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OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 15.06.2012 - 7 A 10303/12 - asyl.net: M20516
https://www.asyl.net/rsdb/M20516
Leitsatz:

1. Zur Ablehnung eines Beweisantrags unter dem Gesichtspunkt der Wahrunterstellung.

2. Zur Ausweisung eines Ausländers nach § 54 Nr. 5 AufenthG (hier: Mitgliedschaft in Al-Qaida).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Wahrunterstellung, Beweisantrag, Ausweisungsgrund, terroristische Vereinigung, Mitgliedschaft, Unterstützung, Unterstützungshandlungen, gegenwärtige Gefahr der öffentlichen Ordnung, Al Qaida, Ausweisung,
Normen: AufenthG § 54 Nr. 5,
Auszüge:

[...]

Der Einwand des Klägers, es liege hier schon deswegen ein Verfahrensfehler vor, weil eine Wahrunterstellung im Verwaltungsprozess unzulässig sei, geht fehl. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann auch in dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten verwaltungsgerichtlichen Verfahren (§ 86 Abs. 1 VwGO) von einer Beweiserhebung unter dem Gesichtspunkt der Wahrunterstellung abgesehen werden, wenn das Gericht zugunsten des Betroffenen den von diesem behaupteten Sachverhalt ohne jede inhaltliche Einschränkung als richtig annimmt. Allerdings ist im Verwaltungsgerichtsverfahren zu beachten, dass sich stets mindestens zwei Parteien gegenüberstehen. Eine das Ergebnis des Rechtsstreits beeinflussende Wahrunterstellung zugunsten einer Partei wird sich daher in aller Regel zuungunsten der anderen Partei auswirken. Daraus folgt, dass die Wahrunterstellung einer entscheidungserheblichen Tatsache - also gerade die eigentliche Wahrunterstellung im Sinne von § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO - im Verwaltungsprozess regelmäßig ausscheidet. In den Fällen, in denen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren eine Beweiserhebung wegen Wahrunterstellung abgelehnt wird, handelt es sich denn auch regelmäßig um Tatsachen, deren Wahrunterstellung am Ergebnis nichts ändert. Es liegt somit im Kern der Verzicht auf eine Beweiserhebung wegen Unerheblichkeit vor, "welche durch die Wahrunterstellung nur sozusagen experimentell erwiesen wird" (vgl. BVerwGE 77, 150 [156 f.]).

Auch im vorliegenden Fall hat das Verwaltungsgericht die behauptete Neigung des Klägers nicht im eigentlichen Sinne als wahr unterstellt, sondern lediglich als nicht entscheidungserhebliche Tatsache zu seinen Gunsten als richtig unterstellt und die Beweiserhebung letztlich wegen Unerheblichkeit abgelehnt. Das Verwaltungsgericht ist nämlich davon ausgegangen, dass der Kläger den Ausweisungstatbestand des § 54 Nr. 5 AufenthG erfüllt. Die danach erforderlichen Tatsachen - die die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass er einer Vereinigung angehört, die den Terrorismus unterstützt - lägen in erster Linie in den abgehörten Berichten des Klägers selbst, in denen er für sich eine Mitgliedschaft in Al-Qaida in Anspruch nehme (vgl. das Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 5. Dezember 2007, insbesondere die dort umfangreich zitierten abgehörten Äußerungen des Klägers). Daran ändere sich nichts, wenn - wie von der Kammer als wahr unterstellt - der Kläger schon von Kindesbeinen an eine ausgeprägte Neigung gehabt habe, sich mit erfundenen Geschichten gegenüber anderen wichtig zu machen und als erfolgreiche oder bedeutende Person, die er in Wahrheit nicht gewesen sei, darzustellen. Denn wie das Oberlandesgericht Düsseldorf und im Wesentlichen aus den dort genannten Gründen (vgl. das Urteil vom 5. Dezember 2007 ab S. 229) gehe die Kammer davon aus, dass die abgehörten Erzählungen des Klägers einen wahren Kern hätten, der ausreiche, um auf eine Al-Qaida-Mitgliedschaft zu schließen. [...]

Nach § 54 Nr. 5 AufenthG wird ein Ausländer in der Regel ausgewiesen, wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass er einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt, oder er eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat; auf zurückliegende Mitgliedschaften oder Unterstützungshandlungen kann die Ausweisung nur gestützt werden, soweit diese eine gegenwärtige Gefährlichkeit begründen. Es entspricht der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dass der Gesetzgeber bei diesem Ausweisungsgrund die Sicherheitsgefährdung als besonders hoch einstuft und deshalb ein geringeres Beweismaß für die Verwirklichung des Ausweisungsgrundes ausreichen lässt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. Januar 2011 - 1 B 17.10 -, juris, Rn. 5). Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Ausweisungstatbestand hier erfüllt ist. Es hat zu Recht - auch unter Berücksichtigung der genannten, mit dem Beweisantrag aufgestellten Behauptung - hinreichend Tatsachen als gegeben angesehen, die die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass der Kläger Mitglied von Al-Qaida ist.

Zwar weist der Kläger zutreffend darauf hin, dass nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts Düsseldorf in seinem vom Verwaltungsgericht mehrfach zitierten Urteil vom 5. Dezember 2007 er - der Kläger - sich gerade in der Zeit nach seiner Ausreise im Oktober 2001 bis zu seiner Registrierung bei den Tablighi Jamaat am 5. Mai 2002 an Kampfhandlungen auf Seiten von Al-Qaida in Afghanistan und Pakistan beteiligt haben soll. Dieser Umstand mag auch für das strafgerichtliche Urteil von Bedeutung gewesen sein. Für das vorliegende Ausweisungsverfahren ist er jedoch nicht entscheidungserheblich. Es liegen auch dann hinreichend Tatsachen vor, die die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass der Kläger Mitglied von Al-Qaida ist, wenn er sich - wie von ihm im vorliegenden Verfahren behauptet und unter Beweis gestellt - in der Zeit von Oktober 2001 bis Ende April/Anfang Mai 2002 in Syrien und damit nicht in Afghanistan und Pakistan aufgehalten haben sollte. Nach den weiteren, im Urteil des Verwaltungsgerichts wiedergegebenen Feststellungen des Oberlandesgerichts Düsseldorf in seinem Urteil vom 5. Dezember 2007 hat sich der Kläger nämlich bereits schon vor dem im Beweisantrag genannten Zeitraum in den Jahren 2000 und 2001 in Trainingslagern von Al-Qaida in Afghanistan aufgehalten und eine terroristische Ausbildung erhalten. Seither betrachtet er den gewaltsamen Jihad gegen die "Ungläubigen" als seine außer jeder Diskussion stehende Individualpflicht. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland im Juli 2002 hat er umfangreiche Aktivitäten für Rekrutierungs- und Beschaffungsmaßnahmen für Al-Qaida entfaltet und für die Unterstützung des gewaltsamen Jihad durch einen Märtyrereinsatz oder zumindest durch eine Spende an die Organisation geworben. Die Rekrutierungsbemühungen waren in zwei Fällen erfolgreich. Gemeinsam mit zwei angeworbenen Personen wurde beschlossen, Geldmittel für Al-Qaida zu beschaffen. Es wurde verabredet, dass einer der Angeworbenen Lebensversicherungsverträge mit Bezugsberechtigung des anderen Angeworbenen abschließt. Anschließend sollte der Vertragsinhaber nach Ägypten reisen und dort durch Bestechung von Amtspersonen inhaltlich unrichtige amtliche Dokumente wie eine Sterbeurkunde und einen polizeilichen Unfallbericht beschaffen, aus denen sich ein tödlicher Unfall ergeben sollte. Mit diesen Dokumenten und unterstützt durch den Kläger sollte der Begünstigte dem Versicherungsunternehmen einen tödlichen Autounfall des Vertragsinhabers "belegen" und als Begünstigter die Versicherungsleistungen geltend machen. Ein erheblicher Teil des so erlangten Geldes war für Al-Qaida bestimmt. Zu diesem Zweck wurden bis Januar 2005 insgesamt 28 Anträge auf Abschluss von Lebensversicherungsverträgen gestellt. Letztlich wurden neun Versicherungsverträge mit einer garantierten Todesfallsumme von 1.294.092,00 € abgeschlossen. Diese Aktivitäten sowohl vor als auch nach dem Zeitraum von Oktober 2001 bis Ende April/Anfang Mai 2002, in dem der Kläger seinem Beweisantrag zufolge sich in Syrien aufgehalten haben soll, stellen hinreichende Tatsachen dar, die die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass der Kläger ein Mitglied von Al-Qaida ist. Ob der Kläger darüber hinaus auch von Oktober 2001 bis Ende April/Anfang Mai 2002 in Afghanistan und Pakistan und dabei auf Seiten von Al-Qaida an Kampfhandlungen beteiligt gewesen ist oder - wie im vorliegenden Verfahren behauptet und unter Beweis gestellt - sich nicht dort, sondern in Syrien aufgehalten hat, ist daher für die Erfüllung des Ausweisungstatbestands des § 54 Nr. 5 AufenthG nicht entscheidungserheblich. [...]