OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Beschluss vom 06.11.2012 - 3 D 45/12 - asyl.net: M20236
https://www.asyl.net/rsdb/M20236
Leitsatz:

Die allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzende Frist ist gemäß § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu bestimmen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht.

Schlagwörter: Sperrwirkung, Ausweisung, Befristung, Wirkung der Ausweisung, Gefährdung der öffentlichen Ordnung, schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Eltern-Kind-Verhältnis, Vater-Kind-Beziehung, deutsches Kind, Sorgerecht, spezialpräventiv,
Normen: GG Art. 6 Abs. 1, AufenthG § 11 Abs. 1 S. 4,
Auszüge:

[...]

Ausgehend von diesem Prüfungsmaßstab bietet die Klage des Klägers - wovon das Verwaltungsgericht zu Recht ausgegangen ist - gegen den Bescheid der Beklagten vom 22. November 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids der Landesdirektion Dresden vom 28. Juni 2011, mit welchem die Sperrwirkung der gegen ihn am 25. Mai 2004 erlassenen Ausweisungsverfügung für die Dauer von "einem Jahr nach der Ausreise" befristet wurde, keine hinreichenden Erfolgsaussichten. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, die Festsetzung der Sperrfrist begegne keinen durchgreifenden Bedenken. Die Schutzwirkungen des Art. 6 GG und des Art. 8 EMRK seien hinreichend berücksichtigt worden. Der Kläger habe mit seinem Sohn bislang nie in häuslicher Gemeinschaft zusammengelebt. Vielmehr hätten die Kontakte zwischen Vater und Sohn während der Haft des Klägers (31. März 2006 bis 1. April 2010) und auch in der übrigen Zeit lediglich im Besuchswege stattgefunden. Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht des Umstandes, dass der Sohn des Klägers am 15. Oktober 2012 bereits acht Jahre alt werde, erscheine eine weitere einjährige Trennungszeit zwischen Vater und Sohn zumutbar. Aufgrund des fortgeschrittenen Alters des Kindes könne der Kontakt zwischen dem Kläger und seinem Sohn während der Trennungszeit sowohl telefonisch, postalisch als auch ggf. über das Internet stattfinden.

Der Kläger, der seine Beschwerde gegen den angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts nicht begründet hat, hatte zur Begründung seiner gegen den Bescheid der Beklagten gerichteten Klage vorgetragen, er verfolge sein Ziel, die Sperrwirkung auf eine Dauer von wenigen Wochen befristen zu lassen, weiter. Die von der Beklagten festgesetzte Sperrfrist von einem Jahr habe Auswirkungen, die der Gesetzgeber so nicht beabsichtigt habe. Man müsse dabei die Gesamtsituation in den Blick nehmen. Einem Vollzug der Ausweisung stünde bis auf weiteres das Wohl eines siebenjährigen Schulkindes entgegen, zumal mit Hilfe "sozial erfahrener Personen" die Vater-Kind-Beziehung nach Verbüßung seiner Haftstrafe stabilisiert werden müsse. Dagegen wäre eine längere Unterbrechung kontraproduktiv. Der Beziehungsfaden würde voraussichtlich abreißen. Dies führe praktisch dazu, dass ein minderer aufenthaltsrechtlicher Status (Duldung) zum Dauerbehelf werde. Das strahle aber wiederum sehr negativ zurück sowohl auf die Rehabilitierung des Klägers insgesamt, als auf seine Beziehungen zum Kind. Die Pflichten seinem Kind gegenüber hinderten ihn daran, der Ausreiseaufforderung Folge zu leisten. Sein mangelhafter Status behindere die Beziehungen zu seinem Kind und die "soziale Rehabilitierung" insgesamt. Das beginne schon bei ganz praktischen Anreiseproblemen, denen ein Duldungsinhaber, der auf Asylbewerberleistungen gestellt sei, ausgesetzt werde, und "gehe hin bis zu psychischen Dekompensationen". Aus seiner Sicht gebiete dies zwingend eine weitere Verkürzung der Sperrfrist. Es stelle keine gewollte und auch keine statthafte Form der Abschreckung dar, die tatsächlichen Bindungen eines Ausländers zu seinem Kind und seine Wiedereingliederung in ein bürgerliches Leben zu erschweren. Maßstab der Sperrdauer sei die Frage, ob und ggf. wie lange Gefahren für die Allgemeinheit tatsächlich drohten und vermieden werden müssten, aber nicht eine ersatzstrafenähnliche Wirkung der Befristung. Aus diesem Grund müsse die Sperrdauer soweit verkürzt werden, dass er der Ausreiseaufforderung folgen könne, ohne die Kontinuität der Vater-Kind-Beziehung zu unterbrechen.

Das gegen den angefochtenen Bescheid der Beklagten gerichtete Vorbringen des Klägers ist nicht geeignet, Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit aufkommen zu lassen.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts gewährt Art. 6 Abs. 1 GG zwar unmittelbar keinen Anspruch auf Aufenthalt (BVerfG, Beschl. v. 31. August 1999, AuAS 2000, 43; BVerwG, Urt. v. 9. Dezember 1997, NVwZ 1998, 748 m.w.N.), sondern enthält die wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, und verpflichtet die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d. h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Gleichzeitig ist in der höchstricherlichen Rechtsprechung anerkannt, dass bei schwerwiegender Straffälligkeit der Schutz der Familie gemäß Art. 6 Abs. 1 GG einer Ausweisung grundsätzlich nicht entgegensteht (BVerwG, Beschl. v. 27. Juni 1997 - 1 B 123/97 -, juris; vgl. auch BayVGH, Urt. v. 3. Mai 2005 - 24 B 04.2037 -, juris). Je gewichtiger das öffentliche Interesse an der Vollziehung einer Ausweisung ist, umso eher dürfen dem Ausländer und seiner Familie auch schwerwiegende Folgen zugemutet werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 29. September 1998, NVwZ 1999, 303; SächsOVG, Beschl. v. 7. April 2011 - 3 D 159/10 -, juris).

Die allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzende Frist ist gemäß § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu bestimmen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht (zu der zuletzt genannten Voraussetzung vgl. Art. 11 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 2008/115/EG). Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die sich an der Erreichung des Ausweisungszwecks orientierende Höchstfrist muss sich aber an höherrangigem Recht, d. h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und den Vorgaben aus Art. 7 GRCh, Art. 8 EMRK messen und ggf. relativieren lassen. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und den Verwaltungsgerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen. Dabei sind insbesondere die in § 55 Abs. 3 Nr. 1 und 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen. Die Abwägung ist nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls im Zeitpunkt der Behördenentscheidung vorzunehmen bzw. von den Verwaltungsgerichten zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. Entscheidung des Gerichts zu überprüfen oder bei fehlender behördlicher Befristungsentscheidung durch eine eigene Abwägung als Grundlage des Verpflichtungsausspruchs zu ersetzen (BVerwG, Urt. v. 10. Juli 2012 - 1 C 19/11 -, juris Rn. 42).

Ausgehend von diesen Vorgaben bestehen auch unter Berücksichtigung der im Klageverfahren vorgebrachten Einwände des Klägers keine durchgreifenden Bedenken gegen die Befristungsentscheidung der Beklagten. Zu Recht hat die Beklagte in ihre Abwägung eingestellt, dass der Kläger im Zeitraum von 2004 bis 2008 insgesamt zehnmal rechtskräftig verurteilt wurde. Insbesondere ist er - zuletzt - am 24. Juni 2008 vom Landgericht Chemnitz zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und zwei Monaten wegen schweren Bandendiebstahls in vier Fällen, Diebstahls in einem besonders schweren Fall, Computerbetrug in 18 Fällen und Betrug in vier Fällen verurteilt worden, womit er zwischenzeitlich den Tatbestand einer zwingenden Ausweisung verwirklicht hat (§ 53 Nr. 1 AufenthG). Auch fällt zu seinen Lasten ins Gewicht, dass er auch nach der Geburt seines Kindes weiterhin straffällig geworden ist und seine Straftaten an Schwere eher zugenommen haben. Demgegenüber ist zu seinen Gunsten und somit fristverkürzend zu berücksichtigen, dass der Kläger sorgeberechtigter Vater eines deutschen Kindes ist.

Auch ist den ergänzenden Erwägungen des Verwaltungsgerichts in vollem Umfang zuzustimmen. So ist in den Blick zu nehmen, dass der Sohn des Klägers inzwischen schon acht Jahre alt ist und demzufolge eine vorübergehende Trennung verkraften kann, zumal er während der Zeit der Trennung auch telefonisch mit seinem Vater Kontakt halten kann. Schließlich darf nicht außer Betracht gelassen werden, dass der Kläger bislang nie in häuslicher Gemeinschaft mit seinem Sohn zusammengelebt hat und die Kontakte zwischen ihm und seinem Sohn während der Haft (31. März 2006 bis 1. April 2010) und auch in der übrigen Zeit lediglich im Besuchswege stattgefunden haben, somit von einer eher lockeren Beziehung zwischen beiden auszugehen ist. [...]