VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 14.11.2012 - 11 A 3061/12 - asyl.net: M20190
https://www.asyl.net/rsdb/M20190
Leitsatz:

1. Für ein Ausreisehindernis aus dem Schutz des Privatlebens nach Art. 8 EMRK ist neben der reinen Aufenthaltszeit auch maßgeblich, wie lange der Aufenthalt rechtmäßig war und ob der Aufenthaltszweck potentiell dauerhafter oder von vornherein nur vorübergehender Natur war. Bei einem weit überwiegend legalen und ursprünglich auf Dauer angelegten Aufenthalt können in gewissem Umfang geringere Anforderungen an Aufenthaltszeit und Integration gestellt werden.

2. Reintegrationsschwierigkeiten im Heimatland sind auch zu berücksichtigen, wenn sie die Schwelle des § 60 AufenthG nicht erreichen. Sie führen aber nicht per se, sondern nur in Zusammenschau mit der in Deutschland erreichten Integration und nach Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung zu einem Ausreisehindernis.

3. Der Maßstab des "faktischen Inländers" wurde in Ausweisungsfällen entwickelt und kann nicht ohne weiteres auf einen Ausländer übertragen werden, der lange Jahre rechtmäßig in Deutschland gelebt hat und keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ausreisehindernis, Unmöglichkeit der Ausreise, Ausreisepflicht, Schutz des Privatlebens, Achtung des Privatlebens, Integration, faktischer Inländer, Aufenthaltsdauer, Sprachkenntnisse, Deutschkenntnisse, Kenntnisse der deutschen Sprache, soziale Eingebundenheit, soziale Bindungen, Sicherung des Lebensunterhalts, Straffälligkeit, Verwurzelung, Verhältnismäßigkeit,
Normen: EMRK Art. 8, AufenthG § 60, AufenthG § 25 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Die zulässige Verpflichtungsklage ist begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG.

In der Person liegt ein rechtliches Ausreisehindernis aus Art. 8 EMRK vor. Der Schutz des Privatlebens nach dieser Vorschrift steht dem Ansinnen der deutschen Behörden, der Kläger solle in den Irak ausreisen, entgegen.

Für ein solches Ausreisehindernis maßgeblich sind insbesondere die Dauer des Aufenthalts in Deutschland, die Kenntnisse der deutschen Sprache und die soziale Eingebundenheit in die hiesigen Lebensverhältnisse, wie sie etwa in der Innehabung eines Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes, in einem festen Wohnsitz, einer Sicherstellung des ausreichenden Lebensunterhalts, einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel, und dem Fehlen von Straffälligkeit zum Ausdruck kommt. Ferner ist die Möglichkeit einer Integration im Heimatland zu untersuchen, die sich nach Kriterien wie der Kenntnis der dortigen Sprache, der Existenz dort lebender Angehöriger sowie sonstiger Bindungen an das Heimatland bemisst. Von großer Bedeutung ist auch, ob der Aufenthalt des Ausländers in Deutschland zumindest zeitweise rechtmäßig war und ein Vertrauen auf einen weiteren Verbleib im Bundesgebiet entstehen lassen konnte (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Januar 2009 - 1 C 40.07 - NVwZ 2009, 979 981>; Urteil vom 30. April 2009 - 1 C 3.08 - InfAuslR 2009, 333 335>; Nds. OVG, Beschluss vom 20. April 2009 - 8 LA 54/09 -; Beschluss vom 17. Juli 2008 - 8 ME 42/08 - <juris>; Beschluss vom 1. November 2007 - 10 PA 96/07 -; Beschluss vom 17. November 2006 - 10 ME 222/06 -; Beschluss vom 1. September 2006 - 8 LA 101/06 -; Beschluss vom 11. Mai 2006 - 12 ME 138/06; Beschluss vom 11. April 2006 - 10 ME 58/06 -; Beschluss vom 18. April 2006 - 1 PA 64/06; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 2. Juni 2009 - 11 S 933/09 - InfAuslR 2009, 386). Die Fähigkeit, den Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen zu sichern, ist ein wichtiger Gesichtspunkt. Sie darf aber nicht einseitig in den Vordergrund gerückt werden, so dass andere Umstände unberücksichtigt bleiben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. Februar 2011 - 2 BvR 1392/10 -, InfAuslR 2011, 235 237> Rn. 21).

Vergleicht man anhand dieser Maßstäbe die Integration des Klägers in Deutschland mit seinen Reintegrationschancen im Irak und wiegt man diese Aspekte gegen das öffentliche Interesse an einer Ausreise des Klägers aus Deutschland ab, kommt man zu dem Ergebnis, dass eine staatlich veranlasste Ausreise ein unverhältnismäßiger Eingriff in das Privatleben des Klägers wäre. [...]

Bei einer Gesamtbetrachtung aller vorgenannten Umstände erscheint der Kläger als gut integriert.

Neben der Integration des Klägers in Deutschland ist aber - wie oben ausgeführt - auch die Möglichkeit seiner Reintegration in das Heimatland in den Blick zu nehmen. Hierbei ist vorliegend festzustellen, dass er beträchtliche Schwierigkeiten haben dürfte, sich wieder in die Lebensverhältnisse des Iraks einzugliedern.

Er hat das Land vor mehr als elf Jahren verlassen. Seither hat sich die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation im Irak infolge des Einmarsches der US-amerikanischen Streitkräfte grundlegend verändert. Der Kläger würde im Falle einer Rückkehr also Verhältnisse vorfinden, die er aus der Zeit vor seiner Ausreise so nicht kennt. Diese Verhältnisse sind überdies für die Reintegration von Flüchtlingen äußerst ungünstig. Nach dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 26. März 2012 sind Rückkehrer nach wie vor Ziel von Gewaltkriminalität, Bedrohungen und Anschlägen, insbesondere in Gegenden, in den ihre Ethnie bzw. religiöse Gruppierung nicht die Mehrheit darstellt. Sie leben in der Regel unter schwierigen Bedingungen. Die weiterhin fragile Sicherheitslage sowie schwerwiegende Defizite in der Versorgung zur Deckung der Grundbedürfnisse sowie im Gesundheits- und Bildungsbereich erschweren die Situation von Rückkehrern im Irak erheblich (Ziff. IV. 2., S. 33). Bei Behinderten muss nach Auskunft des Auswärtigen Amtes trotz gewisser staatlicher Unterstützungsleistungen v.a. die Familie Sorge für Pflege und Unterhalt tragen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach vom 14. März 2011 – 508-516.80/45876 -, juris). Dies stimmt mit den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung überein, wonach er bis zu seiner Ausreise bei seinen Eltern gewohnt habe und von ihnen versorgt worden sei. Seine Eltern seien inzwischen aber beide verstorben; bezüglich seiner Mutter hat der Kläger sogar eine Sterbeurkunde vorgelegt. Der Einzelrichter hat keine konkreten Anhaltspunkte, die die Richtigkeit dieser Aussage in Zweifel ziehen. Aber selbst wenn man den Tod der Eltern für nicht ausreichend nachgewiesen hält, müssten die Eltern des Klägers jedenfalls in einem Alter sein, in dem sie nach allgemeiner Lebenserfahrung eher selbst auf Pflege und Unterstützung angewiesen sind, als dass sie ihrerseits noch ein erwachsenes behindertes Kind pflegen und unterstützen können. Daneben hat der Kläger im Irak noch einen Bruder, mit dem er telefonisch in Kontakt steht. Dieser Bruder hat jedoch eine eigene Familie zu versorgen. Es ist daher nicht anzunehmen, dass er sich in größerem Umfang und über längere Zeit einem behinderten Bruder annehmen will und kann, der nach fast zwölfjährigem Auslandsaufenthalt, während dessen nur telefonischer Kontakt bestand, aus Europa zurückkehrt. Der Einzelrichter ist daher davon überzeugt, dass dem Kläger keine nachhaltige familiäre Unterstützung im Irak zur Verfügung stehen wird. Eine Reintegration wird sich gerade für ihn daher als sehr schwierig darstellen.

Diese Erwägungen sind nicht etwa deswegen unstatthaft, weil zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse im Rahmen des § 25 Abs. 5 AufenthG grundsätzlich außer Betracht zu bleiben haben und im Falle des Klägers überdies aufgrund des bestandskräftigen Widerrufsbescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 4. Juli 2005 feststeht, dass ihm im Irak keine nach § 60 AufenthG relevanten Gefahren drohen. Es geht dem erkennenden Gericht mit den vorstehenden Ausführungen nicht darum festzustellen, ob dem Kläger bei einer Rückkehr in den Irak Gefahren im Sinne des § 60 AufenthG drohen. § 60 AufenthG normiert Voraussetzungen, unter denen keinem Ausländer die Rückkehr in sein Heimatland abverlangt werden kann. Ob der Ausländer gut in Deutschland integriert ist oder nicht, spielt hierfür keine Rolle. Auch ein Ausländer, der gerade erst in Deutschland angekommen ist und weder die deutsche Sprache spricht noch sonst mit den hiesigen Lebensverhältnissen vertraut ist, braucht nicht auszureisen, wenn ihm in seiner Heimat Gefahren im Sinne des § 60 AufenthG drohen. Beim Kläger geht es vorliegend dagegen darum, im Rahmen von § 25 Abs. 5 AufenthG und Art. 8 EMRK festzustellen, ob von ihm angesichts des guten Integrationsstandes, den er in Deutschland bereits erreicht hat, und der Umstände, die eine Reintegration im Heimatland erschweren, die Rückkehr verlangt werden kann. Hierbei können auch Probleme im Heimatland berücksichtigt werden, die unterhalb der Schwelle des § 60 AufenthG liegen. Sie führen allerdings nicht per se zu einer rechtlichen Unzumutbarkeit der Ausreise, sondern nur, wenn sie mit einer guten Integration in Deutschland und einem im Verhältnis dazu geringen öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung zusammen treffen.

Im Falle des Klägers treffen eine gute Integration in Deutschland, erhebliche Schwierigkeiten bei der Reintegration im Irak und ein vergleichsweise geringes öffentliches Interesse an der Aufenthaltsbeendigung zusammen. Dass öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung besteht im Falle des Klägers vor allem darin, dass Ausländer, die noch keine Niederlassungserlaubnis erhalten haben, Deutschland grundsätzlich wieder verlassen sollen, wenn der ursprüngliche Zweck ihres Aufenthalts (hier: die Gefahr politischer Verfolgung im Irak) entfallen ist, zumal dann, wenn sie ihren Lebensunterhalt nicht eigenständig sichern. Dieses generelle öffentliche Anliegen ist aber nicht so gewichtig, dass es nicht im Einzelfall zurücktreten könnte, wenn ein Ausländer – wie der Kläger - viele Jahre rechtmäßig in Deutschland gelebt hat, die zeitlichen Voraussetzungen für eine Niederlassungserlaubnis nur knapp verfehlt hat, bei einer Gesamtbetrachtung aller Umstände trotz der mangelnden Lebensunterhaltssicherung als gut integriert erscheint und erhebliche Schwierigkeiten bei der Reintegration in seiner Heimat hätte. Stärker wäre das öffentliche Aufenthaltsbeendigungsinteresse dagegen zu gewichten, wenn vom Kläger wegen drohender Straftaten eine aktuelle Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausginge. Dies ist aber – wie oben dargelegt – nicht der Fall. Daher ist auch unschädlich, dass der Kläger trotz seiner erheblichen Integrationserfolge sicherlich noch nicht den Status eines "faktischen Inländers" erlangt hat. Der Maßstab des "faktischen Inländers" wurde vom Bundesverwaltungsgericht und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Ausweisungsfällen entwickelt, in denen aufgrund der schweren Straftaten des Ausländers ein erhebliches Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung bestand (vgl. z. B. BVerwG, Urteil vom 29. September 1998 - 1 C 8.98 -, InfAuslR 1999, 54 56 f.>). Entsprechend konnte dort auch nur eine ganz außergewöhnliche Integration das Interesse an der Entfernung des Ausländers aus dem Gastland aufwiegen. In Fällen wie dem vorliegenden, in denen der Ausländer nur vor längerer Zeit geringfügig straffällig wurde und keine Wiederholung zu befürchten ist, ist das öffentliche Interesse an seiner Ausreise dagegen viel geringer, so dass auch seine Verwurzelung in Deutschland etwas geringer sein kann, um im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK noch zu überwiegen (vgl. EGMR, Urteil vom 16. Juni 2005 - 60654/00 - Sisojeva /. Lettland, EuGRZ 2006, 554 558>).

Der Kläger ist somit im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG aus rechtlichen Gründen an der Ausreise gehindert.

Der Kläger erfüllt die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 Nr. 1a und 4 AufenthG. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG steht der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen, weil die eher geringfügige Straffälligkeit des Klägers in der Vergangenheit – wie oben dargelegt – als überwunden erscheint und von ihm daher keine aktuelle Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht (vgl. zum Erfordernis einer aktuellen Gefahr Dienelt, in: Renner, AuslR, 9. Aufl., § 5 AufenthG Rdnrn. 35, 38). In Bezug auf § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG liegt wegen der erheblichen körperlichen Behinderung des Klägers ein atypischer Ausnahmefall vor.

Damit "soll" dem Kläger, dessen Abschiebung nun schon seit dem 13. Oktober 2010 ausgesetzt ist, gem. § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Atypische Umstände, die es erlauben von dieser Soll-Regelung abzusehen, sind nicht ersichtlich.