VG Augsburg

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Zitieren als:
VG Augsburg, Urteil vom 19.07.2012 - Au 6 K 12.30123 (= ASYLMAGAZIN 4/2013, s. 124 f.) - asyl.net: M20427
https://www.asyl.net/rsdb/M20427
Leitsatz:

In der Türkei kommt es zu so genannten "Ehrenmorden" insbesondere an Frauen oder Mädchen, die eines sogenannten "schamlosen Verhaltens" aufgrund einer sexuellen Beziehung vor oder außerhalb der Ehe verdächtigt werden.

Zu den nichtstaatlichen Akteuren im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 c) AufenthG zählen auch Einzelpersonen wie Vater oder Bruder.

Schlagwörter: geschlechtsspezifische Verfolgung, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Frauen, Mädchen, Ehrenmord, Kurden,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 3, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4 c,
Auszüge:

[...]

aa) Die Klägerin hat zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft gemacht, dass ihr im Falle einer Rückkehr in die Türkei geschlechtsspezifische Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1, 3, 4 lit. c) AufenthG droht.

Die Klägerin macht als Fluchtgrund geltend, dass sie wegen einer (heimlichen) sexuellen Beziehung im vorehelichen Bereich und der Geburt eines unehelichen Kindes befürchten muss, Opfer eines Ehrenmordes durch ihre Familie zu werden.

Das Vorbringen der Klägerin ist nach Überzeugung des Gerichts glaubhaft. Sie hat in der mündlichen Verhandlung glaubwürdig und in Übereinstimmung mit den Schilderungen beim Bundesamt die Umstände angegeben, die zu ihrer Flucht geführt haben. Sie hat ihren Vortrag nicht gesteigert und auf Nachfrage Unklarheiten ausgeräumt. Dabei waren ihre Antworten auf die Fragen des Gerichts ersichtlich von dem Bemühen getragen, möglichst sachlich und umfassend zu antworten. Dennoch war ihre persönliche Betroffenheit "mit Händen zu greifen". Die mit ihrer Flucht verbundene Ungewissheit und ihrer tiefsitzenden Ängste vor der Rache ihrer Familie konnte die Klägerin dem Gericht überzeugend vermitteln, ohne dass auch nur im Ansatz der Eindruck entstand, die Klägerin täusche diese Gefühle nur vor. Auch ist das Gericht von der Richtigkeit der Aussage der Klägerin, sie habe seit der Flucht jeden Kontakt mit ihrer Familie abgebrochen, überzeugt. Dass die Klägerin in einer psychischen Ausnahmesituation in der Bundesrepublik Deutschland ankam, bestätigt der Umstand, dass sie wegen ihres schlechten psychischen Zustandes von März bis Mai 2011 stationär im Klinikum behandelt werden musste und unter Betreuung gestellt wurde. Dies bekräftigt die Angaben der Klägerin zu der existentiellen Ausnahmesituation, in der sie sich bei ihrer Ausreise befand. Die Klägerin machte bei ihrer informatorischen Anhörung darüber hinaus einen zwar wachen, aber doch eher einfach strukturierten Eindruck. Sie hat weder eine Ausbildung noch große Lebenserfahrung. Auch dies spricht dafür, dass sie von selbst Erlebtem und nicht von für das Asylverfahren zurechtgelegten Geschehensabläufen berichtete.

Im Übrigen decken sich die Schilderungen der Klägerin und ihre ernst zu nehmende Befürchtung, Opfer eines Ehrenmordes zu werden, mit den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen über Ehrenmorde in der Türkei. Nach dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 8. April 2011 (Stand: Februar 2011 - im Folgenden: Lagebericht) kommt es in der Türkei immer noch zu so genannten "Ehrenmorden" insbesondere an Frauen oder Mädchen, die eines sog. "schamlosen Verhaltens" aufgrund einer sexuellen Beziehung vor der Eheschließung bzw. eines Verbrechens in der Ehe verdächtigt werden (Lagebericht, S. 17). Auch wenn die Statistik hierüber seit 2008 nicht mehr offiziell weitergeführt wird, wird in türkischen Zeitungen regelmäßig über "Ehrenmorde" berichtet. Nicht zuletzt zeigt auch die Berichterstattung der deutschen Presse über in der Bundesrepublik Deutschland verübte "Ehrenmorde" bis in die Gegenwart, dass diese Form der "Bestrafung" nach wie vor aktuell ist. Die Klägerin stammt, wie sie glaubhaft vorgetragen hat, aus einer traditionell eingestellten Familie aus dem Osten der Türkei. Der Umstand, dass die Klägerin nicht bereits in frühen Mädchenjahren verheiratet wurde, steht dem nicht entgegen. Die Klägerin hat hierzu schlüssig vorgetragen, es sei zwar versucht worden, sie zu verheiraten, es habe aber jeweils aus Sicht einer der Familien "nicht gepasst". Durchaus ehrlich und deshalb auch glaubwürdig trug sie vor, dass sie von ihrem Vater nicht gegen ihren Willen verheiratet werden sollte, weil die Ehe nach Überzeugung der Familie für ein ganzes Leben geschlossen werden sollte. [...] Auf gezielte Nachfrage des Gerichts berichtete die Klägerin spontan, ohne Zögern, von einem Ehrenmord in ihrer näheren Verwandtschaft, der sich im Jahr 2005 zugetragen habe. Gerade, weil diese Frage bei der Anhörung vor dem Bundesamt noch nicht thematisiert worden war und die Klägerin dennoch spontan, ohne länger nachdenken zu müssen, detailliert darauf antwortete, erscheint auch dieses Vorbringen glaubhaft.

Das Gericht ist deshalb davon überzeugt, dass sich das von der Klägerin geschilderte Geschehen tatsächlich so abgespielt hat und die Klägerin vorverfolgt ausgereist ist. Angesichts der Vorverfolgung kommt der Klägerin nach § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG zugute. Diese Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass sie im Fall einer Rückkehr in das Heimatland erneut von einer Verfolgung bedroht sind. So wird den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beigemessen und der Vorverfolgte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei der Rückkehr erneut realisieren werden. Diese Vermutung kann nur durch stichhaltige Gründe entkräftet werden (BVerwG vom 27.4.2010 Az. 10 C 5.09 <juris> RdNr. 23). Solche Gründe liegen nicht vor. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr ernsthaft damit rechnen muss, konkret an Leib und Leben durch ihre Familie gefährdet zu sein.

bb) Die der Klägerin bei einer Rückkehr drohende Verfolgungshandlung knüpft an den Verfolgungsgrund der Geschlechtszugehörigkeit und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe - ledige Frauen aus Familien, deren traditionelles Selbstverständnis uneheliche Schwangerschaften als Schande ansieht, die die Familienehre beschmutzt - an (Art. 10 Abs. 1 lit. d RL 2004/83/EG), durch die ihr Leben, zumindest aber ihre körperliche Unversehrtheit und Freiheit aktuell bedroht ist.

Die der Klägerin in der Türkei drohende Verfolgung geht von nichtstaatlichen Akteuren i.S. des § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c) AufenthG aus. Zu diesen nichtstaatlichen Akteuren zählen auch Einzelpersonen und damit auch der Vater und die Brüder der Klägerin.

cc) Für die Klägerin besteht auch keine inländische Fluchtalternative i.S. des § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG. Ein ausreichender Schutz der Klägerin vor ihrer Familie ist bei einer Rückkehr nicht gewährleistet.

Der türkische Staat wäre jedenfalls nicht effektiv in der Lage, die Klägerin vor Verfolgung zu schützen. Selbst wenn die Polizei willens wäre, die Klägerin zu schützen, ist damit eine Gefährdung nicht ausgeschlossen. Einen langfristig angelegten Schutz kann die Polizei weder gewährleisten noch liegt dies überhaupt innerhalb ihres Aufgabenbereichs. Die Unterbringung in einem Frauenhaus oder sonstige Hilfestellungen, soweit sie der Klägerin überhaupt zuteil werden, können stets nur eine gewisse Übergangszeit überbrücken, jedoch keinen dauerhaften Schutz bieten.

Das Gericht ist darüber hinaus der Überzeugung, dass es der Familie der Klägerin gelingen wird, die Klägerin ausfindig zu machen. Sie muss sich, insbesondere da sie bei einer Rückkehr den Lebensunterhalt für sich und das Kind sicherstellen müsste, bei amtlichen Stellen melden und registrieren lassen. Darüber hinaus wird sie ohne Unterstützung Bekannter oder Freunde voraussichtlich nicht in der Lage sein, das Existenzminimum zu sichern. Dies bedeutet, dass sie nachvollziehbare "Spuren" hinterlassen muss. Angesichts der fortgeschrittenen Vernetzung der Gesellschaft auch in der Türkei und zahlreicher Möglichkeiten, u.a. auch gegen Bezahlung an amtliche Daten und Informationen zu gelangen, ist es voraussichtlich nur eine Frage der Zeit, bis die Familie der Klägerin ihren Aufenthaltsort ausfindig machen wird. Auch wenn es der Klägerin unmittelbar vor der Ausreise für einige Tage möglich war, bei einer Freundin unterzutauchen, ist dies keine dauerhafte Lösung. [...]