Das vietnamesische Ehe- und Familienrecht geht nach Art. 42 ff. des Gesetzes über Ehe und Familie der Sozialistischen Republik Vietnam vom 19. Dezember 1986 (MFL a.F.) im Grundsatz von einer gemeinsamen Personensorge beider Elternteile auch nach der Scheidung der Eltern aus. Die Übernahme der direkten Aufziehung eines Kinds im Fall der Scheidung und die damit in der vietnamesischen Rechtspraxis verbundene weitgehende faktisch alleinige Ausübung der Personensorge entbindet den nicht direkt aufziehenden Elternteil nicht von seinen fortbestehenden Sorgepflichten.
(Amtlicher Leitsatz)
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1. Nach § 32 Abs. 3 AufenthG ist einem minderjährigen ledigen Kind, welches das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn beide Eltern oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis, Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG besitzt. Der Vater des Klägers besitzt zwar eine Niederlassungserlaubnis, ist aber nicht allein personensorgeberechtigt im Sinn der Vorschrift. Der Begriff "alleiniges Personensorgerecht" ist mit Blick auf Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251/12 vom 3. Oktober 2003) – sog. Familienzusammenführungsrichtlinie – gemeinschaftsrechtlich auszulegen. Der eine Elternteil besitzt danach die alleinige Personensorge, wenn dem anderen Elternteil bei der Ausübung des Sorgerechts keine substantiellen Mitentscheidungsrechte und -pflichten, etwa in Bezug auf Aufenthalt, Schule und Ausbildung oder Heilbehandlung des Kindes zustehen. Die gemeinsame Personensorge besteht, wenn sich die Eltern in für das Kind und seine weitere Entwicklung wesentlichen Angelegenheiten das Sorgerecht teilen (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 7. April 2009 – 1 C 17/08 – juris Rn. 12, 16).
Nach diesem Maßstab ist der Vater des Klägers nicht allein sorgeberechtigt. Dabei hat das Gericht zur Erforschung des maßgeblichen vietnamesischen Rechts, wie es in Rechtsprechung und Rechtsanwendung Ausdruck und in der Praxis Anwendung findet, herangezogen: Eine deutsche und eine englische Übersetzung des einschlägigen Ehe- und Familiengesetzes, das von der Beklagten eingeholte Gutachten der Anwaltskanzlei B. sowie zwei ergänzende Stellungnahmen dieses Anwaltsbüros und den umfangreichen schriftlichen und mündlichen Vortrag der Beteiligten.
Neben dem Vater ist auch die in Vietnam lebende Mutter des Klägers sorgeberechtigt und zudem zur Sorge für den Kläger verpflichtet. Denn das vietnamesische Ehe- und Familienrecht geht nach Art. 42 ff. des Gesetzes über Ehe und Familie der Sozialistischen Republik Vietnam vom 19. Dezember 1986 (MFL a.F.), das dem Scheidungsurteil aus dem Jahr 2000 zu Grunde liegt, im Grundsatz von einer gemeinsamen Personensorge beider Elternteile auch nach der Scheidung der Eltern aus (st. Rspr. der Kammer, vgl. Urteile vom 18. November 2010 – 22 K 8.10 – und vom 8. April 2011 – 22 K 5.10 V –). Insoweit spricht Art. 44 des Ehe- und Familiengesetzes von den Rechten und Pflichten der geschiedenen Eheleuten, ohne eine Unterscheidung von Mutter oder Vater zu machen (In der vom UNHCR [www.unhcr.org/cgibin/texis/vtx/refworld/rwmain?/page=printdoc& mp;docid=3ae6b54dc] als offiziell bezeichneten englischen Übersetzung: "The divorcees shall have rights and duties vis-a-vis their common children"; in der deutschen Übersetzung bei Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht: "Den geschiedenen Eheleuten verbleiben alle Rechte und Pflichten gegenüber den gemeinsamen Kindern"). Gemäß Art. 45 Abs. 2 Ehe- und Familiengesetz (1986) bleibt die nicht die (direkte) Sorge über das Kind ausübende Person "verpflichtet, es zu besuchen, für es zu sorgen und sich an den Kosten des Unterhalts und der Erziehung des Kindes zu beteiligen" (in englischer Übersetzung: "… shall have the right and duty to care fort them and contribute towards the cost of their support and education"). Es kann dahinstehen, ob das vietnamesische Ehe- und Familienrecht es – abgesehen von der Möglichkeit nach Art. 41 MFL n.F. bzw. Art. 26 MFL a.F. – ausschließt, einem Eltern durch Vereinbarung der Eltern oder gerichtliche Entscheidung das alleinige Sorgerecht zu übertragen. Denn eine solche umfassende Übertragung hat das Gericht hier nicht festgestellt. [...]