OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29.08.2012 - 6 S 34.12; 6 M 142.12 - asyl.net: M20040
https://www.asyl.net/rsdb/M20040
Leitsatz:

Zur Frage der Altersdiagnostik für die Inanspruchnahme von Jugendhilfeleistungen.

Schlagwörter: Inobhutnahme, Rücknahme der Inobhutnahme, Altersgutachten, Ossifikationsstadium, Altersdiagnose, minderjährig, unbegleitete Minderjährige, Zahnstatus, sexuelle Reife, Haager Minderjährigenschutz, Jugendhilfe, Jugendhilfeleistungen, Beendigung der Inobhutnahme,
Normen: SGB X § 45 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

1. Nach dem im Beschwerdeverfahren maßgebenden Prüfungsstoff (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) hat das Verwaltungsgericht den Antrag des Antragstellers auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage VG 18 K 113.12 gegen den Bescheid der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft vom 20. April 2012, dessen sofortige Vollziehung am 6. Juli 2012 angeordnet wurde, zu Recht abgelehnt. Gegenstand des Bescheides ist die Rücknahme der auf der Grundlage von § 42 SGB VIII erfolgten Inobhutnahme des nach eigenen Angaben aus Benin stammenden, am 19. September 1996 geborenen Antragstellers nach § 45 SGB X, weil dieser nach Ansicht des Antragsgegners das 18. Lebensjahr bereits vollendet hat.

Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, dass das öffentliche Vollzugsinteresse überwiege, denn die Rücknahme der Inobhutnahme stelle sich als rechtmäßig dar. Nach dem vorliegenden Altersgutachten sei davon auszugehen, dass der Antragsteller das 18. Lebensjahr mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bereits vollendet habe.

Dieser Auffassung schließt sich der Senat an. Ausweislich des Altersgutachtens des Privatdozenten Dr. S... vom 18. Juni 2012 hatte der Antragsteller im Zeitpunkt der Untersuchung ein absolutes Mindestalter von 19 Jahren. Dieses Gutachten ist in sich schlüssig und nachvollziehbar. Darin wird u.a. ausgeführt, dass die MRT-Untersuchung der Schlüsselbeine des Antragstellers beiderseits eine vollständige Fusion der ehemaligen brustbeinnahen Wachstumsfuge des Schlüsselbeins (Ossifikationsstadium IV) gezeigt hätte. Bereits dieser Umstand lässt für sich genommen mit Sicherheit auf die Vollendung des 18. und 19. Lebensjahres schließen. Nach den Angaben des vom Senat in den vergleichbar gelagerten Fällen - OVG 6 S 48.10, 50.10, 51.10, 56.10, 57.10 und 58.10 - anlässlich eines Erörterungstermins am 27. Januar 2011 gehörten Sachverständigen Prof. Dr. S..., deren Ergebnis der Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers aus anderen Verfahren bekannt ist, kann bei der Untersuchung des Schlüsselbeins davon ausgegangen werden, dass bei der Feststellung des Abschlusses seiner Entwicklung ein absolutes Mindestalter von 19 bis 21 Jahren vorliegt (Seite 3 des Sitzungsprotokolls). Diese Angaben hat der Sachverständige im Laufe der Sitzung bekräftigt (siehe Seite 4 des Sitzungsprotokolls). Gestützt wird dieser Befund weiter durch den Umstand, dass ausweislich des zahnmedizinischen Teilgutachtens des Privatdozenten Dr. O... vom 19. Mai 2012 bei dem Antragsteller alle vier Weisheitszähne die Kauebene erreicht haben. In dem Erörterungstermin vom 27. Januar 2011 hat der Sachverständige Prof. Dr. S... ausdrücklich bestätigt, dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass Schwarzafrikaner, deren Weisheitszähne die Kauebene erreicht haben, bereits das 18. Lebensjahr vollendet haben (Seite 4 des Sitzungsprotokolls). Schließlich hat auch die körperliche Untersuchung des Antragstellers ergeben, dass bei ihm die sexuellen Reifezeichen voll ausgebildet sind und körperliche Statur und Behaarungstyp denen eines Erwachsenen entsprechen (vgl. Teilgutachten des D... vom 25. Mai 2012). Damit sind die für eine Altersdiagnostik üblichen (vgl. Angabe des Prof. Dr. S... auf Seite 2 des Sitzungsprotokolls vom 27. Januar 2011) Untersuchungen durchgeführt worden. Anlass, an der Richtigkeit ihrer Ergebnisse zu zweifeln besteht nicht. Der Vortrag des Antragstellers im Beschwerdeverfahren rechtfertigt keine andere Einschätzung.

Soweit er geltend macht, das Verwaltungsgericht habe sich nicht auf eine summarische Prüfung beschränken dürfen, sondern eine eingehendere Prüfung der Sach- und Rechtslage durchführen müssen, verkennt er, dass bereits ein vollständiges altersdiagnostisches Gutachten vorliegt und weitere Aufklärungsmaßnahmen auch in einem Hauptsacheverfahren nicht geboten wären. Seine Ausführungen zu Rechtsnormen zum Minderjährigenschutz sind schon deswegen verfehlt, weil er aus den dargelegten Gründen nicht minderjährig ist. Entgegen der Auffassung des Antragstellers ist das Gutachten auch nicht etwa deshalb unvollständig, weil ihm die MRT-Aufnahmen nicht beigefügt sind. Entscheidend sind die Ausführungen in dem Gutachten selbst. Diese sind aus den dargelegten Gründen in sich schlüssig und nachvollziehbar. Anlass, an deren Richtigkeit zu zweifeln, besteht vor diesem Hintergrund nicht. Die gänzlich substanzlose anderslautende Behauptung des Antragstellers rechtfertigt keine andere Einschätzung.

Soweit der Antragsteller bemängelt, die in den Teilgutachten geschätzten Mindestalter von 16,7 bis 17 Jahren und 17 Jahren könnten das Ergebnis der Altersschätzung von 19 Jahren nicht stützen, beruht dies auf einer Verkennung des Erkenntniswerts der einzelnen Teiluntersuchungen. Herr Prof. Dr. S... hat in dem erwähnten Erörterungstermin hierzu ausgeführt, dass es bei der Altersdiagnostik darum geht, durch Untersuchung unterschiedlicher Systeme, die nicht in Korrelation stehen, das Alter zu ermitteln (Seite 2 des Sitzungsprotokolls) und dass diese Untersuchungen unterschiedlich aussagekräftig sind (Seite 3 des Sitzungsprotokolls).

Erfolglos wendet der Antragsteller sich schließlich gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Rücknahme der Inobhutnahme stehe kein Vertrauensschutz des Antragstellers entgegen, weil dieser grob fahrlässig falsche Angaben zu seinem Alter gemacht habe. Der Antragsteller führt hierzu aus, die Registrierung von Geburten in Afrika werde nicht mit der vergleichbaren Verlässlichkeit wie in Deutschland durchgeführt. Es sei nicht auszuschließen, dass seine Angaben nur deshalb unrichtig waren, weil er selbst aufgrund von falschen Informationen, die er von Verwandten haben könne, ein jüngeres Alter angenommen habe. Dieses unsubstanziierte Vorbringen weckt keine Zweifel an der Einschätzung des Verwaltungsgerichts. Eine Würdigung der Gesamtumstände legt vielmehr die Annahme nahe, dass der Antragsteller absichtlich ein Alter angegeben hat, das ihn als Minderjährigen ausweist, um so in den Genuss von Jugendhilfeleistungen zu kommen.

Unbeschadet dessen wäre die Beendigung der Inobhutnahme aber auch dann nicht fehlerhaft, wenn der Antragsteller tatsächlich selbst geglaubt hätte, jünger zu sein und ihm der Vorwurf grob fahrlässiger Falschangaben nicht gemacht werden könnte. Auch dann hätte er nicht darauf vertrauen dürfen, in der Obhut des Antragsgegners zu verbleiben, zumal er erst am 19. April 2012, also erst einen Tag vor der Beendigung der Inobhutnahme am 20. April 2012, in Obhut genommen worden war und der Antragsgegner unmittelbar nach der Inobhutnahme Maßnahmen zur Überprüfung seiner Altersangaben ergriff. Aus diesem Grund sind auch keine Gesichtspunkte ersichtlich, die es im Rahmen der Ermessensausübung nach § 45 Abs. 1 SGB X hätten rechtfertigen können, den eindeutig nicht minderjährigen Antragsteller weiter in der Obhut des Antragsgegners zu belassen. Vielmehr ist angesichts dieser Umstände davon auszugehen, dass die Beendigung der Inobhutnahme die einzig rechtmäßige Ausübung des Ermessens darstellte. [...]