OVG Mecklenburg-Vorpommern

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Zitieren als:
OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 01.06.2011 - 2 O 28/11 - asyl.net: M20214
https://www.asyl.net/rsdb/M20214
Leitsatz:

Nach bestandskräftig abgeschlossenem Asylverfahren ist § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG streitentscheidende Anspruchsnorm für das Begehren eines Ausländers, der im Besitz einer Duldung nach § 60 a Abs. 2 AufenthG ist, dezentral Wohnsitz nehmen zu dürfen.

§ 51 Abs. 1 Nr. 6 a SGG ist bei einem Verpflichtungsbegehren auf Erteilung der Erlaubnis, außerhalb einer Gemeinschaftsunterkunft Wohnsitz nehmen zu dürfen, nicht einschlägig.

Auch sozialhilferechtliche Erwägungen können Bestandteil der nach § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG anzustellenden Interessenabwägung sein, ohne die Rechtsnatur des ausländerrechtlichen Verfahrens zu ändern.

Der Grundsatz der Einheit der Kostenentscheidung nach § 17 b Abs. 2 Satz 1 GVG findet im Verfahren der Rechtswegbeschwerde keine Anwendung.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Asylverfahren, bestandskräftig abgeschlossenes Asylverfahren, abgeschlossenes Asylverfahren, Sozialhilfebezug, Sozialleistungen, sozialhilferechtliche Erwägungen, Duldung, Nebenbestimmung, Wohnsitzauflage, Gemeinschaftsunterkunft, Aufnahmeeinrichtung,
Normen: SGG § 51 Abs. 1 Nr. 6 a, AufenthG § 61 Abs. 1 S. 2, GVG § 17 b Abs. 2 S. 1, AsylVfG § 53, AufenthG § 60a Abs. 2, AufenthG § 61 Abs. 1 S. 2,
Auszüge:

[...]

Der Kläger wendet sich gegen die als Nebenbestimmung seiner ausländerrechtlichen Duldung verfügte, selbständig anfechtbare (vgl. Beschluss des Senats vom 21. August 2009 - 2 M 105/09 -; Kessler, in: Hofmann/Hoffmann, AuslR, § 61 Rn. 27) sog. Wohnsitzauflage. Er beansprucht nicht nur im Wege einer reinen Anfechtungsklage, sondern weitergehend im Rahmen einer Verpflichtungsklage eine fehlerfreie Ermessensentscheidung über das von ihm geltend gemachte Begehren, entgegen der bisher verfügten Verpflichtung, dezentral Wohnsitz nehmen zu dürfen. Auch wenn die Ablehnung des Antrags auf dezentrale Unterbringung im Bescheid des Beklagten vom 13. Oktober 2008 ausschließlich auf § 53 AsylVfG gestützt worden ist, bestimmt sich die Rechtsnatur der begehrten Maßnahme oder Entscheidung danach in welchem Rechtsgebiet sie ihre rechtliche Grundlage hat. Bezogen auf den vorliegenden Fall ist bereits die Pflicht zur Wohnsitznahme in einer Gemeinschaftsunterkunft auf die erteilte ausländerrechtliche Wohnsitzauflage in der dem Kläger erteilten Duldung zurückzuführen. Da hier das Asylverfahren des Klägers bestandskräftig (negativ) abgeschlossen ist, richtet sich sein Anspruch nicht nach § 53 AsylVfG, wonach die regelmäßige Verpflichtung zur Unterbringung von Asylbewerbern in einer Gemeinschaftseinrichtung nach deren Umverteilung besteht. Vielmehr sind streitentscheidende Anspruchsnormen für das Begehren auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Rücknahme oder den Widerruf (vgl. Beschluss des Senats vom 21. August 2009 - 2 M 105/09 -, m.w.N.) der zunächst bestandskräftig gewordenen räumlichen Beschränkung nach abgeschlossenem Asylverfahren eines Ausländers der im Besitz einer Duldung ist (§ 60 a Abs. 2 AufenthG), die Regelungen der §§ 48, 49 VwVfG M-V i.V.m. § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG, also letztlich des Ausländerrechts. Insoweit hat das Verwaltungsgericht in seinem hier angegriffenen Beschluss vom 26. Januar 2011 zutreffend darauf abgestellt, dass sich das Rechtsschutzbegehren des Klägers, das auf eine Verpflichtung des Beklagten gerichtet ist, hier auf § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG stützt.

Anspruchsgrundlage für die vom Kläger begehrte Unterbringung außerhalb einer Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber sind auch nicht Vorschriften des Asylbewerberleistungsgesetzes. Denn der Kläger begehrt in dem zugrunde liegenden Rechtsstreit nicht schon als Leistungsberechtigter i.S.d. § 1 Nr. 4 a AsylbLG Grundleistungen der Sozialbehörde, sondern vielmehr das auch in § 3 Abs. 1 AsylbLG zunächst vorausgesetzte Einverständnis der zuständigen (Ausländer-)Behörde unter Aufhebung der bisherigen Wohnsitzauflage, dezentral Wohnsitz nehmen zu dürfen.

Die Frage, ob die demnach zuständige Ausländerbehörde über das Widerrufs- bzw. Rücknahmebegehren des Klägers hinsichtlich der Wohnsitzauflage entschieden hat, oder ggf. eine unzuständige Stelle tätig geworden ist, ist keine Frage, die die Rechtswegeröffnung zu den Verwaltungsgerichten berührt. Denn die Frage, ob eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art zugrunde liegt, für die keine abdrängende Sonderzuweisung zu den Sozialgerichten besteht, ist ausschließlich anhand der streitentscheidenden Norm für das Begehren des Klägers zu entscheiden (a.A. LSG Neubrandenburg, Beschl. vom 15. Dezember 2005 - L 9 B 85/06 -, S. 2 f. UA). Ob durch eine unzuständige Behörde oder aufgrund einer nicht einschlägigen Ermächtigungsgrundlage formell- oder materiell-rechtlich fehlerhaft über einen Anspruch eines Klägers im Rahmen seines Verpflichtungsbegehrens entschieden wurde, ist ebenso wenig für die Eröffnung des Verwaltungsgerichtswegs erheblich, wie der mit der Beschwerdebegründung für den hier vorliegenden Einzelfall betonte Schwerpunkt der maßgeblichen Erwägungen in sozialhilferechtlichen Aspekten. Dass im Rahmen eines Anfechtungsbegehrens andere Maßstäbe gelten mögen (vgl. BVerwG, Urt. v. 31. März 1992 – 9 C 155/90 -, zit. nach juris Rn. 13; Beschl. des Senats vom 17. Februar 2004 - 2 L 261/03 -, zit. nach juris, Rn. 3) ist hier nicht maßgeblich.

Auch wenn im Rahmen einer Entscheidung nach § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG sozialhilferechtliche Erwägungen angestellt werden und diese im Einzelfall sogar ausschlaggebend sein können, bleibt es doch bei dem Charakter einer ausländerrechtlichen Entscheidung, die der Kläger erreichen will. Denn die zuständigen Ausländerbehörden haben im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung über eine Ausnahme von der als Regelfall normierten Verpflichtung, in einer Gemeinschaftsunterkunft zu wohnen und der Erteilung einer Erlaubnis, sich eine eigene Wohnung nehmen zu dürfen, eine Interessenabwägung zwischen den öffentlichen Belangen einerseits und den privaten Interessen des Ausländers andererseits vorzunehmen. Dabei gehören zu den berücksichtungsfähigen öffentlichen Interessen grundsätzlich auch finanzwirtschaftliche Gründe, wie die an der Finanzierung bzw. Auslastung von Gemeinschaftsunterkünften, an einer günstigeren Grundleistungserfüllung oder ggf. wohnungsmarktpolitische Gründe (vgl. Kessler, a.a.O., § 53 AsylVfG Rn. 12 ff.). Dass diese gegen z.B. dringende Interessen des Ausländers an einem Privatleben, gewichtige gesundheitliche Aspekte oder aber eine besonders lange Verfahrensdauer abzuwägen sind, hat auf die Rechtsnatur der Entscheidung der Ausländerbehörde keinen Einfluss. Vielmehr dient auch die Einbeziehung des Sozialamtes in die Entscheidung der zuständigen Ausländerbehörde gerade der sorgfältigen Interessenabwägung unter Ausnutzung des spezifischen Sachverstandes jenes Amtes. Dies auch deshalb, weil mit der Entscheidung der Ausländerbehörde die tatbestandliche Voraussetzung des notwendigen Bedarfs i.S.d. § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG jedenfalls insoweit vorgezeichnet werden, als die Notwendigkeit später von Seiten der Sozialbehörde nicht mehr unter Hinweis auf die grundsätzliche Pflicht zur Wohnsitznahme in einer Gemeinschaftsunterkunft verneint werden kann (vgl. LSG Dresden, Beschl. vom 23. Oktober 2008 - L 7 B 547/08 AY/ER -, zit. nach juris Rn. 15).

Dem steht auch letztlich die in der Beschwerdebegründung herangezogene Entscheidung des 1. Senats (Beschl. v. 22. Juli 2008 - 1 O 108/08 -) nicht entgegen. In jenem Beschluss wurde lediglich im Rahmen einer Beschwerde wegen der Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren nach Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache erwähnt, dass zutreffenderweise die Erwägung angestellt worden sei, den Streit als asylbewerberleistungsrechtliche Sache anzusehen. Darin vermag der erkennende Senat nicht die Feststellung erkennen, dass es sich - in jenem Verfahren - um eine asylbewerberleistungsrechtliche Angelegenheit gehandelt hat. [...]