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VG Stade

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Zitieren als:
VG Stade, Urteil vom 28.02.2013 - 4 A 253/11 - asyl.net: M20524
https://www.asyl.net/rsdb/M20524
Leitsatz:

Erweisen sich nach den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgestellten sogenannten Boultif/Üner-Kriterien die rechtlichen Auswirkungen einer Ausweisung in Ansehung von Art. 6 Abs. 1 GG als unverhältnismäßig bzw. als nicht notwendig im Sinne von Art. 8 EMRK, scheidet eine Ausweisung des Betroffenen aus.

Schlagwörter: Straftat, Straftäter, familiäre Lebensgemeinschaft, Schutz von Ehe und Familie, Achtung des Familienlebens, deutscher Ehegatte, Ausweisung, deutsches Kind, strafrechtliche Verurteilung, Drogendelikt,
Normen: AufenthG § 55, ARB 1/80 Art. 7, ARB 1/80 Art. 14, GG Art. 6, EMRK Art. 8, StAG § 4 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

Die Frage, ob der durch eine Ausweisung bewirkte Eingriff im konkreten Einzelfall notwendig, insbesondere verhältnismäßig ist, ist anhand einer Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Ausweisung eines straffällig gewordenen Ausländers mit seinem Interesse an der Aufrechterhaltung seiner durch Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 EMRK geschützten privaten und familiären Bindungen im Bundesgebiet zu beurteilen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ist dabei von einem bestimmten, nicht notwendigerweise abschließenden Kriterien und Prüfkatalog auszugehen, dem sog. Boultif/Üner-Kriterien (vgl. hierzu EGMR, Urteile vom 2. August 2001 - Nr. 54273/00, Boultif -, vom 18. Oktober 2006 - Nr. 46410/00, Üner -, vom 23. Juni 2008 - Nr. -1883/03, Maslov II - und vom 13. Oktober 2011 - Nr. 41548/06, Trabelsi, jeweils zitiert nach juris). Erweisen sich danach die rechtlichen oder tatsächlichen Auswirkungen einer Ausweisung in Ansehung von Art. 6 Abs. 1 GG als unverhältnismäßig bzw. im Sinne von Art. 8 EMRK als nicht notwendig, scheidet eine Ausweisung des Betreffenden regelmäßig aus.

Ausgehend hiervon ist die Ausweisung des Klägers nicht verhältnismäßig/nicht notwendig.

Es bestehen keine Zweifel daran, dass der Kläger mit seiner deutschen Ehefrau und seinem deutschen Kind in enger familiärer Gemeinschaft lebt. Den Umstand, dass Ehefrau und Kind ihren Wohnsitz in Bremen haben. er selbst hingegen in Osterholz-Scharmbeck gemeldet ist, hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung zu erklären vermocht. Er hat ausgeführt, dass er im März/April 2010 mit seiner Ehefrau nach Bremen gezogen sei und sich dort angemeldet habe. Er sei seinerzeit weder im Besitz eines Aufenthaltstitels noch einer Duldung gewesen und vom Ordnungsamt der Freien Hansestadt Bremen darauf hingewiesen worden, dass er sich nicht in Bremen aufhalten dürfe, woraufhin er sich wieder in Osterholz-Scharmbeck unter der Adresse seiner Mutter angemeldet habe. Aufgehalten habe er sich entweder in Bremen bei seiner Ehefrau oder zusammen mit seiner Ehefrau in Osterholz-Scharmbeck. Die ihm im April 2011 von dem Beklagten erteilte Duldung sei mit der Nebenbestimmung "Vorübergehender Aufenthalt in der Stadt Bremen ist erlaubt. Der Wohnsitz ist in der Stadt Osterholz-Scharmbeck, Landkreis Osterholz zu nehmen" versehen, so dass er zur Wohnsitznahme in Osterholz-Scharmbeck verpflichtet sei. Seit seiner Haftentlassung halte er sich wieder mal in Bremen bei Ehefrau und Kind und mal in Osterholz-Scharmbeck mit Ehefrau und Kind auf. Eine Trennung von seiner Familie sei zu keinem Zeitpunkt erfolgt. Die Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung zu den unterschiedlichen Wohnsitzen seiner Familie waren nachvollziehbar und glaubhaft.

Dem Umstand, dass der Kläger mit Ehefrau und Sohn in enger familiärer Gemeinschaft lebt, kommt eine erhebliche und weitreichende, durch Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK vermittelte Schutzwirkung zu, welche durch die deutsche Staatsangehörigkeit von Ehefrau und Sohn noch verstärkt wird. Dies wird auch nicht durch den Umstand relativiert, dass Frau ... früher die türkische Staatsangehörigkeit hatte und ca. 11 Jahre in der Türkei gelebt hat (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil-vom 4. Mai 2011 - 11 S 207/11 -; Hess. VGH, Beschluss vom 15. Juli 2003 - 12 TG 1484/03 -, jeweils zitiert nach juris). Von ihr kann nicht verlangt.werden, dass sie mit dem Kläger in die Türkei ausreist. Dies gilt auch für den Sohn ... Der Beklagte verkennt, dass der Bestand der deutschen Staatsangehörigkeit des Kindes nicht von dem Ausgang des vorliegenden Verfahrens abhängig ist. Ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 erlischt nur bei rechtskräftiger Ausweisung oder bei Verlassen des Aufnahmemitgliedstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe. Dies bedeutet, dass selbst wenn sich die Ausweisung des Klägers als rechtmäßig erwiese, seine Rechte aus dem ARB 1/80 erst mit Rechtskraft der Ausweisungsverfügung erlöschen würden. Es bliebe daher dabei, dass im Fall des Sohnes des Klägers die Voraussetzungen für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch Geburt gemäß § 4 Abs. 3 StAG - rechtmäßiger gewöhnlicher Aufenthalt eines Elternteils im Inland seit acht Jahren und Bestehen eines unbefristeten Aufenthaltsrechts (im Zeitpunkt der Geburt) - vorgelegen haben und liegen. Dementsprechend hat die Staatsangehörigkeitsbehörde der Freien Hansestadt Bremen das Bestehen der deutschen Staatsangehörigkeit bei dem Sohn des Klägers gemäß § 30 StAG verbindlich festgestellt und ... unter dem 11. Juli 2012 einen Staatsangehörigkeitsausweis ausgestellt.

In Anbetracht des jungen Alters von ... hatte selbst eine nur vorübergehende Trennung von seinem Vater für das Kind ein besonderes Gewicht (vgl. zu Kindern in den ersten Lebensjahren BVerfG, Beschlüsse vom 23. Januar 2006 - 2 BvR 1936/05 - und vom 1. Dezember 2008 - 2 BvR 1630/08 -, jeweils zitiert nach juris). Seinen Belangen kann auch durch eine Befristung der Wirkungen der Ausweisung auf einen bestimmten Zeitraum nach Abschiebung/Ausreise - hier ein Jahr - nicht hinreichend Rechnung getragen werden. [...]