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VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 26.10.2012 - 22 K 30.12 - asyl.net: M20555
https://www.asyl.net/rsdb/M20555
Leitsatz:

1. Zur Prognose (Rückkehrbereitschaft) bei fehlender Indizwirkung familiärer und finanzieller Verwurzelung im Fall eines in Deutschland geborenen Ausländers, der mit 15 Jahren von seinen Eltern ins Heimatland geschickt wurde, dort eine Ausbildung absolviert und zu Besuch nach Deutschland kommen möchte, ohne zuvor sein Recht auf Wiederkehr geltend gemacht zu haben.

2. Unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist im Rahmen einer einzelfallbezogenen Gesamtbetrachtung auf der Grundlage aller verfügbaren Informationen eine Prognoseentscheidung zur Wahrscheinlichkeit einer nicht rechtzeitigen Ausreise oder rechtswidrigen Einwanderung zu treffen, die Schwere der mit einer illegalen Migration verbundenen Gefahr in den Blick zu nehmen und dabei der besondere Schutz zu beachten, den Ehe und Familie genießen.

3. Aus Art. 14 Abs. 1 Buchstabe d i.V.m. Abs. 3 und Anhang II VK lässt sich entnehmen, welche äußeren Umstände als Indizien zur Beurteilung der inneren Tatsache des Rückkehrwillens herangezogen werden können.

Schlagwörter: Besuchsvisum, Visum, Visakodex, Verhältnismäßigkeit, begründete Zweifel, Rückkehrbereitschaft, Türkei, türkische Staatsangehörige, Schengen-Visum, Schutz von Ehe und Familie,
Normen: VO 810/2009 Art. 21 Abs. 1 Hs. 2, AufenthG § 37,
Auszüge:

[...]

Gemäß Art. 21 Abs. 1 Halbsatz 2 VK ist bei der Prüfung eines Antrags auf ein einheitliches Visum insbesondere zu beurteilen, ob bei dem Antragsteller das Risiko der rechtswidrigen Einwanderung besteht und ob er beabsichtigt, vor Ablauf der Gültigkeitsdauer des beantragten Visums das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu verlassen. Nach Art. 32 Abs. 1 VK wird das Visum u.a. verweigert, wenn der Antragsteller als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung eingestuft wird (Buchstabe a Ziff. vi), oder begründete Zweifel an der an der Echtheit der von dem Antragsteller vorgelegten Belege oder am Wahrheitsgehalt ihres Inhalts, an der Glaubwürdigkeit seiner Aussagen oder an der von ihm bekundeten Absicht bestehen, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vor Ablauf der Gültigkeit des beantragten Visums zu verlassen (Buchstabe b).

Ausgehend von den in Art. 21 Abs. 1 und 32 Abs. 1 VK getroffenen Regelungen fehlt es an den tatbestandlichen Voraussetzungen für die Visumserteilung, wenn nach dem Ergebnis einer umfassenden Risikobewertung begründete Zweifel an der Absicht des Antragstellers bestehen, das Visum zum angegebenen Aufenthaltszweck zu nutzen und fristgemäß den Schengen-Raum zu verlassen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab wird durch Art. 32 Abs. 1 Buchstabe b VK vorgegeben. Diese Bestimmung spricht zwar unmittelbar nur die Gefahr einer nicht rechtzeitigen Ausreise an. Hinsichtlich des noch schwerer wiegenden Risikos einer rechtswidrigen Einwanderung können jedoch keine höheren Anforderungen gelten. Im Rahmen einer einzelfallbezogenen Gesamtbetrachtung ist unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage aller verfügbaren Informationen (vgl. Art. 21 Abs. 9 Satz 2 VK) eine Prognoseentscheidung zur Wahrscheinlichkeit einer nicht rechtzeitigen Ausreise oder rechtswidrigen Einwanderung zu treffen, die Schwere der mit einer illegalen Migration verbundenen Gefahr in den Blick zu nehmen und dabei – soweit einschlägig – der besondere Schutz zu beachten, den Ehe und Familie nach Art. 6 GG, Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte (EMRK) und Art. 7 der Grundrechte-Charta (GRCh, ABl. EU 2010 C 83 S. 389) genießen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24. Juni 2010 a.a.O. Rn. 31).

Anhaltspunkte dafür, welche äußeren Umstände als Indizien zur Beurteilung der inneren Tatsache des Rückkehrwillens herangezogen werden können, lassen sich Art. 14 Abs. 1 Buchstabe d i.V.m. Abs. 3 und Anhang II VK entnehmen. Danach zählen zu den Dokumenten, anhand derer sich die Absicht des Antragstellers, das Gebiet der Mitgliedstaaten zu verlassen, beurteilen lässt, unter anderem: Die Buchung eines Rückreise- oder Rundreisetickets, der Nachweis finanzieller Mittel im Wohnsitzstaat, eines Arbeitsverhältnisses: Kontoauszüge und von Immobilienbesitz sowie der Nachweis der Eingliederung im Wohnsitzstaat anhand von Angaben zu familiären Bindungen und dem beruflichen Status.

Ausgehend von diesem Maßstab bestehen hier keine begründeten Zweifel an der Rückkehrbereitschaft der Klägerin. Fehlende familiäre oder finanzielle Verwurzelung in der Türkei sind für sich im vorliegenden Einzelfall keine geeigneten Indizien, Zweifel an der Rückkehrbereitschaft der Klägerin zu begründen. Da die Klägerin den größten Teil ihres Lebens in Deutschland verbracht hat, bevor sie zu ihrer Großmutter in die Türkei zog, während ihre Eltern und Geschwister in Deutschland blieben, kann sie naturgemäß in der Türkei noch keine familiäre Verwurzelung aufweisen. Da sie Schülerin war und sich jetzt in einer Ausbildung befindet, konnte sich auch noch keine finanzielle Verwurzelung ausbilden. Die Klägerin darauf zu verweisen, erst nach Entstehen einer eigenen Verwurzelung zu Besuchszwecken wieder in das Bundesgebiet reisen zu dürfen, wäre unverhältnismäßig. Es ist nachvollziehbar und plausibel, dass ein junger Mensch, der in Deutschland bis zu seinem 15. Lebensjahr gelebt hat und dann aus Gründen, die vorliegend im Einzelnen nicht bekannt sind, in das Heimatland seiner Eltern ging oder gehen musste (nicht wie Beklagte ausführt: zurückkehrte), das Bedürfnis hat, seine Familie und Freunde aus dieser Zeit in Deutschland gelegentlich wiedersehen zu wollen. Gegen fehlenden Rückkehrwillen spricht zudem, dass die Klägerin bis zum 1. September 2011 grundsätzlich Antrag auf Wiederkehr gemäß § 37 AufenthG hätte stellen können. Dies hat sie jedoch nicht getan, sondern in den Jahren 2008, 2010 und 2011 jeweils nur Anträge auf Besuchsreisen gestellt. Ob weitere Voraussetzungen für einen sog. Rückkehranspruch, insbesondere ausreichende Sicherung des Lebensunterhalts für die Dauer von fünf Jahren seinerzeit bestand, ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens und wurde auch in der Vergangenheit nicht geprüft, so dass fehlende Nachweise darüber für die hier vorzunehmende Prognoseentscheidung nicht aussagekräftig sind. [...]