LSG Hamburg

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Zitieren als:
LSG Hamburg, Beschluss vom 11.10.2012 - L 4 AS 266/12 B ER - asyl.net: M20107
https://www.asyl.net/rsdb/M20107
Leitsatz:

Allein zum Zweck der Arbeitssuche besteht das Aufenthaltsrecht bei Bürgern der Europäischen Union, die sich in Deutschland aufhalten, um einen Arbeitsplatz zu suchen oder eine selbständige Erwerbstätigkeit einschließlich der Erbringung von Dienstleistungen aufzunehmen. Daran fehlt es bei Unionsbürgern schon dann, wenn sie in Deutschland bereits erwerbstätig waren und ihre Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit verloren haben. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfasst nur Personen, die sich erstmals zur Arbeitssuche nach Deutschland begeben.

Schlagwörter: polnische Staatsangehörige, Leistungsausschluss, SGB II, Arbeitsuche, Aufenthalt zum Zweck der Arbeitssuche, Unionsbürger, tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt, freizügigkeitsberechtigt, Unionsbürgerrichtlinie,
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, SGB II § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Die Antragsteller haben in diesem Sinn sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft gemacht.

Zwischen den Parteien steht im Wesentlichen in Streit, ob die 56-jährige Antragstellerin zu 1 und der mit ihr in einer Bedarfsgemeinschaft lebende 62-jährige Ehemann, der Antragsteller zu 2, die beide die polnische Staatsangehörigkeit besitzen, nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen sind. Nach dieser Vorschrift sind Ausländerinnen und Ausländer von Leistungen ausgeschlossen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Der Senat ist der Auffassung, dass die Antragsteller von diesem Leistungsausschluss nicht erfasst werden.

Allein zum Zweck der Arbeitssuche im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II hält sich eine Person nur dann auf, wenn sie noch keine Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt aufgenommen hat. Insoweit bleibt der erkennende Senat bei seiner ständigen Rechtsprechung, begründet durch den Beschluss vom 2. März 2010 (L 5 AS 54/10 B ER). Dort heißt es:

"Allein zum Zweck der Arbeitsuche besteht das Aufenthaltsrecht bei Bürgern der Europäischen Union, die sich in Deutschland aufhalten zur Suche einer Arbeitsbeschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit einschließlich Erbringung von Dienstleistungen (vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 Freizügigkeitsgesetz/EU). An der alleinigen Arbeitsuche aber fehlt es bei Unionsbürgern schon dann, wenn sie in Deutschland bereits beschäftigt oder erwerbstätig waren, ihre Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit aber verloren haben. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfasst nur Personen, die sich erstmals zur Arbeitsuche nach Deutschland begeben. Diese über § 2 Abs. 3 FreizügG/EU hinausgreifende Rückausnahme zu § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II folgt aus den Wirkungen des Unionsbürgerrechts bereits nach den Wertungen der Art. 14 Abs. 4 und Art. 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie - RL 2004/38/EG - (so überzeugend Brühl/Schoch, in: LPK SGB II, § 7 Rn. 34; Husmann, NZS 2009, 652, 655; beide unter Hinweis auf LSG~Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 25.7.2007 - L 6 AS 444/07 ER, InfAuslR 2008, 52). Denn schon danach werden besonders geschützt Unionsbürger, die Arbeitnehmer oder Selbständige sind, und Unionsbürger, denen dieser Status erhalten bleibt, solange sie nachweisen können, weiterhin Arbeit zu suchen und begründete Aussicht haben, eine zu finden."

Die Antragstellerin zu 1 hat bereits eine tatsächliche Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes hergestellt, da sie auch aktuell auf Arbeitssuche ist und bereits im Zeitraum vom 1. Mai 2011 bis zum 30. September 2011 in der Bundesrepublik als Arbeitnehmerin tätig war. Aus diesem Grund hat sie auch Zugang zu den finanziellen Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, zumindest solange keine gegenteiligen Feststellungen zur Erwerbsfähigkeit getroffen werden (vgl. EuGH, Urteil vom 4.6.2009 – C-22/08 und C-23/08, SozR 4-6035 Art. 39 Nr. 5).

Der Antrag richtet sich auch gegen den richtigen Antragsgegner, da die Antragstellerin zu 1 dem Personenkreis des SGB II und nicht dem des SGB XII zuzurechnen ist. Sie hat zwar ein Attest vom 18. März 2012 vorgelegt, dass sie voraussichtlich dauerhaft arbeitsunfähig sei. Der ärztliche Dienst der Bundesagentur für Arbeit hat jedoch nach einer Untersuchung am 14. März 2012 festgestellt, dass keine schwerwiegenden Leistungseinschränkungen vorlägen und die Antragstellerin voraussichtlich nur bis zu 6 Monaten weniger als drei Stunden arbeiten könne. Damit ist zumindest aktuell davon auszugehen, dass sie gesundheitlich auch in der Lage ist, wieder eine Tätigkeit aufzunehmen. Dem Antragsgegner bleibt es insoweit unbenommen, die Erwerbsfähigkeit der Antragstellerin erneut zu überprüfen.

Der Antragsteller zu 2 hat zwar in dem oben genannten Sinne noch keine Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt aufbauen können, da er bisher weder als Arbeitnehmer noch als Selbständiger tätig war. Er hält sich aber nicht nur zum Zweck der Arbeitssuche in der Bundesrepublik auf. Er begleitet seine Ehefrau, die Antragstellerin zu 1, und kann sich aus diesem Grund als Familienangehöriger wohl auch auf ein Aufenthaltsrecht nach § 3 Satz 1 Freizügigkeitsgesetz/EU berufen.

Es liegt auch ein Anordnungsgrund vor, da die Antragsteller über keine sonstigen Mittel verfügen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. [...]