VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 28.11.2012 - A 6 K 1826/12 - asyl.net: M20228
https://www.asyl.net/rsdb/M20228
Leitsatz:

Flüchtlingsschutz aufgrund der glaubhaften Befürchtung religiös motivierter Verfolgung von Ahmadis in Pakistan.

Schlagwörter: Pakistan, Ahmadiyya, Religionsgemeinschaft, Religionszugehörigkeit, religiöse Verfolgung, öffentliche Glaubensbetätigung, EuGH,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1 S. 1, GFK Art. 33, RL 2004/83/EG Art. 13, RL 2004/83/EG Art. 2 Bst. c,
Auszüge:

[...]

II. Nach diesen Maßgaben ist das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu bejahen. Eine für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG i.V. mit Art. 33 GFK und Art. 13 der RL 2004/83/EG erforderliche relevante Verfolgungsgefahr bzw. eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Beeinträchtigung oder Schädigung i.S.d. Kapitel II und III der Richtlinie 2004/83/EG. ist für die Kläger prognostisch zu besorgen; eine begründete Verfolgungsfurcht im dargelegten Sinne liegt vor. Die Kläger gehören zur Überzeugung des Gerichts zu dem Kreis der bekennenden Ahmadis, die zu ihrem Glauben in innerer und verpflichtender Verbundenheit stehen; sie wären im Falle einer Rückkehr nach Pakistan individuell von den dort bestehenden Einschränkungen der öffentlichen Glaubensbetätigung unmittelbar betroffen.

1. Die Kläger berufen sich im Wesentlichen auf die Befürchtung religiös motivierter Verfolgung. Der VGH Baden-Württemberg (Urteil vom 13.12.2011 - A 10 S 69/11 -) geht bei der Prüfung von Verfolgungsgründen mit religiösen Bezügen von folgenden Grundsätzen aus:

"Art. 10 QRL definiert in Anknüpfung an Art. 2 Buchst. c QRL die flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgungsgründe. Im vorliegenden Zusammenhang ist insbesondere der Schutz der Religionsausübung gemäß Art. 10 Abs. 1 Buchst. b QRL maßgeblich. Danach umfasst der Begriff der Religion insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Die Bestimmung des Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie definiert, was unter dem Verfolgungsgrund der Religion zu verstehen ist, d. h. an welche religiösen Einstellungen oder Betätigungen eine Verfolgungshandlung anknüpfen muss, um flüchtlingsrechtlich beachtlich zu sein. Die Vorschrift gewährleistet dabei bereits nach ihrem Wortlaut für den Einzelnen einen sehr weitgehenden Schutz, wenn sie sowohl die Entscheidung, aus innerer Überzeugung religiös zu leben, wie auch die Entscheidung, aufgrund religiösen Desinteresses jede religiöse Betätigung zu unterlassen, schützt und dem Einzelnen zubilligt, dass er sich zu seiner religiösen Grundentscheidung auch nach außen bekennen darf, insbesondere auch die Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen erfasst wird. Wie im Urteil vom 20.05.2008 (A 10 S 3032/07 - a.a.O.) näher dargelegt, dürfte die Vorschrift nach ihrem eindeutigen Wortlaut über den Schutz hinausgehen, der nach der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu Art. 16 a Abs. 1 GG unter dem Aspekt der religiösen Verfolgungsgründe eingeräumt wurde, jedenfalls wenn nicht die Gefahr eines Eingriffs in Leib, Leben oder Freiheit aufgrund einer bereits vor Ausreise aus dem Heimatland ausgeübten religiösen Betätigung in Rede steht (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 - BVerwGE 133, 221). Zur Glaubensfreiheit gehört somit nicht nur die Freiheit, einen Glauben zu haben, sondern auch die Freiheit, nach den eigenen Glaubensinhalten und Glaubensüberzeugungen zu leben und zu handeln. Teil der Religionsausübung sind nicht nur alle kultischen Handlungen und die Ausübung sowie Beachtung religiöser Gebräuche, wie Gottesdienst, Sammlung kirchlicher Kollekten, Gebete, Empfang der Sakramente, Prozessionen etc., sondern auch religiöse Erziehung, Feiern und alle Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens in der Öffentlichkeit. Umfasst wird schließlich auch das Recht, den Glauben werbend zu verbreiten und andere von ihm zu überzeugen (vgl. Urteil des Senats vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07 - a.a.O.; sowie Bay.VGH, Urteil vom 23.10.2007 - 14 B 06.30315 - InfAusIR 2008, 101; OVG des Saarlandes, Urteil vom 26.07.2007 - 1 A 227/07 -, juris; OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.12.2010 - 19 A 2999/06.A -, juris).

b) Die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes setzt darüber hinaus voraus, dass eine relevante Verfolgungshandlung des maßgeblichen Verfolgers (vgl. hierzu Art. 6 f. QRL) festgestellt wird, die allein oder in der Gesamtheit mit anderen Verfolgungshandlungen eine schwerwiegende Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts ausmacht (vgl. Art. 9 Abs. 1 Buchst. a und b QRL), wobei in Art. 9 Abs. 2 QRL beispielhaft verschiedene in Betracht zu ziehende Verfolgungshandlungen benannt werden. Erst an dieser Stelle erweist sich im jeweils konkreten Einzelfall, sofern auch die nach Art. 9 Abs. 3 QRL erforderliche Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund festgestellt werden kann, ob der oder die Betreffende die Flüchtlingseigenschaft besitzt. Eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit liegt in jedem Falle dann vor, wenn der Gläubige so schwerwiegend an der Ausübung seines Glaubens gehindert wird, dass das Recht auf Religionsfreiheit in seinem Kernbereich verletzt wird. Der Kern der Religionsfreiheit ist für die personale Würde und Entfaltung eines jeden Menschen unverzichtbar und gehört damit zum menschenrechtlichen Mindeststandard. Er ist nach ständiger Rechtsprechung unveräußerlich und nach Art. 9 Abs. 2 EMRK nicht einschränkbar (vgl. zu den Einzelheiten etwa BVerfG, Beschluss vom 01.07.1987 - 2 BvR 478/86 - BVerfGE 76, 143 158 f f > ; sowie BVerwG, Urteile vom 20.01.2004 - 1 C 9.03 - BVerwGE 120, 16 und vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 - a.a.O.). Wird dieser Kernbereich verletzt, ist in jedem Fall eine schwerwiegende Rechtsverletzung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie zu bejahen und dementsprechend Flüchtlingsschutz zu gewähren. Der in Art. 9 Abs. 2 QRL entfaltete beispielhafte Katalog (insbesondere Buchst, b und d) möglicher Verfolgungshandlungen macht jedoch deutlich, dass eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung nicht nur dann gegeben ist, wenn durch die Verfolgungshandlung - von Eingriffen in Leib oder Leben abgesehen - in die physische Bewegungsfreiheit eingegriffen wird, und dass der in § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG verwendete Begriff der Freiheit nicht in diesem engen Sinne verstanden werden kann. Vielmehr können erhebliche Einschränkungen oder Verbote öffentlicher Glaubensbetätigung, die nach dem Verständnis der jeweiligen Religion oder dem - nicht notwendigerweise völlig identischen - glaubhaft dargelegten Verständnis des einzelnen Flüchtlings von grundlegender Bedeutung sind, zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen, sofern sie nicht in völkerrechtskonformer Ausübung der jeweiligen Schrankenregelungen erfolgen. Insbesondere kann hiernach den Betroffenen nicht angesonnen werden, diese zu unterlassen, um keine entsprechend vorgesehenen Sanktionen herauszufordern."

Der VGH Baden-Württemberg hat in seinem Urteil vom 20.05.2008 - A 10 S 3032/07 - die Situation für Ahmadis in Pakistan und die Rahmenbedingungen für ihre dortige Religionsausübung, die in der Sache eine nahezu umfassende Verweigerung des Rechts auf öffentliche Meinungsäußerung, Religionsausübung und Versammlungsfreiheit darstellen, ausführlich beschrieben. Auf die dortige - den Beteiligten bekannte - Darstellung der Sachlage wird zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen. Daran hat sich seither auch nichts in entscheidungserheblicher Weise geändert (vgl. dazu auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13.12.2011 - A 10 S 69/11 -). Nach der Rechtsprechung des VGH Baden-Württemberg kann bereits die aktuelle Lage in Pakistan als solche für einen dem Glauben eng und verpflichtend verbundenen und in diesem verwurzelten Ahmadi, zu dessen Glaubensüberzeugung es auch gehört, den Glauben in der Öffentlichkeit zu leben und in diese zu tragen, eine schwerwiegende Menschrechtsverletzung jedenfalls im Sinne einer kumulierenden Betrachtung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 lit. b QRL darstellen.

Die dieser Rechtsauffassung zugrunde liegenden Prämissen sind vom EuGH in seinem Urteil vom 05.09.2012 - C-71/11 und C-99/11 - nicht beanstandet, sondern in der Sache letztlich bestätigt worden. Die Kläger der zugrunde liegenden Vorabentscheidungsersuchen waren nach den Feststellungen des OVG mit ihrem Glauben eng verbunden und hatten ihn in Pakistan aktiv gelebt. Der EuGH stellt nicht auf die Betroffenheit eines "Kernbereichs" der Religionsfreiheit ab, sondern auf die Art der Repressionen, denen der Betroffene ausgesetzt ist oder ausgesetzt zu werden droht, und deren Folgen. Das Verbot einer Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich kann eine hinreichend gravierende Verfolgung darstellen, wenn die Teilnahme die tatsächliche Gefahr heraufbeschwört, dass der Betroffene verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen wird. Bei der Prüfung einer solchen Gefahr ist auch die subjektive Sichtweise des Betroffenen ein relevanter Gesichtspunkt, wenn etwa die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis für ihn zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist. Weiter hat der EuGH betont, dass die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist, sobald feststeht, dass sich der Betroffene nach Rückkehr in sein Herkunftsland in einer Art und Weise religiös betätigen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzen wird. Grundsätzlich irrelevant ist dabei, ob er die Gefahr durch Verzicht auf bestimmte religiöse Betätigungen vermeiden könnte. [...]