OLG Dresden

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Zitieren als:
OLG Dresden, Beschluss vom 19.12.2011 - OLG Ausl 219/11 - asyl.net: M20237
https://www.asyl.net/rsdb/M20237
Leitsatz:

Zur Frage, ob die Zulässigkeitsvoraussetzung des § 83 Nr. 4 IRG durch die nach §§ 516 ff. der polnischen Strafprozessordnung vorgesehene Möglichkeit einer Begnadigung erfüllt ist.

Amtlicher Leitsatz

Schlagwörter: Polen, Auslieferung, Begnadigung, polnische Strafprozessordnung, Strafprozessrecht, Auslieferungshaft, lebenslange Freiheitsstrafe, lebenslange Haftstrafe, Bundesgerichtshof, Anrufung des Bundesgerichtshofs,
Normen: IRG § 83 Nr. 4, IRG § 33 Abs. 1, IRG § 33 Abs. 4, IRG § 42 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Der Senat hat am 18. November 2011 gegen den Verfolgten die Auslieferungshaft zum Zwecke der Auslieferung zur Strafverfolgung an die Republik Polen angeordnet. Dem Verfolgten werden unter anderem Mord und versuchter Mord vorgeworfen. Ihm droht in der Republik Polen im Falle einer Verurteilung lebenslange Freiheitsstrafe.

Mit Schreiben seines Beistandes vom 30. November 2011 hat der Verfolgte beantragt, erneut über die Zulässigkeit der Auslieferung gemäß § 33 Abs. 1 IRG zu entscheiden sowie einen Auslieferungsaufschub nach § 33 Abs. 4 IRG anzuordnen. Der Verfolgte begründet seine Anträge mit der Entscheidung des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 10. August 2011 (StraFo 2011, 350), das dem Bundesgerichtshof gemäß § 42 Abs. 1 IRG die Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt hat, ob die ergänzende Zulässigkeitsvoraussetzung des § 83 Nr. 4 IRG durch die nach Artikel 516 ff. der polnischen Strafprozessordnung vorgesehene Möglichkeit einer - gemäß Artikel 139 der polnischen Verfassung dem Präsidenten der Republik vorbehaltenen - Begnadigung erfüllt ist.

Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Sie hat mit Schrift vom 12. Dezember 2011 beantragt, den Antrag auf erneute Entscheidung über die Zulässigkeit zurückzuweisen, weil kein Fall des § 33 IRG gegeben sei. Die polnischen Behörden seien um eine Zusicherung gebeten worden, dass im Falle des Verfolgten eine Überprüfung der weiteren Vollstreckung einer möglicherweise verhängten lebenslangen Freiheitsstrafe bereits nach zwanzig Jahren erfolgen wird.

Mit Schreiben seines Beistandes vom 14. Dezember 2011 hat der Verfolgte nunmehr mit Blick auf das Vorlageverfahren angeregt, die Sache dem Bundesgerichtshof zur gemeinsamen Entscheidung vorzulegen. Hilfsweise hat er beantragt, die Entscheidung auszusetzen und die Entscheidung des Bundesgerichtshofes in dem Vorlageverfahren abzuwarten. Gleichzeitig hält er seinen Antrag auf Entscheidung über einen Auslieferungsaufschub aufrecht.

II.

1. Der Senat sieht von einer Anrufung des Bundesgerichtshofes gemäß § 42 Abs. 1 IRG ab. Er teilt nicht die Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts Düsseldorf. Aus dem Wortlaut des Art. 5 Nr. 2 Rb-EuHb ergibt sich nicht, dass allein eine gerichtliche Überprüfung der Aussetzung des Strafrestes in Betracht kommt. Eine solche Einschränkung sah auch nicht der ursprüngliche Gesetzentwurf der Bundesregierung zu § 83 b Nr. 4 IRG a.F. (BTDrs. 15/1718) vor. Vielmehr war für den Gesetzgeber entscheidend, dass ein Rechtsanspruch auf Überprüfung besteht und die immer bestehende Möglichkeit einer Begnadigung hierfür nicht ausreichend sei. Vielmehr kann sich danach der Rechtsanspruch auch aus einer gesetzlichen Vorschrift des ersuchenden Staates, aus seiner Rechtspraxis oder, im Falle der Zusicherung einer Überprüfung im Auslieferungsverfahren, aus der allgemeinen Pflicht zur Einhaltung bindender völkerrechtlicher Zusagen ergeben (BT-Drs. 15/1718, S. 21). Damit wird auch nach dem Willen des Gesetzgebers keine gerichtliche Überprüfung verlangt. Vielmehr dürfte sich der Ausschluss des Gnadenaktes auf rein willkürliche und nicht auf eine durch gesetzliche Vorschriften oder eine Rechtspraxis gestützte Überprüfungen beziehen. Nachdem das Bundesverfassungsgericht das erste Europäische Haftbefehlsgesetz für nichtig erklärt hatte (NJW 2005, 2289), ist der Gesetzgeber in der Begründung zu der wortgleichen Bestimmung des darauf notwendigen neuen Gesetzentwurfs nunmehr sogar davon ausgegangen, dass über eine Bedingung bei der Auslieferung die Einhaltung einer fristgerechten Überprüfung, beispielsweise im Gnadenweg, sichergestellt werden kann (BT-Drs. 16/1024, S. 13). [...]

2. Der Senat sieht gleichwohl derzeit davon ab, auf der Grundlage der eigenen Auffassung, die auch durch das Oberlandesgericht Koblenz (Beschluss vom 21. Juni 2007, Az. (1) Ausl-III-41/05 - juris), das Oberlandesgericht Köln (Beschluss vom 27. April 2009, Az. 6 AuslA 25/08 - juris) sowie das Oberlandesgericht Celle (Beschluss vom 10. Oktober 2008, 1 ARs 40/08 (Ausl); Beschluss vom 19. Oktober 2009, 1 ARs 40/09 (Ausl)) gestützt wird, zu entscheiden. Zwar lässt das Gesetz in Fällen, in denen zu erwarten ist, dass der Bundesgerichtshof die streitige Rechtsfrage alsbald entscheiden wird, keine Aussetzung des Verfahrens zu (vgl. KK-Hannich, StPO 6. Aufl. § 121 GVG Rdnr. 41 m.w.N.). Allerdings wird es in diesen Fällen für zulässig erachtet, aus prozessökonomischen Erwägungen die Sache verzögerlich zu behandeln, da in der Regel mit einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs innerhalb von wenigen Monaten nach Eingang der Vorlage gerechnet werden kann (KK-Hannich, § 121 GVG Rdnr. 41).

Vor diesem Hintergrund erscheint es auch im vorliegenden Fall sachgerecht, über den Antrag des Verfolgten auf erneute Zulässigkeitsentscheidung gemäß § 33 IRG derzeit nicht förmlich zu entscheiden.

Der Senat hat dabei den Antrag des Verfolgten auf erneute Zulässigkeitsentscheidung zu seinen Gunsten bereits als Einwendung gegen den Auslieferungshaftbefehl gemäß § 23 IRG gewertet. Der Antrag nach § 33 Abs. 1 IRG auf erneute Entscheidung über die Zulässigkeit hätte sich im derzeitigen Verfahrensstadium als unzulässig erwiesen, weil der Senat noch nicht über die Zulässigkeit der Auslieferung (§ 29 IRG) entschieden hat.

Mit der Zurückstellung der Entscheidung über die Einwendungen entstehen dem Verfolgten derzeit auch keine Nachteile. Der Auslieferungshaftbefehl wird derzeit nicht vollzogen, weil sich der Verfolgte für ein deutsches Strafverfahren in Untersuchungshaft befindet. Im Übrigen würden sich die Einwendungen des Verfolgten auch nur auf die Taten auswirken können, deretwegen dem Verfolgten in der Republik Polen eine lebenslange Freiheitsstrafe droht. Die Vorwürfe des Diebstahls und der schweren Brandstiftung (Fälle Nr. 3 und 4. des Europäischen Haftbefehls) sind von der streitigen Rechtsfrage indes nicht erfasst. Die noch offene Rechtsfrage lässt ebenso wie die noch ungeklärte Frage eines Spezialitätsverzichts des Königreichs der Niederlande die Auslieferung auch weiterhin nicht als von vorn herein unzulässig (§ 15 Abs. 2 IRG) erscheinen.

Schließlich besteht auch weiterhin die Möglichkeit, dass die Republik Polen eine völkerrechtlich-verbindliche Zusicherung einer Überprüfung der weiteren Vollstreckung einer möglicherweise verhängten lebenslangen Freiheitsstrafe bereits nach 20 Jahren abgibt. Diese Zusicherung wird sich dann jedoch an den möglicherweise vom Bundesgerichtshof aufgestellten Kriterien messen lassen müssen. [...]