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LG Verden

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Zitieren als:
LG Verden, Beschluss vom 11.12.2012 - 1 Qs 269/12 - asyl.net: M20275
https://www.asyl.net/rsdb/M20275
Leitsatz:

Sprachunkundige haben Anspruch auf die kostenlose Übersetzung eines Strafbefehls einschließlich der Rechtsmittelbelehrung.

Eine Belehrung, wonach die Übersetzung im Fall der Verurteilung mit weiteren Kosten verbunden sein könnte, ist falsch.

Schlagwörter: Deutschkenntnisse, Sprachkenntnisse, sprachunkundig, Strafbefehl, Rechtsmittelbelehrung, missverständlich, Kosten, Übersetzung, Anspruch auf unentgeltliche Übersetzung, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand,
Normen: StPO § 464c,
Auszüge:

[...]

1. Gemäß § 44 S. 1 StPO ist demjenigen, der ohne Verschulden verhindert war, eine Frist einzuhalten, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Nach § 45 Abs. 1 S. 1 StPO ist der Antrag binnen einer Woche nach Wegfall des Hindernisses bei dem Gericht zu stellen, bei dem die Frist wahrzunehmen gewesen wäre, und die versäumte Handlung innerhalb der Frist nachzuholen (§ 45 Abs. 2 S. 2 StPO). Die Tatsachen zur Begründung des Antrages sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag - also gegebenenfalls auch noch im Beschwerdeverfahren - glaubhaft zu machen (§ 45 Abs. 2 S. 1 StPO), d.h. so weit zu beweisen, dass das Gericht sie für wahrscheinlich hält und ohne weitere verfahrensverzögernde Ermittlungen eine Entscheidung treffen kann. Nicht behebbare Zweifel an der Richtigkeit der behaupteten Tatsachen wirken sich zu Lasten des Antragstellers aus; der Grundsatz in dubio pro reo gilt hier nicht (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., 2012, § 26 Rdnr. 7 u. § 45 Rdnr. 10). Werden die Tatsachen zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrages nicht glaubhaft gemacht, so ist dieser unzulässig (vgl. Meyer Goßner, aaO., § 45 Rdnr. 6).

2. Nach Maßgabe dieser Grundsätze war der Angeklagten vorliegend die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

a.) Der Strafbefehl des Amtsgerichts Nienburg (Weser) vom 31. Juli 2012 ist der Angeklagten am 4. August 2012 unter ihrer Wohnanschrift im Wege der Ersatzzustellung durch Einlegen des Schriftstückes in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten ordnungsgemäß zugestellt worden (vgl. Bl. 50/50R d.A.). Der Einspruch der Angeklagten ist indes erst am 30. August 2012 und mithin nach Ablauf der zweiwöchigen Einspruchsfrist (§ 410 Abs. 1 S. 1 StPO) zusammen mit dem Wiedereinsetzungsantrag beim Amtsgericht Nienburg (Weser) eingegangen (vgl. Bl. 53 d.A.). Die Angeklagte trägt jedoch in der Wiedereinsetzungsantrags- und Einspruchsschrift ihres Verteidigers vom 30. August 2012 vor, dass sie die Rechtsbehelfsbelehrung in dem Strafbefehl nicht habe verstehen können, weil sie des Deutschen nicht mächtig ist und eine Übersetzung des Strafbefehls diesem nicht beigefügt war. Sie habe daher von der Möglichkeit, gegen den Strafbefehl Einspruch einzulegen, erst dadurch erfahren, dass ihr Bekannter, der Zeuge ..., am 23. August 2012 anlässlich eines Termins in anderer Sache der Rechtsanwältin … den Strafbefehl vorgelegt und diese ihn über die Möglichkeit der Einspruchseinlegung und der Stellung eines Wiedereinsetzungsantrages aufgeklärt habe, was der Zeuge … dann ihr, der Angeklagten, mitgeteilt habe. Diesen Vortrag hat die Angeklagte durch die Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung der Rechtsanwältin … (vgl. Bl. 55 d.A.) und einer schriftlichen Erklärung des Zeugen (vgl. Bl. 56 d.A.) glaubhaft gemacht. Zwar hat die Angeklagte in der Niederschrift über eine Sicherheitsleistung vom 26. Januar 2012 (vgl. Bl. 23 ff. d.A.) erklärt, dass sie nicht verlange, dass einem etwaigen gerichtlichen Strafbefehl eine Übersetzung in ihrer Heimatsprache beigefügt werde (vgl. Bl. 24 d.A.). Sie ist indes der Ansicht, dass diese Verzichtserklärung unwirksam sei, weil sie vor ihrer Erklärung rechtlich unzutreffend dahingehend belehrt worden sei, dass im Falle ihrer Verurteilung die zusätzlichen Kosten der Übersetzung gegen sie geltend gemacht werden könnten (vgl. ebda.).

b.) Aus dem vorstehenden Sachverhalt ergibt sich, dass die Angeklagte im Rechtssinne unverschuldet daran gehindert war, die Einspruchsfrist einzuhalten. Die Angeklagte hat schlüssig vorgetragen, die dem Strafbefehl beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung mangels deutscher Sprachkenntnisse nicht verstanden zu haben. Gemäß Art. 6 Abs. 3e EMRK hatte sie indes das Recht, unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, weil sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht verstand. Dies bedeutet, dass die Auslagen für die Heranziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers für eine der deutschen Sprache nicht mächtige Angeklagte grundsätzlich auch dann von der Landeskasse getragen werden müssen, wenn die Kosten des Verfahrens der Verurteilten auferlegt worden sind (vgl. Gieg in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Komm. zur StPO, 6. Aufl., 2008, § 464c Rdnr. 2). Von diesem Grundsatz macht § 464c StPO nur für den Fall eine Ausnahme, dass die Angeklagte - wofür vorliegend nichts ersichtlich ist - diese Auslagen "durch schuldhafte Säumnis oder in sonstiger Weise schuldhaft unnötig verursacht hat." Vor diesem Hintergrund war die Belehrung der Angeklagten, dass im Falle ihrer Verurteilung die zusätzlichen Kosten einer Übersetzung des Strafbefehls gegen sie geltend gemacht werden "können" (vgl. BI. 24 d.A.), tatsächlich rechtlich unzutreffend bzw. in Ermangelung einer weitergehenden Erläuterung der Ausnahmevorschrift des § 464c StPO zumindest missverständlich. Die Angeklagte musste so den Eindruck gewinnen, dass sie im Falle ihrer Verurteilung mit zusätzlichen Kosten belastet werden würde, wenn sie nicht auf die Übersetzung verzichtete. Ihr Verzicht auf die Übersetzung ist aus diesem Grunde rechtlich unwirksam. Der Angeklagten kann auch nicht entgegengehalten werden, dass sie sich, wenn sie den Strafbefehl und/oder die ihm beigefügte Rechtsmittelbelehrung nicht verstand, von sich aus zeitnah um eine Übersetzung dieser offensichtlich rechtsbedeutsamen Urkunde hätte kümmern müssen. Der Angeklagten kann nicht zugemutet werden, zur Wahrung ihrer Rechte auf eigene Kosten eine Übersetzung anfertigen zu lassen, wenn sie nach geltender Rechtslage einen Anspruch auf eine unentgeltliche Übersetzung hat. Ein etwaiges Verschulden ihres Bekannten, des Zeugen ..., der den ihm von der Angeklagten übergebenen Strafbefehl nebst Rechtsbehelfsbelehrung aufgrund seiner Deutschkenntnisse - er ist als Dolmetscher tätig (vgl. Bl. 55 d.A.) -- sehr wohl verstanden haben dürfte oder hätte verstehen können, dessen Inhalt aber vor seinem Gespräch mit der Rechtsanwältin am am 23. August 2012 offenbar nicht mit der Angeklagten erörtert hat, kann der Angeklagten nicht zugerechnet werden.