VerfGH Berlin

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Zitieren als:
VerfGH Berlin, Beschluss vom 20.06.2012 - 127/11, 127 A/11 - asyl.net: M20069
https://www.asyl.net/rsdb/M20069
Leitsatz:

Bei der Ermessenskontrolle bestehen bereits dann rechtliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), wenn ein Ermessensfehler durch die Behörde ernsthaft in Betracht kommt.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Zugang zur Berufung, Berufung, ernstliche Zweifel, typisierende Bestimmungen, Rechtfertigung des Eingriffs, Privat- und Familienleben, Achtung des Privatlebens, Achtung des Familienlebens, Verhältnismäßigkeit, serbische Staatsangehörige, serbische Staatsangehörigkeit, Kosovo, Duldung, Duldungsgrund,
Normen: VvB Art. 15 Abs. 4 S. 1, VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, VwGO § 124a Abs. 4 S. 4, EMRK Art. 8 Abs. 2, AufenthG § 60 Abs. 2 a,
Auszüge:

[...]

2. Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet.

a) Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts verletzt Art. 15 Abs. 4 Satz 1 VvB. Das Gericht hat den Zugang zur Berufung in unzumutbarer Weise erschwert, indem es die Zulassung der Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) mit einer Begründung abgelehnt hat, die die eingeschränkte Prüfungskompetenz im Berufungszulassungsverfahren in unzulässiger Weise überschreitet.

aa) Maßstab für die Überprüfung der Ablehnung einer Zulassung der Berufung gemäß §§ 124, 124a VwGO ist vorrangig das in Art. 15 Abs. 4 Satz 1 VvB enthaltene, mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG inhaltsgleiche Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (vgl. Beschluss vom 29. November 2011 - VerfGH 47/11 - wie alle nachfolgend zitierten Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs unter www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de, Rn. 3). Zwar gewährt Art. 15 Abs. 4 Satz 1 VvB keinen Anspruch auf die Einrichtung eines bestimmten Rechtszuges. Hat der Gesetzgeber jedoch mehrere Instanzen geschaffen, darf der Zugang zu ihnen nicht in unzumutbarer und durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigende Weise erschwert werden (vgl. Beschluss vom 19. Dezember 2006 - VerfGH 45/06 - Rn. 46). Dies bedeutet für die Anwendung des § 124 Abs. 2 VwGO, dass die Anforderungen an die Begründung eines Zulassungsantrages nicht überspannt werden dürfen mit der Folge, dass die Möglichkeit, die Zulassung eines Rechtsmittels zu erstreiten, für den Rechtsmittelführer leer liefe. Dies gilt aber nicht nur hinsichtlich der Anforderungen an die Darlegung der Zulassungsgründe gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO, sondern auch für die Auslegung und Anwendung der Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 VwGO selbst. Mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes unvereinbar ist eine den Zugang zur Berufung und damit in einem nächsten Schritt auch zur Revision erschwerende Auslegung und Anwendung des § 124 Abs. 2 VwGO danach dann, wenn sie sachlich nicht zu rechtfertigen ist, sich damit als objektiv willkürlich erweist und dadurch den Zugang zur nächsten Instanz unzumutbar erschwert (vgl. zum Bundesrecht: zuletzt BVerfG, Beschluss vom 22. August 2011 - 1 BvR 1764/09 -, juris Rn. 30 m.w.N., st. Rspr.).

Lehnt das Berufungsgericht die Zulassung der Berufung bei geltend gemachten ernstlichen Zweifeln gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ab, weil sich das Urteil aus anderen als vom Verwaltungsgericht angestellten Erwägungen im Ergebnis als richtig darstellt, so ist dies grundsätzlich verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (vgl. zum Bundesrecht für den Fall der Auswechslung von Begründungen: BVerfG, Beschluss vom 23. Februar 2011 - 1 BvR 500/07 -, juris Rn. 15 m.w.N.). Es widerspricht aber dem Sinn und Zweck des Zulassungsverfahrens und stellt eine unzumutbare und im Hinblick auf Art. 15 Abs. 4 Satz 1 VvB aus Sachgründen nicht zu rechtfertigende Einschränkung des Zugangs zum Berufungsverfahren dar, wenn das Berufungsgericht das Urteil mit Erwägungen aufrechterhält, die nicht ohne Weiteres auf der Hand liegen und deren Heranziehung deshalb über den mit Blick auf den eingeschränkten Zweck des Zulassungsverfahrens zu leistenden Prüfungsumfang hinausgeht (vgl. zum Bundesrecht: BVerfG, a. a. O., Rn. 16; vgl. auch BVerwG, NVwZ 2004, 542 f.).

bb) So liegt es hier. Das Oberverwaltungsgericht bejaht die Ergebnisrichtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils mit der Begründung, es sei ohne Bedeutung für das rechtliche Schicksal der Ausweisungsverfügung, dass der Beteiligte zu 3 in dem angefochtenen Bescheid keine gesonderten Ermessenserwägungen zu den staatsangehörigkeitsrechtlichen Verhältnissen des Beschwerdeführers angeführt habe. Welche Folgen der spätere Zerfall der Bundesrepublik Jugoslawien, die Bildung einer Republik Kosovo und die Einbürgerung der Eltern des Beschwerdeführers auf dessen staatsangehörigkeitsrechtliche Verhältnisse gehabt hätten, sei "im weiteren Verlauf des Verwaltungsverfahrens" zu klären. Soweit der Beteiligte zu 3 die Integrationschancen für den Kosovo beurteilt habe, lasse sich auch kein Fehler in der Ausübung des ihm zustehenden Ermessensspielraums feststellen. Damit ist das Oberverwaltungsgericht zwar der Auffassung, dass die Behörde im Rahmen ihrer Ermessenserwägungen die Bindungen des Beschwerdeführers an den Kosovo zu prüfen habe, die Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers insoweit aber rechtlich unerheblich sei und auch im Übrigen keinen abwägungserheblichen Belang darstelle.

Diese Erwägungen gehen über die im Berufungszulassungsverfahren eingeschränkten Prüfungskompetenzen des Oberverwaltungsgerichts hinaus. Sowohl die Einbürgerung der Eltern und Geschwister des Beschwerdeführers als auch seine ungeklärte Staatsangehörigkeit sind Umstände, die bei einer einzelfallbezogenen Ermessensausübung im Hinblick auf die verfügte Aufenthaltsbeendigung hätten eingestellt werden müssen. Bei der Ermessenskontrolle durch die Verwaltungsgerichte bestehen bereits dann ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils, wenn ein Ermessensfehler durch die Behörde ernsthaft in Betracht kommt. Dies hat das Oberverwaltungsgericht verkannt.

Geht man wie das Oberverwaltungsgericht, das Verwaltungsgericht und der angegriffene Bescheid davon aus, dass hier nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE 129, 367 373>) ein Ausnahmefall von der Regelausweisung - und damit die Notwendigkeit einer behördlichen Ermessensentscheidung - gegeben ist, bedarf es einer Einzelfallwürdigung der für die Ausweisung sprechenden Belange und der gegenläufigen Interessen des Ausländers unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles (vgl. zum Gebot ergänzender auf den Einzelfall bezogener Verhältnismäßigkeitsprüfung auch BVerfG, Beschlüsse vom 10. Mai 2007 - 2 BvR 304/07 -, juris Rn. 38, 41 und vom 10. August 2007 - 2 BvR 535/06 -, juris Rn. 19 f.). Hierbei sind insbesondere die konkreten Umstände zu würdigen, die von typisierenden Bestimmungen - wie es bei den Ausweisungstatbeständen zwangsläufig der Fall ist - nicht oder nur unzureichend erfasst werden (BVerfG, Beschluss vom 10. August 2007, a.a.O., Rn. 19; vgl. auch BVerwGE 129, 367 373 f.>). Dabei sind die Maßstäbe, die gemäß Art. 8 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention - EMRK - für die Prüfung der Rechtfertigung eines Eingriffs in das in Art. 8 Abs. 1 EMRK garantierte Recht auf Privat- und Familienleben gelten, auch hier heranzuziehen (BVerfG, Beschlüsse vom 10. Mai 2007, a.a.O., Rn. 41 und vom 10. August 2007, a.a.O., Rn. 19). Derartige Eingriffe überprüft der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und hat hierfür verschiedene Kriterien entwickelt (Urteile vom 2. August 2001 - 54273/00 - [Boultif], InfAuslR 2001, 476, Rn. 48, und vom 18. Oktober 2006 - 46410/99 - [Üner], DVBl. 2007, 689, Rn. 57, 58; st. Rspr.). Hierzu gehört auch die Dauer des Aufenthalts im Gastland und die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Beziehungen mit dem Gastland und dem Zielland (Üner, a.a.O., Rn. 58) beziehungsweise mit dem "Herkunftsstaat" (Urteile vom 23. Juni 2008 - 1638/03 - [Maslov], InfAuslR 2008, 333, 334; vom 25. März 2010 - 40601/05 - [Mutlag], InfAuslR 2010, 325, Rn. 58, und vom 13. Oktober 2011 - 41548/06 - [Trabelsi], Rn. 62, veröffentlicht unter www.echr.coe.int). Dieses Kriterium beruht nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf der Vermutung, dass je länger jemand in einem bestimmten Land gelebt habe, desto stärker seine Beziehungen zu diesem Staat und umso schwächer seine Beziehungen zum "Land seiner Staatsangehörigkeit" seien (Üner, a.a.O., Rn. 58). Dass der vom Beschwerdeführer behaupteten ausschließlich serbischen Staatsangehörigkeit im Hinblick auf eine beabsichtigte Aufenthaltsbeendigung und Abschiebung in den Kosovo Bedeutung zukommt, erscheint naheliegend. Wenn das Oberverwaltungsgericht dennoch die Ergebnisrichtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils mit der Begründung bejaht, die Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers habe keine Bedeutung für die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung, so geht es über seine im Berufungszulassungsverfahren eingeschränkten Prüfungskompetenzen hinaus.

Darüber hinaus ist die Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers im vorliegenden Fall auch deshalb bedeutsam für die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung, weil bei fehlender kosovarischer Staatsangehörigkeit ein Duldungsgrund nach § 60 Abs. 2a AufenthG in Betracht kommt. Nach dieser Vorschrift ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, wenn sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist. Läge danach ein Duldungsgrund vor, wäre dieser gemäß § 55 Abs. 3 Nr. 3 AufenthG entsprechend seinem tatsächlichen Gewicht bereits bei der Ausübung des Ausweisungsermessens zu berücksichtigen und die unterbliebene Berücksichtigung in dem angegriffenen Bescheid wäre dann ermessensfehlerhaft. Im vorliegenden Fall lagen aufgrund des Sachvortrags des Beschwerdeführers Anhaltspunkte dafür vor, dass eine Abschiebung in den Kosovo tatsächlich nicht möglich sein könnte und allenfalls eine Abschiebung nach Serbien in Betracht käme. Denn er hatte vorgetragen, er sei abweichend von den tatsächlichen Feststellungen im Ausweisungsbescheid serbischer Staatsangehöriger, es seien keine Anhaltspunkte für eine kosovarische Staatsangehörigkeit gegeben, daher sei bereits die Einreise in den Kosovo in Frage gestellt, und er hatte sich hierfür auf die kosovarische Verfassung und das kosovarische Staatsangehörigkeitsgesetz berufen. Weder zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers noch zur Möglichkeit der Einreise in den Kosovo enthält das Urteil des Verwaltungsgerichts tatsächliche Feststellungen. Es beschränkt sich auf die Angabe, der Beschwerdeführer sei "kosovarischer Volkszugehörigkeit". Vor diesem Hintergrund hätte das Oberverwaltungsgericht die rechtliche Erheblichkeit des Vorliegens eines möglichen Duldungsgrundes im Berufungszulassungsverfahren allenfalls verneinen dürfen, wenn es - abweichend vom Ausweisungsbescheid - der Auffassung gewesen wäre, die Vorschrift des § 55 Abs. 3 Nr. 3 AufenthG sei nur auf Ermessensausweisungen gemäß § 55 Abs. 1 AufenthG anwendbar, nicht aber auf die Fälle, in denen das Bundesverwaltungsgericht nach neuerer Rechtsprechung (BVerwGE 129, 367 373>) eine Ausnahme von der Regelausweisung nach § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG bejaht. Es ist indes nichts dafür erkennbar, dass das Oberverwaltungsgericht die Berufung aus diesem Grund nicht zugelassen hat. Im Übrigen käme einem solchen Grund seinerseits wohl grundsätzliche Bedeutung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zu mit der Folge, dass er dann nicht zur Verneinung ernstlicher Zweifel in Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO herangezogen werden dürfte (BVerfG, Beschluss vom 24. Januar 2007 - 1 BvR 382/05 -, juris Rn. 24).

Keiner Entscheidung bedarf, ob das Oberverwaltungsgericht die Berufung auch noch aus anderen Gründen hätte zulassen müssen.

b) Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts beruht auch auf der Grundrechtsverletzung, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass es die Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugelassen hätte, wenn es den Verfassungsverstoß erkannt hätte.

c) Über die vom Beschwerdeführer erhobene weitere Grundrechtsrüge ist schon aus Gründen der Subsidiarität des Verfassungsbeschwerdeverfahrens nicht zu entscheiden (vgl. Beschluss vom 17. Mai 2011 - VerfGH 156/08 - Rn. 19).

III.

Nach § 54 Abs. 3 VerfGHG ist der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts aufzuheben und die Sache insoweit in entsprechender Anwendung von § 95 Abs. 2 Halbsatz 2 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes zurückzuverweisen. [...]