Artikel 5 Abs. 1 Ziffer 1 des aserbaidschanischen Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 30. September 1998 ist aufgrund der in der aserbaidschanischen Rechtspraxis feststellbaren und mit der Intention des historischen Gesetzgebers übereinstimmenden objektiven Gerichtetheit seiner Handhabung als eine Ausbürgerungsregelung einzuordnen, die trotz ihrer neutralen Formulierung gezielt (allein) armenische Volkszugehörige trifft. Sie dient der juristischen Festschreibung der Ergebnisse einer zuvor staatlich geduldeten, fast vollständigen Vertreibung der armenischen Bevölkerungsgruppe Aserbaidschans. In ihrer Anwendung auf armenische Volkszugehörige kann politische Verfolgung durch eine Ausbürgerung de jure ohne inländische Fluchtalternative in Berg-Karabach liegen.
(Amtlicher Leitsatz)
[...]
Die Klägerinnen haben Anspruch auf die Flüchtlingsanerkennung, weil sie durch Ausbürgerung aus der Republik Aserbaidschan politisch verfolgt werden (dazu unter I.), gegenüber dieser Verfolgung über keine inländische Fluchtalternative verfügen (dazu unter II.) und keine evidente Möglichkeit des Erwerbs einer anderen Staatsangehörigkeit haben (dazu unter III.). [...]
Die Republik Aserbaidschan erklärte am 30. August 1991 ihre Unabhängigkeit von der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und trennte sich mit einem Verfassungsakt vom 18. Oktober 1991 von der UdSSR (Transkaukasus Institut, Gutachten v. 28.3.2007 für das VG Braunschweig, S. 20, 2.1). Mit der erfolgreichen Sezession erstarkte die Republik-Staatsangehörigkeit der vormaligen Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik im Außenverhältnis zu fremden Staaten zu einer vollwertigen Staatsangehörigkeit. Auch die Klägerinnen zu 2 und zu 3 wurden damals Staatsangehörige der Republik Aserbaidschan, weil sie die Republik-Staatsangehörigkeit der Aserbaidschanischen SSR besaßen.
Nach Art. 4, 1. Alternative, des Gesetzes der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik über die Staatsangehörigkeit [d. h. die Republik-Staatsangehörigkeit im Sinne einer Republikzugehörigkeit] der Aserbaidschanischen SSR vom 26. Juni 1990 waren Staatsangehörige der Aserbaidschanischen SSR Personen, die sich im Besitz der Staatsangehörigkeit [gemeint ist die Republikzugehörigkeit] der Aserbaidschanischen SSR am Tage des Inkrafttretens des Gesetzes [am 1. Januar 1991] befanden (Transkaukasus-Institut, Gutachten v. 28.3.2007 für das VG Braunschweig, S. 19, 1.3). Dies traf auch auf die Klägerinnen zu 2 und zu 3 zu, obwohl sie am 1. Januar 1991 bereits in Deutschland wohnten und sich außerhalb der Aserbaidschanischen SSR aufhielten. [...]
Auszugehen ist davon, dass auch im Rahmen der Prüfung einer Staatsangehörigkeit als Vorfrage der Flüchtlingsanerkennung der prüfende Aufenthaltsstaat nach völkerrechtlichen Grundsätzen nicht seine eigene Rechtsansicht über die Bedeutung einer innerstaatlichen Norm des Staatsangehörigkeitsrechts eines fremden Staates an die Stelle dessen innerstaatlichen Rechts setzen darf (Marx, Handbuch zur Qualifikationsrichtlinie, Köln 2009, Seite 302 [Kap 4 § 18] Rn. 102). Daher ist grundsätzlich die Auslegung des fremden Staatsangehörigkeitsrechts durch die Behörden und Gerichte des jeweiligen fremden Staates und nicht diejenige durch deutsche Behörden und Gerichte maßgebend (OVG Münster, Urt. v. 7.7.1987 - 18 A 2810/84 -, InfAuslR 1988, 68 [70]; OVG Berlin, Urt. v. 18.4.1991 - OVG 5 B 41.90 -, InfAuslR 1991, 228 [230]; a. A. VG Berlin, Urt. v. 23.10.1990 - VG 18 A 277.86 -, InfAuslR 1991, 162 [166]). Die Frage, ob die Klägerinnen zu 2 und zu 3 die Staatsangehörigkeit Aserbaidschans auf der Grundlage des Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 26. Juni 1990 erworben haben, lässt sich daher nicht schon deshalb bejahen, weil deutsche Rechtsgelehrte oder deutsche staatliche Stellen anhand einer vermeintlich "objektiven" Auslegung des damaligen aserbaidschanischen Rechts zu diesem Ergebnis gelangen. Vielmehr scheidet grundsätzlich eine politische Verfolgung durch Ausbürgerung aus, wenn der als Verfolger in Betracht kommende Staat (schon de jure) den möglicherweise Ausgebürgerten zu keinem Zeitpunkt seiner Existenz als eigenen Staatsbürger anerkannte - selbst wenn dies objektiv juristisch fragwürdig sein mag.
Anders ist jedoch die Rechtslage zu beurteilen, wenn - wie im vorliegenden Falle - ein Wandel in der Rechtsauffassung des potentiellen Verfolgerstaates hinsichtlich der Staatsangehörigkeitsfrage festzustellen ist. Steht ein Staat in der von ihm selbst akzeptierten Rechtsnachfolge eines im Außenverhältnis nicht souveränen Gliedstaates eines Bundesstaates, so können aus der Beurteilung der gliedstaatlichen Staatsangehörigkeit durch seinen Rechtsvorgänger - und zwar auch unter Berücksichtigung des rechtlichen Rahmens der Regelungen des Bundesstaates - Schlussfolgerungen auf einen ehedem sehr wohl gegebenen, später dann aber von staatlicher Seite geleugneten Bestand jener Staatsangehörigkeit gezogen werden, in der sich die vormaligen gliedstaatliche Staatsangehörigkeit fortsetzte. Das gilt insbesondere für die Republik Aserbaidschan, weil Art. 4 des Verfassungsaktes vom 18. Oktober 1991, mit dem sich die Republik Aserbaidschan von der UdSSR trennte, unter anderem bestimmte, dass die Verfassung der Republik Aserbaidschan von 1978 gültig bleibe, soweit nicht Regelungen dem Verfassungsakt widersprächen, dass alle Akte der Republik Aserbaidschan vor der Erklärung der Unabhängigkeit gültig blieben, wenn sie nicht der Souveränität und territorialen Integrität der Republik Aserbaidschan widersprächen, und dass bis zum Erlass einschlägiger Gesetze der Republik Aserbaidschan Gesetze der UdSSR in der Republik Aserbaidschan gültig blieben (Transkaukasus-Institut, Gutachten vom 28. 3. 2007 für das VG Braunschweig, S. 21).
Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass es im Wesentlichen darauf ankommt, wie die Frage der Republikzugehörigkeit der Klägerinnen zu 2 und zu 3 am 1. Januar 1991 auf der Grundlage des Staatsangehörigkeitsgesetzes der Aserbaidschanischen SSR vom 26. Juni 1990 und vor dem Hintergrund der Rechtspraxis in der damaligen UdSSR zu beurteilen gewesen ist. Dagegen ist nicht maßgeblich, wie erst zu wesentlich späteren Zeitpunkten die Republik Aserbaidschan die Rechtslage des Jahres 1991 verstanden wissen wollte. Darauf abzustellen verbietet sich nicht nur, weil ein Verfolgerstaat nicht dadurch über die Flüchtlingsanerkennung eines Verfolgten im Bundesgebiet zu disponieren vermag, dass er nachträglich eine außer Kraft getretene Vorschrift seines eigenen Staatsangehörigkeitsrechts durch angebliche "Klarstellungen" (um-)interpretiert - und damit steuern könnte, ob politische Verfolgung durch Ausbürgerung in Betracht kommt. Sondern es verbietet sich auch deshalb, weil sich zu wesentlich späteren Zeitpunkten als dem Jahre 1991 die politische Situation in Aserbaidschan bereits so erheblich gewandelt hatte, dass aus dieser gewandelten Situation gezogene Rückschlüsse auf die Rechtslage des Jahres 1991 unhistorisch sind. [...]
Unabhängig davon stellt für den vorliegenden Einzelfall der hervorzuhebende Umstand, dass den Klägern zu 2 bis 5 nach ihren glaubhaften Angaben die blauen Auslandspässe für die Ausreise in die damalige DDR aus Baku zugesandt wurden, ein durchschlagendes Indiz dafür dar, dass jedenfalls sie weiter als aserbaidschanische Republikzugehörige betrachtet wurden, sodass deshalb aserbaidschanische Stellen für die Ausstellung ihrer Pässe zuständig blieben.
Hiernach ist festzuhalten, dass die Klägerinnen zu 2 und 3 am 1. Januar 1991 die Republik-Staatsangehörigkeit der Aserbaidschanischen SSR erworben haben und diese Republik-Staatsangehörigkeit mit der Verselbständigung Aserbaidschans im Außenverhältnis zu einer Staatsangehörigkeit erstarkte.
2. Die Klägerinnen zu 2 und zu 3 haben bis zur Neuregelung des aserbaidschanischen Staatsangehörigkeitsrechts durch das Gesetz vom 30. September 1998 ihre aserbaidschanische Staatsangehörigkeit nicht verloren.
Dies ist insbesondere nicht auf der Grundlage des Art. 20 Abs. 1 Nr. 2 des aserbaidschanischen Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 26. Juni 1990 aus ordnungsrechtlichen Gründen geschehen. Nach der genannten Vorschrift trat ein Verlust der Staatsangehörigkeit der Aserbaidschanischen SSR (Entlassung) ein, "sofern eine Person mit ständigem Aufenthaltsort im Ausland ihrer Meldepflicht gegenüber dem Konsulat ohne wichtigen Grund fünf Jahre lang nicht nachkommt". Nach Art. 20 Abs. 2 des genannten Staatsangehörigkeitsgesetzes trat der Verlust der Staatsangehörigkeit der Aserbaidschanischen SSR (Entlassung) jedoch erst im Moment der Registrierung des jeweiligen Tatbestandes durch die in den Artikeln 32 und 33 des vorliegenden Gesetzes genannten zuständigen staatlichen Organe in Kraft. Wie sich bereits unmittelbar aus dem Wortlaut der Vorschrift erschließt, hatte diese Registrierung konstitutive Wirkung. Erst mit ihr schied die betroffene Person aus der Staatsangehörigkeit Aserbaidschans aus (Universität Hamburg [Prof. Dr. Luchterhandt], Gutachten v. 15.12.1997 für das VG Augsburg, S. 4, und Gutachten v. 17. 10. 2000, für das VG Würzburg, S. 4 [jeweils Anlagen zum Schriftsatz der Kl. v. 17.11.2003 in 13 LB 179/03]; AA, Auskunft v. 10. 4. 2000 - Az.: 514-516.80/35 758 - an das VG Oldenburg [Anlage zum Schriftsatz der Kl. v. 17.11.2003 in 13 LB 179/03]). Dementsprechend beansprucht die Republik Aserbaidschan auch Personen, welche mehr als fünf Jahre ohne Registrierung bei der zuständigen aserbaidschanischen Auslandsvertretung abwesend gewesen sind, als aserbaidschanische Staatsangehörige. Eine Entziehung der aserbaidschanischen Staatsangehörigkeit von staatlicher Seite wurde nach Kenntnis des Auswärtigen Amtes bislang nicht durchgeführt (AA, Auskunft vom 2.4.2003 - Az.: 508-516.80/41 090 - an das Schlesw.-Holst. VG, S. 2, Nr. 3, [Anlage zum Schriftsatz der Kl. v. 17.11.2003 in 13 LB 179/03]). De facto ist es offenbar zu einer Nichtanwendung des Art. 20 Abs. 2 des aserbaidschanischen Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 26. Juni 1990 gekommen, wofür auch spricht, dass sich nach Kenntnis des Auswärtigen Amtes die aserbaidschanischen Auslandsvertretungen geweigert haben, Meldungen aserbaidschanischer Staatsangehöriger im Sinne des Art. 20 Abs. 1 Nr. 2 des Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 26. Juni 1990 anzunehmen, wenn die Ausreise der Betroffenen illegal, d. h. ohne vorherige Genehmigung durch das zuständige Innenministerium zur ständigen Wohnsitznahme im Ausland erfolgte (AA, Auskunft v. 7.2.1996 - Az.: 514-516.00/22 502 - an das VG Ansbach [Anlage zum Schriftsatz der Kl. v. 17.11.2003 in 13 LB 179/03]). Es kann somit nicht angenommen werden, dass auf der Grundlage des Art. 20 Abs. 2 des aserbaidschanischen Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 26. Juni 1990 ein Verlust der aserbaidschanischen Staatsbürgerschaft der Klägerinnen registriert worden ist. Nach dem 30. Juni 1998 konnte eine solche Registrierung schon deshalb nicht mehr vorgenommen werden, weil Art. 20 Satz 2 des Staatsangehörigkeitsgesetzes der aserbaidschanischen SSR mit dem Inkrafttreten des Staatsangehörigkeitsgesetzes der aserbaidschanischen Republik am 30. September 1998 abgeschafft wurde (AA, Auskunft v. 10.4.2000 - Az.: 514-516.80/35 758 - an das VG Oldenburg [Anlage zum Schriftsatz der Kl. v. 17.11.2003 in 13 LB 179/03]).
3. Die Klägerinnen zu 2 und zu 3 sind allerdings nach Art. 5 Abs. 1 Ziffer 1 des aserbaidschanischen Gesetzes über die Staatsangehörigkeit vom 30. September 1998 in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale, nämlich ihrer armenische Volkszugehörigkeit, de jure aus Aserbaidschan ausgebürgert worden.
Der Unterschied zwischen einer De-jure-Ausbürgerung und einer De-facto-Ausbürgerung besteht darin, dass der betroffene Staat im erstgenannten Falle dem vormaligen Staatsbürger auch die formale Rechtsposition der Staatsbürgerschaft entzieht, während er im zweitgenannten Falle ihm diese formale Rechtsposition belässt, ihm aber tatsächlich die daraus abzuleitenden staatsbürgerlichen Rechte und insbesondere den staatlichen Schutz nicht gewährt (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.2.2009 - BVerwG 10 C 50.07 -, a.a.O., juris, Langtext, Rn. 23). [...]
Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass Art. 5 Abs. 1 Ziffer 1 des aserbaidschanischen Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 30. September 1998 aufgrund der in der aserbaidschanischen Rechtspraxis feststellbaren und mit der Intention des historischen Gesetzgebers übereinstimmenden objektiven Gerichtetheit seiner Handhabung als eine Ausbürgerungsregelung eingeordnet werden muss, die trotz ihrer neutralen Gesetzesformulierung gezielt allein armenischen Volkszugehörige trifft. Sie dient der juristischen Festschreibung der Ergebnisse einer zuvor staatlich geduldeten, fast vollständigen Vertreibung der armenischen Bevölkerungsgruppe Aserbaidschans. In ihrer Anwendung auf die Klägerinnen zu 2 und zu 3 liegt politische Verfolgung durch eine Ausbürgerung de jure.
Auf der Grundlage der durch den Senat festgestellten Tatsachen würde man allerdings, was das Vorliegen politischer Verfolgung der Klägerinnen anbetrifft, zu keinem anderen Ergebnis gelangen, wenn man die auf Art. 5 Abs. 1 Ziffer 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1998 gestützte Praxis aserbaidschanischer Stellen, aserbaidschanischen Staatsbürgern armenischer Volkszugehörigkeit Personalpapiere, diplomatischen Schutz und die Einreise zu verweigern - entgegen der Auffassung des Senats - zur Annahme einer De-jure-Ausbürgerung nicht hinreichen lassen wollte. Die Klägerinnen zu 2 und zu 3 wären dann nämlich als im Wege einer De-facto-Ausbürgerung politisch verfolgt anzusehen. [...]
Die Klägerinnen zu 2 und zu 3 verfügen über keine evidente Möglichkeit des Erwerbs einer anderen Staatsangehörigkeit.
Ein Anspruch der Klägerinnen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheitert nicht an Art. 4 Abs. 3 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG. Danach ist bei der individuellen Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz unter anderem die Frage zu berücksichtigen, ob von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er den Schutz eines anderen Staates in Anspruch nimmt, dessen Staatsangehörigkeit er für sich geltend machen könnte (vgl. Urt. v. 26.2.2009 - BVerwG 10 C 50.07 -, a.a.O., juris, Langtext Rn. 42). Die Vorschrift setzt an anderer Stelle geregelte materielle Voraussetzungen in einen behördlichen Prüfungsauftrag um, der sich insbesondere auf das Erfordernis von Ermittlungen hinsichtlich des Besitzes mehrfacher Staatsangehörigkeiten bezieht (vgl. Art. 1A Nr. 2 GFK). Das Fehlen der Umsetzung des Art. 4 Abs. 3 Buchst. e der Richtlinie in innerstaatliches Recht ist nach Ablauf der Umsetzungsfrist jedenfalls insoweit unschädlich, als sich die Vorschrift auf den genannten Prüfungsumfang beschränkt. Mit diesem beschränkten Gehalt wäre sie für den vorliegenden Fall ohnehin nicht weiter erheblich. Denn wie bereits oben unter I. 4. a) ausgeführt worden ist, besitzen die Klägerinnen zu 2 und zu 3 keine weiteren Staatsangehörigkeiten, insbesondere nicht die russische oder armenische.
Das Bundesverwaltungsgericht (vgl. Urt. v. 26.2.2009 - BVerwG 10 C 50.07 -, a.a.O., juris, Langtext Rn. 42) hat jedoch offen gelassen, ob sich aus Art. 4 Abs. 3 Buchst. e der Richtlinie 2004/83/EG ein über den genannten Prüfungsauftrag hinausreichender materieller Normgehalt ergibt, nach dem - insbesondere mit Blick auf die Situation eines Staatenzerfalls - auch die evidente Möglichkeit des Erwerbs der Staatsangehörigkeit eines Nachfolgestaates, z. B. durch bloße Registrierung, der Flüchtlingsanerkennung entgegenstehen kann.
Selbst wenn man Letzteres zugrunde legt, ist jedoch den Klägerinnen zu 2 und zu 3 die Flüchtlingseigenschaft zuzusprechen. Denn die Klägerinnen besitzen keine evidenten Möglichkeiten, z. B. durch bloße Registrierung, die Staatsangehörigkeit eines Nachfolgestaates der UdSSR zu erwerben.
1. Es kann von den Klägerinnen nicht erwartet werden, dass sie vernünftigerweise versuchen, die Staatsangehörigkeit der Republik Armenien zu erwerben. Zwar ist es nicht völlig auszuschließen, dass ihnen dieses langfristig gelingen könnte, dies aber nicht in einem vereinfachten Verwaltungsverfahren, etwa durch bloße "Registrierung" oder "Anmeldung" (vgl. Prof. Dr. Luchterhandt, Gutachten v. 20. 8. 2009 für den Hess. VGH, Seite 11).
Der Erwerb der armenischen Staatsangehörigkeit kann im Wege der Anerkennung oder der Einbürgerung erfolgen. Hierfür ist ein persönlicher Antrag auf freiwilliger Basis bei den zuständigen armenischen Behörden in Armenien zu stellen; eine Antragstellung bei der armenischen Botschaft in Berlin ist nach deren Information nicht möglich (vgl. UNHCR, Auskunft v. 2. 3. 2010 an den Hess. VGH, Nr. 4). Staatenlose oder Personen, welche zuvor die Staatsangehörigkeit eines Landes der ehemaligen UdSSR innehatten, werden auf Antrag nach Art. 10 Abs. 2 des armenischen Staatsangehörigkeitsgesetzes anerkannt, wenn sie ihren ständigen Aufenthalt/Wohnsitz in der armenischen Republik haben und der entsprechende Antrag vor dem 31. Dezember 2009 gestellt wurde. In der Vergangenheit wurde die Frist bereits mehrfach verlängert. Nach Erkenntnissen des UNHCR ist eine weitere Fristverlängerung geplant und eine entsprechende Gesetzesänderung bereits in die Wege geleitet worden (UNHCR, Auskunft v. 2. 3. 2010 an den Hess. VGH). Eine Anerkennung für Personen, die im Ausland leben, ist indessen nur für ehemalige Staatsangehörige der Armenischen Sozialistischen Sowjetrepublik, die keine andere Staatsangehörigkeit angenommen haben, vorgesehen (vgl. Art. 10 Abs. 3 des armenischen Staatsangehörigkeitsgesetzes). Hiernach scheitert ein unkomplizierter Staatsangehörigkeitserwerb der Klägerinnen zu 2 und zu 3 jedenfalls daran, dass sie keinen ständigen Aufenthalt/Wohnsitz in der armenischen Republik haben und auch keine ehemaligen [Republik-] Staatsangehörigen der Armenischen Sozialistischen Sowjetrepublik sind. Denn die [Republik-] Staatsangehörigkeit dieser Sowjetrepublik haben sie während ihres dortigen Aufenthalts im Jahre 1989 schon deshalb nicht erworben, weil sie sich damals im Eriwan nicht haben förmlich registrieren lassen (Propiska). In Betracht käme daher nur die Verleihung der Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung nach den Voraussetzungen des Art. 13 des armenischen Staatsangehörigkeitsgesetzes durch Dekret des Staatpräsidenten. Danach kann jede arbeitsfähige Person über 18 Jahren die Einbürgerung beantragen, wenn sie zuvor mindestens drei Jahre ihren Wohnsitz in der armenischen Republik gehabt hat, die armenische Sprache beherrscht und mit der armenischen Verfassung vertraut ist. Für armenische Volkszugehörige sieht Art. 13 des armenischen Staatsangehörigkeitsgesetzes ein vereinfachtes Einbürgerungsverfahren vor. Diese sind von der sonst bestehenden dreijährigen Aufenthaltspflicht und den Sprachnachweisen befreit. Nach Einschätzung des UNHCR (Auskunft v. 2.3.2010 an den Hess. VGH), der der Senat folgt, handelt es sich bei der Einbürgerung gemäß Art. 13 des armenischen Staatsangehörigkeitsgesetzes jedoch um ein langwieriges Verfahren, in dessen Verlauf die Identität und das Vorhandensein von Vorstrafen überprüft werden. Die Klägerinnen zu 2 und zu 3 dürften unter dem letztgenannten Blickwinkel nichts zu befürchten haben, es ist im Hinblick auf ihren Gesundheitszustand jedoch zweifelhaft, ob man sie als arbeitsfähige Personen im Sinne des armenischen Einbürgerungsrechts betrachten würde. Zwar existiert ein vereinfachtes und schnelleres Verfahren für Flüchtlinge aus Aserbaidschan, die bereits zu Beginn des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan auf prima facie Basis anerkannt worden sind. Flüchtlinge armenischer Volkszugehörigkeit, die nicht bereits bei einem früheren Aufenthalt in Armenien registriert wurden, werden jedoch als neu ankommende Asylbewerber behandelt und müssen im regulären individuellen Asylverfahren um Schutz nachsuchen. Es findet keine Anerkennung auf prima facie Basis mehr statt (UNHCR, Auskunft vom 2.3.2010 an den Hess. VGH). Mittlerweile sind die armenischen Behörden bei Asylsuchenden aus Aserbaidschan eher zurückhaltend mit der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus. Es gibt auch kein spezielles Verfahren zur Flüchtlingsanerkennung für Personen aus Aserbaidschan mit armenischer Volkszugehörigkeit (UNHCR, Auskunft vom 2.3.2010 an den Hess. VGH). Trotz insoweit unklarer Angaben des Klägers zu 1, der in seiner Anhörung bei dem Bundesamt angegeben hat, er sei in Armenien "als Flüchtling geführt worden" geht der Senat davon aus, dass keine förmliche Registrierung der Klägerinnen zu 2 und zu 3 als Flüchtlinge in Armenien stattgefunden hat. Denn dies entspricht nicht nur den späteren Angaben der Kläger. Vielmehr ist auch die Aussage, dass er in Armenien als Flüchtling "geführt" worden sei, dem Kläger zu 1 durch die vorangegangene Fragestellung bei dem Bundesamt gleichsam "in den Mund gelegt worden". Von sich aus hatte er lediglich angegeben, dass er in Armenien als Flüchtling "gelte", was eine formelle Registrierung nicht einschließt.
Nach alledem besteht für die Klägerinnen zu 2 und zu 3 keine sich aufdrängende vereinfachte Möglichkeit, die armenische Staatsangehörigkeit zu erlangen. [...]