Eine 1951 in der Türkei geborene und seit 1981 im Bundesgebiet lebende mit einem türkischen Staatsangehörigen verheiratete türkische Frau ist grundsätzlich in besonderer Weise integrationsbedürftig, wenn sie nicht über das Sprachniveau A1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen verfügt. Ihr ist die Teilnahme an einem Integrationskurs, zu dem sie nach § 44 a Abs. 1 Nr. 3 AufenthG aufgefordert wurde, nicht deshalb unmöglich und unzumutbar, weil sie Analphabetin ist und einer Verpflichtung dazu nicht nachkommen will.
(Amtlicher Leitsatz)
[...]
Die Verpflichtung zur Teilnahme an einem Integrationskurs findet ihre Rechtsgrundlage in der Vorschrift des § 44a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG. Danach ist ein Ausländer zur Teilnahme an einem Integrationskurs verpflichtet, wenn er in besonderer Weise integrationsbedürftig ist und die Ausländerbehörde ihn zur Teilnahme am Integrationskurs auffordert. Dies ist hier der Fall. Die Klägerin ist in besonderer Weise integrationsbedürftig (1.) und ihre Teilnahmeverpflichtung ist nicht unmöglich und nicht unzumutbar (2.). Sie wurde von der zuständigen Behörde zur Teilnahme an einem Integrationskurs verpflichtet (3.). Die Teilnahmeverpflichtung der Klägerin aus § 44a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG verstößt weder gegen höherrangiges Recht noch gegen das Verschlechterungsverbot aus Art. 13 1/80 ARB (4.). Der Widerspruchsbescheid ist nicht aus anderen Gründen rechtswidrig (5.).
1. In § 44a AufenthG hat der Gesetzgeber eine Verpflichtung zur Teilnahme an einem Integrationskurs geschaffen, insoweit jedoch zwischen einer gesetzlichen und einer durch Teilnahmeaufforderung der Ausländerbehörde begründeten Pflicht differenziert. Danach sind Ausländer uneingeschränkt zur Teilnahme an einem Integrationskurs verpflichtet, die einen Anspruch auf Teilnahme gemäß § 44 AufenthG haben und sich nicht auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständigen können (Neuzuwanderer i.S. § 44a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Andere Ausländer (sog. Bestandsausländer i.S. § 44 Abs. 4 AufenthG) können durch die Ausländerbehörde - im Rahmen verfügbarer und zumutbar erreichbarer Kursplätze - zur Teilnahme an einem Integrationskurs aufgefordert werden, nämlich wenn sie öffentliche Leistungen nach dem 2. Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) beziehen (§ 44a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG) oder in besonderer Weise integrationsbedürftig sind (§ 44a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG). Nach dem klaren Gesetzeswortlaut entsteht die in § 44a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG normierte Verpflichtung zur Teilnahme an einem Integrationskurs losgelöst von einem Anspruch auf Teilnahme nach § 44 AufenthG. Damit können auch bereits längere Zeit in Deutschland lebende, gleichwohl noch integrationsbedürftige Ausländer im Einzelfall nachholend zur Teilnahme an einem Integrationskurs verpflichtet werden (BayVGH, Urt. v. 13.12.2007 - 19 B 06.393 -, <juris>). Zu diesem Personenkreis rechnet die Klägerin.
Die Klägerin ist in besonderer Weise integrationsbedürftig (§ 44a Abs. 1 Nr. 3 AufenthG). Nach der Vorstellung des Gesetzgebers beruht Integration auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit und des Austauschs zwischen dem zuziehenden Ausländer und der ihn aufnehmenden Gesellschaft. Der Zuzug aus dem Ausland führt nicht nur für den Ausländer zur Notwendigkeit, sich in einer neuen und ungewohnten Umgebung einzuleben, sondern fordert auch von der Gesellschaft zusätzliche Hilfen zur Orientierung. Die Nutzung der verfügbaren Bildungsangebote ist ein notwendiger, aktiver Eigenbeitrag zur Integration (s. BT-Drucksache 15/420 zu § 43 S. 86). Der Gesetzgeber hat in Kapitel 3 des Aufenthaltsgesetzes die Integration geregelt. Sie wird zur Eingliederung von rechtmäßig auf Dauer im Bundesgebiet lebenden Ausländern in das wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Leben in der Bundesrepublik Deutschland gefördert und gefordert (§ 43 Abs. 1 AufenthG). Ein Grundangebot stellt dabei der sog. Integrationskurs dar (§ 43 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 AufenthG), mit dem ausreichende deutsche Sprachkenntnisse und Kenntnisse von Rechtsordnung, Kultur und Geschichte in Deutschland vermittelt werden sollen (§ 43 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Ausländer sollen dadurch mit den Lebensverhältnissen im Bundesgebiet so weit vertraut werden, dass sie ohne Hilfe oder Vermittlung Dritter in allen Angelegenheiten des täglichen Lebens selbständig handeln können (§ 43 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Die Bundesregierung wurde zur Regelung von Einzelheiten durch eine Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates ermächtigt (§ 43 Abs. 4 AufenthG); dies ist durch die sog. Integrationskursverordnung vom 13. Dezember 2004, BGBl I S. 3370 f. - IntV - geschehen. Im Hinblick auf das in § 43 Abs. 1 AufenthG formulierte Ziel der Integration und das eines Integrationskurses (s. § 43 Abs. 3 Satz 1 AufenthG, §§ 3 Abs. 2, 17 Abs. 1 Nr. 1 und 2 IntV) ist von einer Integrationsbedürftigkeit dann auszugehen, wenn der Ausländer keine ausreichenden Kenntnisse der deutschen Sprache hat, wie es §§ 43 Abs. 3 Satz 1 AufenthG, 3 Abs. 2, 17 Abs. 1 Nr. 1 IntV verlangen. Denn umgekehrt besteht der Anspruch auf Teilnahme am Integrationskurs nicht (§ 44 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AufenthG), wenn der Ausländer bereits "über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt". Dafür verlangt der Abschlusstest Sprachkompetenzen in den Fertigkeiten Hören, Lesen, Schreiben und Sprechen auf den Stufen A2 bis B1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (§ 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IntV). Für die Integration fordern §§ 43 Abs. 3 Satz 1, 44 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AufenthG neben der Teilnahme am Orientierungskurs ausreichende Sprachkenntnisse, die in § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IntV mit Sprachkompetenzen auf den Stufen A2 bis B1 nachzuweisen sind. [...]
Die Klägerin hat nicht nachgewiesen, dass sie sich auf Niveau A1, also auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann. Davon kann aufgrund des Akteninhalts und ihrer persönlichen Anhörung in der mündlichen Verhandlung nicht ausgegangen werden. Mit Schreiben ihrer Tochter vom 25.11.2010 ließ sie mitteilen, dass sie Analphabetin sei. [...]
Zudem hat die Klägerin das Bestehen ihrer wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Integration weder vorgetragen noch ist diese sonst ersichtlich. Der Beschäftigung der Klägerin im Betrieb ihres Ehemannes kommt insoweit jedenfalls kein entscheidendes Gewicht für ihre Integration zu, weil sie im Geschäft nur putzte und aufräumte. Aus ihrer Mithilfe im Geschäft und Haushalt kann allenfalls auf eine wirtschaftliche Integration geschlossen werden, die allein nicht ausreichend ist. Deshalb hilft auch der Hinweis darauf, ihr Ehemann und sie würden Steuern bezahlen und hätten noch nie Sozialhilfe bezogen, nicht weiter, weil sie allein hierdurch nicht integriert ist (§ 43 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 AufenthG, §§ 3, 17 IntV). Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, dass die Klägerin außerhalb ihrer Familie gesellschaftlich und kulturell integriert ist. Das Gegenteil hat das Gesundheitsamt im Schreiben vom 30.12.2012 festgestellt. Dass sie sich auf einfache Art nicht verständigen kann, ist auch ursächlich für ihre fehlende kulturelle und gesellschaftliche Integration. [...]
3. Der Klägerin ist die Teilnahme an einem Integrationskurs wegen der Betreuung ihrer Enkelkinder und ihres Gesundheitszustandes nicht im Sinne von § 44a Abs. 2 Nr. 3 AufenthG unmöglich und nicht unzumutbar. Nach dieser Bestimmung sind Ausländer, deren Teilnahme an einem Integrationskurs auf Dauer unmöglich oder unzumutbar ist, von der Teilnahmeverpflichtung ausgenommen. Der Begründung zur Vorgängerregelung des § 44a Abs. 2 AufenthG (§ 45 Abs. 3 AufenthG a.F., vgl. BT-Drucksache 15/420, S. 88) ist der Wille des Gesetzgebers zu entnehmen, dass die Erziehung eigener Kinder allein noch nicht zur Unzumutbarkeit einer Kursteilnahme führt; dies gilt insbesondere bei der Möglichkeit kursergänzender Kinderbetreuung. Erst recht muss dies für die Erziehung von Enkelkindern gelten. Der Gesetzgeber hat dem Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG durch die Schaffung von Frauenintegrationskursen mit Kinderbetreuung hinreichend Rechnung getragen (§ 13 Abs. 1 Nr. 2 IntV). Dass hierbei nicht an die Betreuung von Enkelkindern gedacht ist, ist mit Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar, weil das Verhältnis zwischen Großeltern und Enkeln grundsätzlich nicht dem Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG unterfällt.
Soweit die Klägerin einwendet, sie sei krank, sie habe mehrere schwere Operationen hinter sich und das Erlernen der deutschen Sprache "gehe nicht in ihren Kopf", mit anderen Worten, sie sei nicht lernfähig, führt dies nicht zur Unzumutbarkeit im Sinne des § 44a Abs. 2 Nr. 3 AufenthG. Denn die amtsärztliche Untersuchung vom 30.12.2010 ergab, dass die Klägerin nach Ablauf von drei Monaten körperlich, geistig und seelisch in der Lage ist, an einem Integrationstest teilzunehmen. Im Hinblick auf das bedürfnisgerechte Kursangebot sind keine Gründe ersichtlich, aus denen sich eine Unzumutbarkeit ergeben könnte. Die Vertreter des beklagten Landes teilten in der mündlichen Verhandlung mit, dass im Umkreis von fünf km vom Wohnort der Klägerin (in ...) mehrere Integrationskurse kostenlos angeboten werden, die speziell für Analphabeten und ältere Personen eingerichtet sind. [...] Gegebenenfalls werden die Kurse nach den Ausführungen der Vertreter des beklagten Landes so angeboten, dass sie mit der Kinderbetreuung in Übereinstimmung gebracht werden können, oder es werden neue Kurse entsprechend den konkreten Bedürfnissen der Teilnehmer gebildet. Die Fahrtkosten werden der Klägerin erstattet (§ 4 Abs. 4 Satz 2 IntV). Nach ... kann die Klägerin mit öffentlichen Verkehrsmitteln gelangen. Für ... trifft dies ebenfalls zu, die einfache Wegstrecke mit öffentlichen Verkehrsmitteln lässt sich durch ein- oder zweimaliges Umsteigen ca. innerhalb einer Stunde bewältigen. Dies ist zumutbar und nicht unverhältnismäßig.
Ihre in der mündlichen Verhandlung geäußerte fehlende Bereitschaft, an einem Integrationskurs teilzunehmen, rechtfertigt auch nicht die Annahme, dass die Teilnahme daran für sie unzumutbar oder unmöglich ist. Ihre Herkunft und ihr Verständnis von ihrer Rolle als türkische Frau eines türkischen Ehemannes verbieten der Klägerin ihrem eigenen Bekunden zufolge nicht die Teilnahme an einem Integrationskurs, auch nicht der Umstand, dass sie den Weg zum Kursort gegebenenfalls allein zurücklegen und die Zeit dafür außerhalb ihrer Familie verbringen muss. Dazu hat sie über ihre Tochter in der mündlichen Verhandlung erklären lassen, dass sie u.a. selbständig Einkäufe tätige und sich außerhalb ihrer Wohnung selbständig bewegen könne, was sie bei Arztbesuchen und Ähnlichem bereits getan habe. [...]