LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15.11.2012 - L 19 AS 1917/12 B ER - asyl.net: M20323
https://www.asyl.net/rsdb/M20323
Leitsatz:

1. Wegen der Komplexität der Rechtslage hinsichtlich der Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht ist eine abschließende Klärung der Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht möglich.

2. In einem solchen Fall ist aufgrund einer Folgenabwägung zu entscheiden. Die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II wie auch die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII dienen der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens. Diese Sicherstellung ist eine verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates, die aus dem Gebot zum Schutz der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot folgt und sich auf alle Personen, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, im Geltungsbereich des Grundgesetzes erstreckt.

3. Vorliegend überwiegt das Interesse des Antragsgegners als Leistungsträger nach § 6a SGB II, keine finanziellen Aufwendungen an die Antragsteller bei ungeklärter Rechtslage aufbringen zu müssen, das Interesse der Antragsteller am Erlass einer Regelungsanordnung hinsichtlich der Leistungen nach dem SGB II.

Schlagwörter: Leistungsausschluss, Europäisches Fürsorgeabkommen, SGB II, SGB XII, Sozialstaatsgebot, Menschenwürde, ungeklärte Rechtslage, Vorbehalt, Vorbehaltserklärung, Sozialleistungen, Unionsbürger, Spanien, Spanier, spanische Staatsangehörige, drittstaatsangehöriger Ehegatte,
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, AUEV Art. 267, SGB II § 6a, SGB II § 23,
Auszüge:

[...]

Wegen der Komplexität der Rechtslage zum einen hinsichtlich der Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht - insbesondere im Hinblick darauf, dass dem EUGH nach Art. 267 Abs. 1 AEUV die Befugnis vorbehalten ist, das europäische Primärrecht auszulegen und über die Vereinbarkeit des europäischen Sekundärrechts mit dem Primärrecht zu befinden (Greiser, a.a.O. Rn 39) und mit Blick auf die Dauer von Vorlageverfahren nach Art. 267 AUEV (vgl. hierzu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10 Aufl., § 86b Rn 13,39) - sowie zum anderen hinsichtlich der Wirksamkeit der Vorbehaltserklärung der Bundesrepublik Deutschland zum EFA, insbesondere unter Berücksichtigung der völkerrechtlich maßgeblichen Auslegungsgrundsätze für völkerrechtliche Verträge, ist eine abschließende Klärung des Anspruchs der Antragsteller auf die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht möglich.

In einem solchen Fall ist aufgrund einer Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05). Die grundrechtlichen Belange der Antragsteller sind dabei umfassend in die Abwägung einzubeziehen. Die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II wie auch die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII dienen der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens. Diese Sicherstellung ist eine verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates, die aus dem Gebot zum Schutz der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot folgt (vgl. BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05), und sich auf alle Personen, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, im Geltungsbereich des Grundgesetzes erstreckt.

Vorliegend überwiegt das Interesse des Antragsgegners als Leistungsträger nach § 6a SGB II, keine finanziellen Aufwendungen an die Antragsteller bei ungeklärter Rechtslage aufbringen zu müssen, das Interesse der Antragsteller am Erlass einer Regelungsanordnung hinsichtlich der Leistungen nach dem SGB II. Denn während des Hauptsacheverfahrens Widerspruchsverfahren und etwaiges Klageverfahren gegen die Leistungsablehnung - kann das Existenzminimum der Antragsteller bei fortbestehender Hilfebedürftigkeit durch Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII seitens des Antragsgegners als örtlichem Sozialhilfeträger gedeckt werden. Falls der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, dessen Voraussetzungen nach dem Wortlaut vorliegen, zu Lasten der Antragsteller eingreift, sind diese weder nach § 21 SGB XII noch nach § 23 Abs. 3 SGB XII vom Bezug von Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII ausgeschlossen (vgl. LSG NRW Beschluss vom 29.06.2012 - L 19 AS 973/12 B ER; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 28.06.2012 - L 14 AS 933/12 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 20.07.2012 - L 19 AS 563/12 B ER). Nach § 21 Satz 1 SGB XII erhalten Personen, die nach dem Zweiten Buch als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt. Entgegen der Auffassung der Beigeladenen greift § 21 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, der zur Systemabgrenzung zwischen dem SGB II und dem SGB XII dient (vgl. hierzu Eicher in jurisPK-SGB XII, § 21 SGB XII Rn 9f; siehe auch Hohm in Schellhorn/Jirasek/Seipp, SGB XII-Sozialhilfe, 18 Aufl., § 21 Rn 9f; Voelzke in Hauck/Noftz, SGB XII, § 21 Rn 25f), nicht zu Ungunsten der Antragsteller ein. Diese Norm findet keine Anwendung, wenn bei einem Leistungsberechtigten die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II für den Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts dem Grunde nach gegeben sind, jedoch ein Leistungsausschlussgrund des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II, der den Ausschluss bestimmter Ausländer und Leistungsberechtigter nach § 1 Asylbewerberleistungsgesetz aus dem System des SGB II vorsieht, eingreift (vgl. Eicher, a.a.O., § 21 SGB XII Rn 19ff (27); Coseriu, a.a.O, § 23 Rn 36.3).

Ebenfalls findet § 23 SGB XII, der den Bezug von Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII durch Ausländer sowie bestimmte Ausschlusstatbestände für Ausländer (§ 23 Abs. 3 SGB XII) regelt, vorliegend wegen der Inländergleichbehandlungsgewährleistung des EFA (vgl. hierzu BVerwG Urteil vom 18.05.2000 - 5 C 29/98 0 = juris Rn 16; BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R) keine Anwendung. Art. 1 des EFA, der unmittelbares geltendes Bundesrecht ist, ordnet an, dass ein Vertragsstaat einem Staatsangehörigen eines anderen Vertragsstaats, der sich erlaubt im Gebiet eines anderen Vertragsstaates aufhält, Fürsorgeleistungen in gleicher Weise und unter den gleichen Bedingungen wie eigenen Staatsangehörigen zu gewähren hat. Die Antragsteller sind Staatsangehörige eines Vertragsstaates des EFA. Bei dem SGB XII handelt es sich um ein Fürsorgegesetz i.S.d. EFA (siehe Coseriu, a.a.O., § 23 SGB XII Rn 53f). Einen Vorbehalt nach Art. 16 lit. b EFA hinsichtlich der Leistungen für Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel hat die Bundesrepublik nicht erklärt; der am 19.12.2011 vom Generalsekretär des Europarats veröffentlichte Vorbehalt der Bundesrepublik hinsichtlich Leistungen nach dem SGB XII bezieht sich nur auf die Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten (§§ 67-69 SGB XII). Die Antragsteller halten sich auch i.S.v. Art. 1 EFA erlaubt in der Bundesrepublik auf (vgl. BSG Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R = juris Rn 36ff). Sie verfügen zum einen über Freizügigkeitsbescheinigungen nach § 5 FreizügG/EU. Zum anderen haben sie aus Art. 45 Abs. 3 AUEV (Art. 39 EGV) ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche, da sie nach Aktenlage ernsthaft einen Arbeitsplatz suchen und ihr Bemühen nach derzeitiger Aktenlage objektiv nicht aussichtslos ist. Zwar bestehen aufgrund ihrer mangelnden Sprachkenntnisse erheblich Vermittlungsschwierigkeiten, die Antragsteller bemühen sich aber durch die Teilnahme an Integrationskursen, dieses Vermittlungshemmnis zu beseitigen. Insoweit werden sie auch in Zukunft gehalten sein, zum Nachweis ihres Aufenthaltsrechts aus Art. 45 Abs. 3 AUEV sich intensiv um eine Erwerbstätigkeit zu bemühen. Dies schließt eine Meldung bei der Arbeitsagentur für Arbeit als Arbeitssuchende sowie ein Bemühen hinsichtlich der Verbesserung der Sprachkenntnisse ein. Damit findet das EFA auf die Antragsteller Anwendung und es gilt für sie die Inländergleichbehandlungsgewährleistung des EFA. Die durch das EFA angeordnete Inländergleichbehandlung von Staatsangehörigen von Vertragsstaaten geht als lex specialis der Bestimmung des § 23 SGB XII, einschließlich der Ausschlussvorschriften des § 23 Abs. 3 SGB XII, vor (Hohm, a.a.O., § 23 Rn 29e; Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 3. Aufl., § 23 Rn 24; LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 14.01.2008 - L 8 SO 88/07 - Coseriu, a.a.O., § 23 Rn 36.3 zum Leistungsausschlussgrund des § 23 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 SGB XII; so anscheinend auch Bundesministerium für Arbeit und Soziales vom 25.04.2011 in der Ausschussdrucksache 17(11) 881).

Soweit in der Literatur die Auffassung vertreten wird, dass der Ausschlussgrund des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII - Einreise zum Zwecke der Erlangung der Sozialhilfe - trotz der Inländergleichbehandlungsgewährleistung des EFA Anwendung findet (Coseriu, a.a.O., Rn 34f; Schlette in Hauck/Noftz, SGB XII, § 23 Rn 45; Greiser, a.a.O., Rn 59) ist nach Auffassung des Bundessozialgerichts kein rechtlicher Ansatzpunkt dafür erkennbar, dass das EFA nur auf diejenigen Ausländer anzuwenden ist, die sich zur Zeit des Eintritts der Hilfebedürftigkeit bereits in dem um Hilfe angegangen Staat erlaubt aufhielten und nicht auf diejenigen, die als bereits bedürftige Personen in einen Staat einreisten (BSG, Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R = juris Rn 39). Daher kann dahinstehen, ob überhaupt vorliegend die Voraussetzungen dieses Ausschlussgrundes gegeben sind. Durch die Inanspruchnahme von Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII bis zur abschließenden Klärung der Rechtslage entstehen den Antragstellern keine längere Zeit dauernden, erheblichen Beeinträchtigungen, die nachträglich nicht mehr ausgeglichen werden können. [...]