VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 13.09.2012 - 2 A 65/12 MD - asyl.net: M20431
https://www.asyl.net/rsdb/M20431
Leitsatz:

Yeziden sind im Irak keiner Gefahr einer Gruppenverfolgung ausgesetzt.

Schlagwörter: Yeziden, Irak, Gruppenverfolgung, Sindjar, Mosul, Mosul-Stadt, Niniveh, Provinz Niniveh, Ninive, Provinz Ninive, nichtstaatliche Verfolgung, Minderheiten, religiöse Verfolgung, religiöse Minderheit,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4,
Auszüge:

[...]

c. Die Klägerin ist auch nicht als Yezide im Irak der Gefahr der Gruppenverfolgung ausgesetzt.

Die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung - hier als Yezide - sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung weitgehend geklärt. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt eine bestimmte "Verfolgungsdichte" voraus, welche die "Regelvermutung" eigener Verfolgung rechtfertigt. Die Verfolgungshandlungen müssen im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Darüber hinaus gilt auch für die Gruppenverfolgung, dass sie im Herkunftsland landesweit drohen muss, d.h. keine innerstaatliche/inländische Fluchtalternative besteht (BVerwG, U. v. 21.04.2009 - 10 C 11.08 -).

Die für die Gruppenverfolgung entwickelten Maßstäbe sind auch anwendbar unter Geltung der Richtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie) und übertragbar auf die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure i.S. des § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG.

Weder aus dem Vortrag der Klägerin noch nach der Auswertung der ins Verfahren eingeführten Erkenntnismittel kann das Gericht im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung die Voraussezungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung von Yeziden in der Herkunftsregion der Klägerin entnehmen. Denn die für die Gruppenverfolgung von Yeziden erforderlche Gefahrendichte lässt sich derzeit nicht feststellen. So kommt der Bayrische VGH in seinen Entscheidungen vom 02.02.2012 - 13a B 11.30335 -, 02.07.2012 - 20 ZB 12.30251 - und 14.03.2012 - 13a ZB 11.30390 -, ebenso wie das OVG Magdeburg in seinen Entscheidungen vom 04.02.2011 - 4 L 192/10 - und 15.02.2012 - 4 L 169/11 -, nach Auswertung der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel (vgl. etwa Lagebericht des AA vom 28.11.2010 und 26.03.2012, Auskunft des Europäischen Zentrums für kurdische Studien vom 17.02.2010 an das Verwaltungsgericht München, Darstellung des Bundesamtes vom Juni 2011) zu dem Ergebnis, dass alle in den Erkenntnismitteln aufgelisteten Gewalttaten gegenüber irakischen Yeziden im Verhältnis zur Gesamtzahl der im Irak lebenden Yeziden letztlich nur einen so geringen prozentualen Anteil ausmachen ("Risiko unterhalb des Promillebereichs"), dass nicht jeder Angehörige dieser Gruppe aktuell und konkret mit einer Gefährdung seiner Person rechnen müsse. Dieser Würdigung schließt sich das erkennende Gericht nach eigener Prüfung an. In dem (in das Verfahren eingeführten) Urteil des Bayrischen VGH vom 02.02.2012 - 13a B 11.30335 - findet sich zudem eine detaillierte Darstellung der Übergriffe gegen Yeziden, die sich das Gericht zu eigen macht und auf die es zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug nimmt.

Anhaltspunkte dafür, dass sich die Situation der Yeziden in jüngster Zeit in relevanter Weise verändert hat und eine Gefahrenverdichtung eingetreten ist, hat die Klägerin weder substantiiert dargetan, noch ergeben sich solche Anhaltspunkte aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln.

So wird zur Entwicklung der Sicherheitslage der Yeziden im Sindjar in der Auskunft des Europäisches Zentrums für kurdische Studien an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 20. November 2011 ausgeführt, dass die Darlegungen aus dem Jahr 2010 (Auskunft v. 17.02.2010 an das VG München) nach wie vor uneingeschränkt Geltung beanspruchen. Zwar habe sich die Sicherheitslage für Yeziden in Mosul-Stadt sowie auf den Straßen dorthin in keiner Weise verbessert. Wegen des massiven Schutzes durch Peschmerga der Regionalregierung Kurdistan-Irak bzw. der irakischen Armee gebe es jedoch auf der Straße nach Dohuk keine Zwischenfälle mehr. Ähnlich sehe es in den Zentraldörfern im Sindjar aus. Insgesamt habe sich die Lage im Sindjar wegen der massiven Aufrüstung in den vergangenen zwei Jahren verbessert. Zwischen Sommer 2009 und August 2011 seien sechs Personen auf dem Wege zwischen Mosul und Sindjar gezielt aus ihren Autos geholt und ermordet worden, sieben Personen seien entführt und zum Teil auch getötet worden. Darüber hinaus wird von zwei weiteren Vorfällen im Zusammenhang mit mutmaßlichen Terroristen berichtet. Zusammenfassend kommt das Europäische Zentrum für kurdische Studien danach zum Ergebnis, dass eine Gefahr insbesondere dann bestehe, wenn sich Yeziden Richtung Mosul begäben; die Strecke nach Mosul sei so unsicher wie in den vergangenen Jahren. Für den Sindjar selbst seien die aufgelisteten Vorfälle, auch wegen der nicht abschätzbaren Dunkelziffer, nicht aussagekräftig. Für wesentlich verlässlicher wird der Eindruck der Gutachter vor Ort gehalten, nach dem sich die Übergriffe in den letzten beiden Jahren aufgrund der massiven "Hochrüstung" als Konsequenz aus den Anschlägen im Jahr 2007 eher verringert hätten (vgl. Auskunft vom 20.11.2011, S. 6 ff. und 12 f.). Dennoch kommt es immer wieder zu Gewaltausbrüchen und Anschlägen gegenüber Yeziden, wie auch die von der Klägerin angeführten Gewaltausbrüche am 02.12.2011 zeigen, bei denen Moslems zahlreiche yezidische Geschäfte und Einrichtungen in den Städten Zakho, Semel und Dohuk in Brand setzten.

Daraus folgt zwar, dass es im Irak nach wie vor zu erheblichen Auseinandersetzungen und Anschlägen auf religiöse Minderheiten kommt und gerade in der Provinz Niniveh die Sicherheitslage für die religiöse Minderheit der Yeziden nach wie vor fragil ist. Eine entscheidungserhebliche Erhöhung der Verfolgungsdichte lässt sich den Auskünften indes nicht entnehmen. Die gilt insbesondere auch für den Distrikt Scheichan, in dem sich die Klägerin von 2007 bis zur Ausreise im September 2011 aufgehalten hat und in den sie ggf. auch zurückkehren wird. Dieser Distrikt gehört zum Hauptsiedlungsgebiet der Yeziden; die Sicherheitslage ist dort vergleichsweise stabil (vgl. Auskunft des Europäischen Zentrums für kurdische Studien an VG München vom 17.02.2010, S. 23).

Dass die Klägerin insoweit in einer herausgehobenen Position und stärker als die Allgemeinheit der Yeziden gefährdet wäre, ist nicht ersichtlich bzw. nicht glaubhaft gemacht (vgl. oben unter 1.a.). [...]