VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Urteil vom 23.10.2012 - 6 K 896/11.A - asyl.net: M20125
https://www.asyl.net/rsdb/M20125
Leitsatz:

Bei einer yezidischen Frau aus dem Irak, der bei Rückkehr die Zwangsverheiratung droht, die auf sich allein gestellt und der Gewalt schutzlos ausgesetzt wäre, besteht ein Abschiebungsverbot im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Schlagwörter: Irak, Yeziden, Familienehre, Zwangsehe, Zwangsverheiratung, Familienanschluss, Unterstützung, Frauen, Kurden,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Die Klägerin kann indes Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beanspruchen, da das Bundesamt insoweit die Situation der Klägerin erkennbar verkannt und die Klägerin das Gericht überzeugt hat.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die theoretische Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in die genannten Rechtsgüter zu werden, reicht deswegen nicht aus, um eine Gefahr i.S.v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu begründen; vielmehr ist erforderlich, dass eine einzelfallbezogene, individuell bestimmte und erhebliche Gefährdungslage mit beachtlicher - und bei verfassungskonformer Anwendung der Vorschriften zur Durchbrechung der Sperrwirkung des Satzes 3 mit erhöhter - Wahrscheinlichkeit landesweit besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Februar 2011 - 10 B 1.11 -, juris). Dies ist bei der Klägerin der Fall.

Die Klägerin wäre bei einer Rückkehr in den Irak nicht in der Lage, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und ihren Lebensunterhalt selbstständig oder mit Unterstützung anderer zu sichern, weil sie der in hohem Maße wahrscheinlichen Zwangsverheiratung mit einem Cousin ihres Vaters oder der Tötung aus Gründen der Familienehre ausgesetzt wäre, so dass bei ihr eine zwar allgemeine, individuell aber mangels Abschiebestopps nicht zu beherrschende Notlage gegeben ist. Denn die Klägerin hat zur Überzeugung des Gerichts vermitteln können, einer - bei den Yeziden bis hin nach Deutschland bekanntermaßen üblichen - Zwangsverheiratung im Familienkreis ausgesetzt gewesen zu sein und nicht auf die Unterstützung der Familie rechnen zu können. Zwar war die Klägerin nach eigenen Angaben als Näherin mit eigenem Einkommen tätig; sie wird eine solche Tätigkeit aber keinesfalls mehr in dem Bereich aufnehmen können, in welchem ihre (Groß-)Familie lebt, und sie wird sich als alleinstehende yezidische Frau auch nicht woanders im Irak niederlassen können. [...]

Das Gericht hat aufgrund der authentisch erscheinenden und nicht einstudiert wirkenden Schilderungen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung die Überzeugung gewonnen, dass sie tatsächlich in der von ihr berichteten Weise zur Heirat mit einem Cousin des Vaters gezwungen werden sollte. Es ist sehr wohl nachvollziehbar, dass sich der Vater der Klägerin dem dahingehenden Druck des höher gestellten Cousins nicht widersetzen konnte, ohne selbst eine Ehrverletzung zu begehen. Aus der Auskunft des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien vom 4. Februar 2011 lässt sich in diesem Zusammenhang entnehmen, dass eine Situation, wie sie die Klägerin geschildert hat, in das Bild der yezidisch geprägten dörflichen Verhältnisse passt: der Ranghöhere nimmt sich das Recht, eine Frau zur Heirat zu bestimmen, ohne dass der rangniedrigere Vater der Braut etwas dagegen tun kann, falls er sich nicht offen auflehnt und das Risiko einer Familienfehde heraufbeschwört. Der Frau kommt insoweit offenbar kein Recht zu; ihr kann allenfalls - wie von der Klägerin in Bezug auf einen Onkel auch berichtet - durch andere Familienangehörige beigestanden werden, wobei es wiederum auf Rang und Stand der Akteure ankommt. Insoweit ist es nachvollziehbar, dass der die Klägerin schützende Onkel dem Druck seitens des Bräutigams nur eine gewisse Zeit lang hat standhalten können und dass eine Ausreise der Klägerin unter diesen Umständen angezeigt war, um die familiäre Situation vor Ort zu bereinigen. Dazu passt es wiederum, dass die Klägerin zu einem anderen Yeziden nach Deutschland geschickt wurde.

Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die Klägerin ohne Familienanschluss bei einer Rückkehr in den Irak auf sich allein gestellt und der Gewalt schutzlos ausgesetzt wäre, so dass ihr konkrete Gefahren für Leib und Leben im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG drohen würden.

Hinzu kommt, dass die Sicherheitslage im ...-Gebiet, aus dem die Klägerin stammt, als gefährlich einzustufen ist und dort selbst das Leben in den ethnisch homogenen Zentraldörfern keine Gewähr für Sicherheit bietet. Diese Dörfer weisen eine "miserable Infrastruktur" auf, Arbeitsmöglichkeiten gibt es "nahezu keine". Eine der wenigen Möglichkeiten besteht im Pendeln in die de jure kurdisch verwalteten Gebiete. Das Reisen im ... sowie die Fahrt zum und vom ... in andere (yezidische) Gebiete ist als extrem risikoreich einzuschätzen (Europäisches Zentrum für Kurdische Studien vom 17. Februar 2010).

Die Klägerin wäre nach allem nicht in der Lage, selbst für ihr Existenzminimum zu sorgen, und könnte sich finanziell und hinsichtlich des täglichen Bedarfs an Lebensmitteln u.ä. im Irak nicht "über Wasser halten". Daneben wäre sie auch der Gefahr von gewalttätigen Übergriffen, nicht nur durch islamistische Eiferer und Kriminelle, sondern auch durch Yeziden ausgesetzt. Denn sie hat als alleinstehende Frau keinen männlichen Schutz, keinen familiären Anschluss und keine familiäre Unterstützung, und sie muss innerhalb der yezidischen Gemeinschaft damit rechnen, dass sich ihr Aufenthalt herumspricht, so dass sie der Verfolgung durch die Familie ausgesetzt wäre. [...]

Einsenderin: Frau Ingrid Meinicke, Richterin am VG Potsdam/ H. Hübner, Justizobersekretär