VGH Bayern

Merkliste
Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 20.11.2012 - 10 C 12.491 - asyl.net: M20248
https://www.asyl.net/rsdb/M20248
Leitsatz:

Aus der Unterbringung in einem Heim für psychisch Kranke zu schließen, dass keine familliäre Lebensgemeinschaft mit Kindern und sonstigen Verwandten besteht, ist unzulässig.

Schlagwörter: Krankheit, Reisefähigkeit, familiäre Lebensgemeinschaft, Begegnungsgemeinschaft, familiäre Beistandsgemeinschaft, Visumsverfahren, psychische Erkrankung, Heim; Pflegeheim,
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5 S. 1, GG Art. 6, AufenthG § 36 Abs. 2, AufenthG § 5 Abs. 2 S. 2,
Auszüge:

[...]

Zutreffend hat das Verwaltungsgericht zwar die Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG aus humanitären Gründen bzw. nach § 36 Abs. 2 AufenthG zum Familiennachzug in Härtefällen geprüft. Die Ausführungen hierzu greifen aber zu kurz.

Der Senat hält sowohl die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG als auch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 AufenthG im Fall der Klägerin grundsätzlich für möglich. Jedoch hätte es hierzu im Klageverfahren weiterer Feststellungen, gegebenenfalls auch einer Beweiserhebung bedurft mit der Folge, dass die Erfolgsaussichten offen und der Klägerin Prozesskostenhilfe zu gewähren gewesen wäre.

Geht man davon aus, dass die Klägerin vollziehbar ausreisepflichtig ist, könnte die Ausreise der Klägerin im Sinne von § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich sein, weil entweder Art. 6 GG einer Ausreisepflicht entgegensteht oder sie aufgrund ihrer Krankheit nicht reisefähig oder eine Behandlung in ihrem Heimatland nicht sichergestellt ist. Insbesondere zu den Fragen der Reisefähigkeit und der Behandlung in Russland liegen keine Erkenntnisse vor. Es wäre deshalb erforderlich gewesen, insoweit Ermittlungen anzustellen. Ob Art. 6 GG und Art. 8 EMRK, also der Schutz von Ehe und Familie, einer Ausreise der Klägerin entgegenstehen, ist in der erstinstanzlichen Entscheidung zwar angesprochen, aber wohl nicht im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entschieden worden. Allein darauf abzustellen, dass die Klägerin - wohl auf Dauer - in einem Heim untergebracht ist und damit mangels Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft mit ihren Kindern und ihren sonstigen Verwandten und wegen des ausschließlichen Vorliegens einer Begegnungsgemeinschaft der Schutzbereich von Art. 6 GG nicht eröffnet sei, ist mit den Grundsätzen des Bundesverfassungsgerichts zur aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkung dieses Grundrechts wohl kaum mehr in Einklang zu bringen (vgl. BVerfG vom 17.5.2011 Az. 2 BvR 1367/10 <juris>; BVerfG vom 1.12.2008 Az. 2 BvR 1830/08 <juris>). Dies gilt vor allem auch vor dem Hintergrund, dass in der Stellungnahme des ..., in dem die Klägerin untergebracht ist, vom 9. November 2011 (Bl. 46 der VG-Akte) hinreichend dargetan wurde, dass die Klägerin engen Kontakt zu ihrer Familie besitzt, jeder Besuch der Familie sie psychisch stabilisiert und Trennungen von der Familie sie erheblich aus dem Gleichgewicht bringen. Insoweit wäre, sofern die Stellungnahme nicht für ausreichend erachtet worden sein sollte, zumindest eine weitere Sachverhaltserforschung, gegebenenfalls durch Beweiserhebung, angezeigt gewesen.

Aber auch die Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 AufenthG hätte in Betracht gezogen werden müssen, denn entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts hätte gerade im vorliegenden Fall das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte zumindest einer näheren Überprüfung bedurft. Der Ansatz des Verwaltungsgerichts, aufgrund des Krankheitsbildes der Klägerin sei "jede Ausübung einer Beistandsgemeinschaft durch die Kinder oder sonstige Verwandte gegenüber der Klägerin ausgeschlossen", ist, wie bereits oben ausgeführt, kaum nachvollziehbar. Gerade wegen ihrer psychischen Erkrankung und der deshalb erforderlichen räumlichen Trennung von ihren Verwandten ist ein schutzwürdiger Beistand dergestalt, dass sie von ihren Kindern regelmäßig besucht wird und engen Kontakt auch zu ihren Geschwistern und ihrer Mutter pflegt, von außerordentlicher Bedeutung (vgl. die o.g. Stellungnahme des Heims vom 9.11.2011).

Soweit des weiteren darauf abgestellt wird, die Klägerin müsse vor Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ein Visum einholen und zudem sei ihr Lebensunterhalt nicht gesichert, schließen beide Voraussetzungen die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im vorliegenden Fall nicht aus. Zwar dürfte die Klägerin wegen der verspäteten Beantragung der Verlängerung ihres Aufenthaltstitels grundsätzlich visumpflichtig sein, jedoch kann vom Erfordernis der Ausreise und anschließender Wiedereinreise mit einem Visum abgesehen werden, wenn es aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen (§ 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). In Anbetracht des Gesundheitszustandes der Klägerin, wie er sich nach Aktenlage darstellt, dürfte es unmöglich sein, dass die Klägerin nach Russland reist, sich dort um ein Visum bemüht und mit diesem in das Bundesgebiet zurückkehrt. Zumindest hätte im Klageverfahren geprüft werden müssen, ob der Klägerin dies, gegebenenfalls in Begleitung, möglich gewesen wäre. [...]