VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 29.08.2012 - 7a 3902/11.A - asyl.net: M20144
https://www.asyl.net/rsdb/M20144
Leitsatz:

Eine behandlungsbedürftige psychische Erkrankung führt bei einem nigrischen Staatsangehörigen zu einem Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG, da die medizinische Versorgung im Niger nur rudimentär und ohne finanzielle Eigenmittel nicht erreichbar ist. Nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes ist sie selbst in der Hauptstadt Niamey "begrenzt".

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, psychische Erkrankung, medizinische Versorgung, Niger, finanzielle Mittel, lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustands, Gesundheitszustand, Suizidgefahr,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Letztlich kann es jedoch offen bleiben, was ursächlich zur Erkrankung des Klägers geführt hat. In Übereinstimmung mit dem Gutachten des sozialpsychiatrischen Dienstes des Kreises S. vom 29. Juli 2005 und dem vorgelegten aktuellen Behandlungsbericht der Fachärztin für Psychiatrie - Psychotherapie - Q. , die den Kläger seit 2002 ärztlich betreut, insbesondere auch seine gesundheitlichen Krisen kennt, geht die Kammer davon aus, dass der Kläger nach wie vor relativ engmaschiger fachärztlicher Betreuung bedarf und auf die Einnahme eines Antidepressivums, das auch bei posttraumatischen Störungen mit Angst- und Zwangsattacken eingesetzt wird, bedarf. Er nimmt seit Jahren Sertralin, jetzt in einer Dosis von täglich 100 mg ein, ohne dass er - nach dem ärztlichen Bericht - völlig symptomfrei wäre. Eine solche ausreichende medizinische Betreuung und medikamentöse Versorgung ist für den Kläger, der seine Heimat vor mehr als zehn Jahren verlassen hat, nach Überzeugung der Kammer nicht erreichbar im Sinne der o.a. Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 29. Oktober 2002 - 1 C 1.02 - a.a.O.).

Nach vorliegenden Erkenntnissen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, ist die medizinische Versorgung im Niger - außer in Niamey - rudimentär (25 %), sie ist ohne finanzielle Eigenmittel nicht erreichbar und selbst in der Hauptstadt Niamey nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes "begrenzt". Sie ist jedenfalls von der sozialen Herkunft des Betroffenen und seinen eigenen finanziellen Mitteln abhängig. Teilweise ist medizinische Hilfe - insbesondere in den ländlichen Gegenden ohne ausreichende Infrastruktur - nur für einen Bruchteil der Bevölkerung tatsächlich erreichbar (vgl. z.B. Reisehinweise des Auswärtigen Amtes, Stand: 11. September 2012 unter "Medizinische Versorgung"; AA, Auskunft an das VG Arnsberg vom 31. Juli 2009 zu 2.; Gutachten des Instituts für Afrika-Studien Hamburg vom 25. Mai 2009 an das VG Arnsberg zu 2. und 3; Help e.V., "Help unterstützt Mütter und Kinder in Niger"). Allgemein ist die Versorgungs- und Sicherheitslage im Niger aufgrund langwährender Dürre und den politischen Umbrüchen u.a. in Libyen und Mali angespannt und besorgniserregend, was eine Verschärfung auch der medizinischen Versorgungslage mit sich bringen dürfte (vgl. z.B. ai, annual report 2012; UN World food Programm, "Hungerkrise in der Sahelzone", 17. April 2012).

Der Kläger ist in Téra aufgewachsen, einer Region im Nord-Westen des Landes in der Sahelzone, die von jahrelanger Trockenheit und Ernteausfalls besonders betroffen ist und wo die medizinische Versorgung durch Ärzte, Pflegepersonal und Medikamente trotz zahlreicher epidemischer Krankheiten im Land nur vereinzelt für Mütter und Kleinkinder durch Hilfsprogramme sichergestellt wird (vgl. Help e.V., a.a.O., WPF, a.a.O.).

Der Kläger war in seiner Heimat vor der Ausreise nicht erwerbstätig. Es ist nach mehr als zehnjähriger Abwesenheit und vor dem Hintergrund der sozialen und politischen Verhältnisse im Land insgesamt nicht zu erwarten, dass er im Falle seiner Rückführung dort ohne weiteres erwerbstätig sein kann. Als Erwachsener wird er voraussichtlich nicht in den Genuss von Hilfsprogrammen kommen (so für die Gruppe der Rückkehrer ausdrücklich: AA, Auskunft vom 31. Juli 2009, a.a.O., zu 5).

Seine im Niger lebenden weiblichen Angehörigen sind - seinen Angaben zufolge - selbst wegen ausbleibender landwirtschaftlicher Erträge nicht durchgehend in der Lage, sich zu ernähren, sondern sie leiden Hunger. Es ist nicht zu erwarten, dass diese Mittel aufbringen können, um dem Kläger eine Versorgung mit Medikamenten zu ermöglichen.

Die Kammer geht auch davon aus, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers im Falle seiner Rückkehr wegen der nicht sichergestellten medikamentösen und auch ärztlichen Versorgung überwiegend wahrscheinlich erheblich und lebensbedrohlich verschlechtern wird.

Das schließt die Kammer vor allem aus dem diagnostizierten vorhandenen präsuizidalen Syndrom, das der forensische Gutachter P. 2005 festgestellt hat und das sowohl vom Gesundheitsamt des Kreises S. als auch von der behandelnden Ärztin Q. - bis in die jüngste Zeit - bestätigt wird. Es besteht die Gefahr, dass sich sein Gesundheitszustand schon unter schon unter der erheblichen Belastung, in seine Heimat zwangsweise zurückgeführt zu werden, deutlich verschlechtern wird und Angstzustände erneut zu eigen- oder fremdaggressiven Verhalten führen kann. Dass dies im Falle der fehlenden regelmäßigen Medikamenteneinnahme der Fall ist, hat seine Ärztin zuletzt im Attest vom 4. September 2012 ausgeführt.

Auf die Frage, ob auch ein im Zielstaat angelegtes Trauma die Rückführung des Klägers verbietet, kommt es danach nicht an. [...]