Festsetzung des Kindergeldes für die Kinder A und B ab September 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom ... 2011 ist aufzuheben, da er rechtswidrig ist und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Mit der Aufhebung des angefochtenen Bescheides wird das Kindergeld für die Kinder A und B weiterhin ab September 2010 festgesetzt. Das Kindergeld ist weiterhin an die Beigeladene auszuzahlen.

1. Der Bescheid vom ... 2010 über die Aufhebung der Festsetzung des Kindergeldes für die Kinder A und B ab September 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom ... 2011 ist rechtswidrig. Kindergeld für die Kinder A und B ist ab September 2010 für den Kläger als Kindergeldberechtigten festzusetzen.

a) Der Kläger ist gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG anspruchsberechtigt, da er als freizügigkeitsberechtigter Ausländer (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet - Aufenthaltsgesetz - AufenthG -, § 2 Abs. 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern - Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU -) seinen Wohnsitz im Inland hat. Die Beigeladene ist nicht gemäß § 62 Abs. 1 EStG anspruchsberechtigt, da sie im Inland keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat.

Eine Berechtigung der Beigeladenen auf Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG) ist nicht ersichtlich, da die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 BKGG nicht vorliegen.

b) Die Kinder A und B sind gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG zu berücksichtigen. Dass die Kinder ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in Polen haben, steht nach § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG ihrer Berücksichtigung nicht entgegen. A ist gemäß § 63 Abs. 1 Satz 2, § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a bzw. b EStG zu berücksichtigen, da sie sich im September 2010 in einer Übergangszeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten befand und seit Oktober 2010 an der Universität für einen Beruf ausgebildet wird. Die Einkünfte und Bezüge von A lagen in den Kalenderjahren 2010 und 2011 unter dem Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG.

c) § 64 Abs. 2 EStG ist nicht anzuwenden, da diese Vorschrift voraussetzt, dass mehrere Personen nach deutschem Recht berechtigt sind (ebenso Niedersächsisches Finanzgericht - FG -, Urteil vom 15.12.2011, 3 K 155/11, juris; FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 14.12.2011, 2 K 2085/10, juris; FG München, Urteil vom 27.10.2011, 5 K 3245/10, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 2012, 256 m. w. N., Revisionsaktenzeichen: V R 46/11).

d) Der Anspruch des Klägers auf Kindergeld ist nicht gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen. Es besteht kein Anspruch auf polnische Familienleistungen für die Kinder A und B bzw. ist ein etwaiger Anspruch des Klägers auf polnische Familienleistungen für die beiden Kinder A und B nachrangig.

aa) Die Beigeladene hat keinen Anspruch auf polnische Familienleistungen. Dass die Beigeladene keinen Anspruch auf polnische Familienleistungen hat, ergibt sich aus dem polnischen Gesetz über Familienleistungen (Gesetz vom 30.12.2003, polnisches Gesetzblatt von 2006 Nr. 139, Pos. 992 mit späteren Änderungen). Gemäß Art. 5.1 des Gesetzes wird das polnische Kindergeld bewilligt, wenn das Familieneinkommen pro Familienmitglied oder das Einkommen der Person in der Ausbildung den Betrag von 504 PLN (ca. 122 €) nicht übersteigt (vergleiche auch Bundeszentralamt für Steuern - BZSt -, Schreiben vom 07.12.2011, Bundessteuerblatt Teil I - BStBl I 2012, 18). Die zuständige polnische Behörde hat auf dem Vordruck E 411 (gemäß Beschluss Nr. 201 der Verwaltungskommission der Europäischen Gemeinschaften für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer - Verwaltungskommission - vom 15.12.2004, Amtsblatt der Europäischen Union [früher: Gemeinschaften] - Abl. - L 129 vom 23.05.2005, S. 1 ff.) bestätigt, dass der Beigeladenen wegen Überschreitens der Einkommensgrenzen keine polnischen Familienleistungen gewährt werden. Eine andere Beurteilung ergibt sich nicht daraus, dass die zuständige polnische Behörde später mitteilte, dass die Beigeladene ab September 2010 keinen Antrag auf polnische Familienleistungen gestellt habe. An den finanziellen Verhältnissen der Beigeladenen hat sich im Streitzeitraum nichts geändert, da die Beigeladene schon zum Zeitpunkt der ersten Auskunft bei ihrem polnischen Arbeitgeber vollzeitbeschäftigt war und dies blieb.

bb) Der Kläger hat selbst keinen Anspruch auf polnische Familienleistungen bzw. ist ein etwaiger Anspruch nach europäischen Vorschriften, die § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG vorgehen, nachrangig.

Ein Anspruch des Klägers auf polnische Familienleistungen ist nicht gegeben, da der Kläger keinen Wohnsitz in Polen hat (vgl. zu dieser Voraussetzung BZSt-Schreiben vom 07.12.2011, BStBl I 2012, 18).

Selbst wenn ein Anspruch des Klägers auf polnische Familienleistungen bestehen sollte, wäre dieser Anspruch nachrangig.

Gemäß Art. 68 Abs. 1 Buchstabe a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 (im Folgenden: EG-VO 883/2004, Abl. L 166 vom 30.04.2004, S. 1 ff.), der der Regelung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG vorgeht, sind im Streitfall letztlich die durch den Wohnort des Klägers, hier in Deutschland, ausgelösten Ansprüche zu berücksichtigen.

Die seit dem 01.05.2010 geltende EG-VO 883/2004 (Art. 91 Satz 2 EG-VO 883/2004 in Verbindung mit - i. V. m. - Art. 97 Satz 2 der Verordnung [EG] Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 - im Folgenden: EG-DVO 987/2009 -, Abl. L 284 vom 30.10.2009, S. 1 ff.) ist auf den Kläger anwendbar, da für den Kläger gemäß Art. 87 Abs. 8 Satz 1 EG-VO 883/2004 infolge der EG-VO 883/2004 nicht die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates als desjenigen gelten, der durch Titel II der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14.06.1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (im Folgenden: EWG-VO 1408/71, Abl. L 149 vom 05.07.1971, S. 2, zuletzt geändert durch die Verordnung [EG] Nr. 592/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.06.2008, Abl. L 177 vom 04.07.2008, S. 1) bestimmt wird. Danach galten für den Kläger die deutschen Rechtsvorschriften (Art. 13 Abs. 2 Buchstabe a EWG-VO 1408/71), wie dies auch nach Art. 2 Abs. 1, Art. 11 Abs. 3 Buchstabe a (bis 31.05.2010) bzw. Buchstabe e (ab 01.06.2010) EG-VO 883/2004 der Fall ist.

Sofern allein ein Anspruch des Klägers auf polnische Familienleistungen aufgrund seiner Staatsangehörigkeit bestehen sollte, ist dieses Kriterium zur Bestimmung der Rangfolge von Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten nicht von Bedeutung.

Art. 68 Abs. 1 Buchstabe b EG-VO 883/2004 ist nicht einschlägig, da nicht Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus denselben Gründen zu gewähren sind. [...]