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OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 05.12.2012 - 11 N. 54.11 - asyl.net: M20331
https://www.asyl.net/rsdb/M20331
Leitsatz:

1. Art. 6 ARB 1/80 geht davon aus, dass "ein türkischer Arbeitnehmer, der … ordnungsgemäß beschäftigt war …, in diesem Staat während eines angemessenen Zeitraums ein Aufenthaltsrecht besitzt, um dort eine neue Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis zu suchen". Dies trifft auf in der Vergangenheit selbständig Tätige nicht zu.

2. Ein Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis aus § 31 Abs 4 S 2 AufenthG ist durch Belege bezüglich des Erwerbslebens glaubhaft zu machen.

Schlagwörter: türkische Staatsangehörige, Erwerbstätigkeit, Beschäftigungsverhältnis, regulärer Arbeitsmarkt, Arbeitsmarkt, tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt, Diskriminierungsverbot, Aufenthaltserlaubnis, Sicherung des Lebensunterhalts, Erwerbsbiografie, Türkischer Arbeitnehmer, selbständige Erwerbstätigkeit, Diskriminierung, Prognose,
Normen: ARB 1/80 Art. 10, AufenthG § 31 Abs. 4 S. 2,
Auszüge:

[...]

Dieses Vorbringen ist nicht geeignet, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils zu begründen. Zwar geht dieses im rechtlichen Ansatz in der Tat zunächst davon aus, dass die im Jahre 2001 der Klägerin erteilte unbefristete Arbeitsgenehmigung nach Inkrafttreten des AufenthG zum 1. Januar 2005 gemäß § 105 nur noch als Verwaltungsinternum anzusehen sei und als Grundlage für ein gemeinschaftsrechtlich zu gewährendes Aufenthaltsrecht ausscheide. Allerdings begründet das Gericht seine Auffassung, auf die damalige Erteilung einer Arbeitsgenehmigung komme es vorliegend nicht an, sodann weitergehend und tragend damit, das Diskriminierungsverbot aus Art. 10 ARB 1/80 setze vom Wortlaut und nach Sinn und Zweck voraus, dass der türkische Staatsangehörige zur Zeit des Ablaufs der Gültigkeitsdauer der letzten Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis tatsächlich auch erwerbstätig gewesen sei (zu dieser Voraussetzung vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 10. Juli 2008 – 13 S 707.08 - ,Rn 46). Dies sei vorliegend am 5. Februar 2009 nicht der Fall gewesen. Insoweit - die Ausführungen zum Kohärenzansatz des Generalanwalts beim EuGH im Verfahren Rs. C-97/95 (Gattoussi) beziehen sich ersichtlich nicht hierauf, sondern auf die generelle Frage des Verhältnisses von Beschäftigungs- und Aufenthaltsrecht für ausländische Arbeitnehmer - macht die Klägerin "vorsorglich" lediglich geltend, sie habe "bald darauf wieder ein Beschäftigungsverhältnis aufgenommen", vorübergehende Zeiten der Arbeitslosigkeit seien nach der Rechtsprechung des EuGH (Rs. C-171/95) jedoch assoziationsrechtlich unschädlich. Insoweit verkennt die Klägerin, dass diese Rechtsprechung zu Art. 6 ARB 1/80 davon ausgeht, dass "ein türkischer Arbeitnehmer, der … ordnungsgemäß beschäftigt war …, in diesem Staat während eines angemessenen Zeitraums ein Aufenthaltsrecht besitzt, um dort eine neue Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis zu suchen". Dass diese Voraussetzungen hier vorliegen, hat die Klägerin nicht dargelegt und ist auch nicht ersichtlich. Denn diese war nach einer lediglich viermonatigen Beschäftigung Ende 2001/Anfang 2002 jedenfalls ab August 2002 nicht mehr Arbeitnehmerin, sondern als Inhaberin eines Einzelhandelsgeschäftes bis zur Aufgabe des Gewerbebetriebes im März 2008 lange Jahre selbstständig gewerblich tätig und bezog anschließend bis zum Ablauf ihrer letzten Aufenthaltserlaubnis ab 5. Februar 2009 Leistungen nach dem SGB II. Erst am 15. Februar 2009 - der vorgelegte Arbeitsvertrag bei ihrem früheren Schwager ist allerdings erst am 27. April 2009 unterzeichnet worden - will sie erstmals wieder eine Tätigkeit als Arbeitnehmerin aufgenommen haben.

Verfehlt die Klägerin deshalb mit ihrem Zulassungsvorbringen zum Diskriminierungsverbot des Art. 10 ARB 1/80 schon die tragende Begründung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung und vermag sie diese insoweit auch nicht in Frage zu stellen, besteht keine Veranlassung zur Einholung eines Vorabentscheidungsersuchens gemäß Art. 267 AEUV beim EuGH. Im Übrigen gehen auch die insoweit formulierten Vorlagefragen davon aus, dass es um die Diskriminierung einer "türkischen Arbeitnehmerin" geht.

Schließlich ist aber auch darauf hinzuweisen, dass das Diskriminierungsverbot des Art. 10 ARB 1/80 schon nach seinem Wortlaut allein für "türkische Arbeitnehmer", die dem regulären Arbeitsmarkt des Mitgliedsstaates angehören, gilt - auch Art. 13 ARB 1/80 betrifft allein "Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen" - und sowohl die weiterhin zitierten Verfahren vor dem EuGH Rs. C-97/05 (Gattoussi) und Rs. C 300/09 und 301/09 (Toprak), aber auch die Vorlage des OVG Hamburg sich durchweg auf "Arbeitnehmer" beziehen (vgl. auch Armbruster, HTK-AuslR / ARB 1/80 / Art. 10 10/2010 Nr. 1, wonach es Grundvoraussetzung für das Bestehen von Ansprüchen nach Art. 10 Abs. 1 ARB ist, dass der türkische Arbeitnehmer dem regulären Arbeitsmarkt des betreffenden Mitgliedsstaats angehört). Nichts Anderes ergibt sich auch aus dem vom Verwaltungsgericht herangezogenen Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. Dezember 2009 zu 1 C 16/08. Dort heißt es (juris Rz. 16): "Sinn und Zweck der aufenthaltsrechtlichen Wirkung des Diskriminierungsverbots ist es, dem Aufnahmemitgliedsstaat zu untersagen, durch nach nationalem Recht zulässige aufenthaltsbeschränkende Maßnahmen die praktische Wirksamkeit des Diskriminierungsverbots zu unterlaufen und für Wanderarbeitnehmer dadurch die ursprünglich erlaubte weitere tatsächliche Ausübung seiner Beschäftigung aus Gründen in Frage zu stellen, die nicht dem Schutz eines berechtigten Interesses des Staates, wie der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit dienen".

Die Klägerin macht zur Begründung ihres Zulassungsantrags weiterhin geltend, ihr stehe ein Anspruch auf Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis auch aus § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG zu. Denn die Prognose hinsichtlich der künftigen Sicherung ihres Lebensunterhalts ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel falle auch unter Berücksichtigung ihrer bisherigen Erwerbsbiographie zu ihren Gunsten aus. Zwar sei ihr Minijob in der Tat schon zum 31. Dezember 2010 beendet gewesen, jedoch habe sie weiterhin - und zwar bis zum 31. Mai 2011 - bei ihrem früheren Schwager gearbeitet. Ihr monatlicher Nettoverdienst habe 1.081,63 EUR betragen, wie durch beigefügte Einkommensbescheinigungen von Januar bis Mai 2011 belegt werde. Seit dem 1. Juni 2011 habe sie eine neue Beschäftigung als Küchenhilfe mit einem monatlichen Bruttoverdienst von 1.100 EUR aufgenommen. Insoweit werde auf einen Arbeitsvertrag vom 2. Mai 2011 verwiesen.

Auch dieses Zulassungsvorbringen vermag keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils zu begründen. Denn der Beklagte weist zu Recht darauf hin, dass dieses Vorbringen bzw. die insoweit vorgelegten Unterlagen die erforderliche positive Prognose einer künftigen Lebensunterhaltssicherung ohne Anspruch auf öffentliche Mittel nicht zu stützen vermögen. Es sei bereits erstaunlich, dass die Klägerin im Rahmen ihrer Befragung in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 23. März 2011 von der Fortführung der Beschäftigung bei ihrem früheren Schwager mit einem wesentlichen höheren Gehalt - bis zum 1. Januar 2011 habe sie monatlich 750 EUR brutto verdient - nichts berichtet habe, zumal die Einkommensbescheinigungen für Januar und Februar 2011 vom 22. März 2011, d.h. dem Tag vor der mündlichen Verhandlung, datierten. Auch Meldebescheinigungen der Sozialversicherungsträger über höhere Einkünfte seien nicht vorgelegt worden. Soweit die Klägerin dem mit Schriftsatz vom 11. Oktober 2011 entgegenhält, die Krankenkasse verweigere dies aus datenschutzrechtlichen Gründen, der Rentenversicherer bekomme die Daten erst spät gemeldet, auch müsse die Aufklärung insoweit einem Berufungsverfahren vorbehalten bleiben, vermag das zumindest bezogen auf die fehlenden Nachweise des Rentenversicherungsträgers nicht zu überzeugen. Dass ein entsprechender Nachweis bezogen auf zumindest die ersten Monate des Jahres 2011 noch im Oktober nicht vorgelegt werden konnte, ist schon allein deshalb nicht nachvollziehbar, weil der im Termin am 23. März 2011 vorgelegte Nachweis über den Versicherungsverlauf der Klägerin vom Vortage die Zeit bis Dezember 2010 erfasste, mithin einen nicht einmal drei Monate zurückliegenden Zeitraum. Vor dem Hintergrund, dass die Klägerin auch im Zulassungsverfahren nicht einmal Angaben dazu gemacht hat, wieso ihr Bruttoeinkommen ab Januar 2011 auf 1.500 EUR verdoppelt worden war, geschweige denn, Belege für eine Änderung des Arbeitsvertrags oder dergleichen vorgelegt hat, und diese Tätigkeit dann auch alsbald beendet worden ist, sind ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Prognose damit nicht dargelegt.

Im Ergebnis nichts anderes gilt für das Vorbringen zur Begründung der Zulassung im Schriftsatz vom 19. Juli 2011, seit dem 1. Juni 2011 habe sie eine neue Beschäftigung als Küchenhilfe mit einem monatlichen Bruttoverdienst von 1.100 EUR aufgenommen. Denn hierauf lässt sich die erforderliche Prognose dauerhafter Lebensunterhaltssicherung angesichts der zu diesem Zeitpunkt erst wenige Wochen andauernden Beschäftigung nicht stützen, zumal auch ein Einkommensnachweis insoweit nicht vorgelegt oder etwa für die spätere Zeit nachgereicht worden ist. [...]