LG Braunschweig

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Zitieren als:
LG Braunschweig, Beschluss vom 12.04.2012 - 3 T 683/09 (019) - asyl.net: M20046
https://www.asyl.net/rsdb/M20046
Leitsatz:

Haft gegen einen taubstummen Betroffenen darf nur dann angeordnet werden, wenn ein der "Muttersprache" mächtiger Gebärdendolmetscher hinzugezogen wird.

Schlagwörter: Amtsermittlung, Freiheitsentziehung, Abschiebungshaft, gehörlos, taubstaumm, Gebärdendolmetscher, Freiheitsentziehungsverfahren, Sicherungshaft, ordnungsgemäße Anhörung, Anhörung, rechtliches Gehör,
Normen: GG Art. 104 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die sofortige Beschwerde ist auch begründet.

Die Anordnung der Sicherungshaft ist nicht rechtsfehlerfrei, da das Amtsgericht den Betroffenen nicht in der erforderlichen Weise angehört hat.

Die mündliche Anhörung vor der Entscheidung über die Freiheitsentziehung gehört zu den wesentlichen Verfahrensgarantien gemäß Art. 104 Abs. 1 GG und ist Kernstück der Amtsermittlung im Freiheitsentziehungsverfahren (BVerfG, Beschluss v. 27.02.2009 - BvR 538/07, zitiert nach juris). Sie hat den Zweck, dass sich der erkennende Richter einen unmittelbaren Eindruck von dem Betroffenen verschaffen und eigenverantwortlich Tatsachen feststellen kann, die eine Freiheitsentziehung rechtfertigen (Marschner/Volckart/Lesting, Freiheitsentziehung und Unterbringung, 5. Auflage, § 420 FamFG, RN 2).

Diesen Zweck konnte das Anhörungsverfahren vor dem Amtsgericht nicht erfüllen. Ausweislich des Protokolls war eine Verständigung mit dem Betroffenen nicht möglich. Um diese zu gewährleisten, hätte ein der Muttersprache des Betroffenen mächtiger Gebärdendolmetscher hinzugezogen werden müssen. Ob der Betroffene anhand der schriftlichen und zeichnerischen Erklärungen des Sprachendolmetschers überhaupt verstanden hat, worum es bei der Anhörung geht, ist bereits fraglich. Auf jeden Fall war er aber nicht in die Lage versetzt, sich gegenüber dem Gericht artikulieren zu können.

Es kann dahingestellt bleiben, ob möglicherweise ein Eilfall vorgelegen hat, der ausnahmsweise eine erst nachträgliche Anhörung hätte rechtfertigen können. Denn auch dann hätte das Gericht den Betroffenen jedenfalls unverzüglich nach der Beschlussfassung ordnungsgemäß anhören müssen. Eine solche Anhörung ist jedoch nicht erfolgt.

Die fehlende ordnungsgemäße Anhörung hat zur Folge, dass die angeordnete Sicherungshaft von vornherein rechtswidrig war (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 14.12.2007 - 16 Wx 250/07). [...]