LG Frankfurt/Oder

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Zitieren als:
LG Frankfurt/Oder, Beschluss vom 18.03.2013 - 15 T 11/13 - asyl.net: M20557
https://www.asyl.net/rsdb/M20557
Leitsatz:

1. Ist die Behörde nach Festnahme des Betroffenen noch nicht in der Lage, alle Angaben zur Rücknahmepflicht des Zielstaats nach der VO EG Nr. 343/2003 "Dublin-II-Verordnung" zu machen, kann sie den Erlass einer vorläufigen Freiheitsentziehung gemäß § 427 FamFG beantragen.

2. Die Haftdauer der vorläufigen Freiheitsentziehung ist auf den Zeitraum zu beschränken, den es voraussichtlich dauern wird, eine Ermittlung aller im Haftantrag anzugebenden Tatsachen bei gebotener zügiger Bearbeitung abzuschließen und den Betroffenen sodann auf der Grundlage eines vollständigen Haftantrags erneut dem Haftrichter vorzuführen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, Freiheitsentziehung, Abschiebungshaft, Zurückschiebungshaft, Haftdauer, Dauer, Dauer der Freiheitsentziehung, Zurückschiebung, Asylantrag, Übernahmeersuchen, Zielstaat,
Normen: FamFG § 427, AufenthG § 62 Abs. 3 S. 4,
Auszüge:

[...]

Nach § 427 Abs. 1 S. 1 FamFG kann das Gericht durch einstweilige Anordnung eine vorläufige Freiheitsentziehung anordnen, wenn dringende Gründe für die Annahme bestehen, dass die Voraussetzungen für die Anordnung einer Freiheitsentziehung gegeben sind und ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden besteht. Die Bestimmung erfasst Sachverhalte, in denen die Voraussetzungen für eine Freiheitsentziehung zwar noch nicht abschließend festgestellt werden können, vorab aber schon eine einstweilige Regelung benötigt wird (MünchKommZPO/Wendtland FamFG § 427 Rn. 2). Es handelt sich beim Verfahren der einstweiligen Anordnung um ein selbstständiges Verfahren, das betrieben werden kann, ohne dass ein auf eine dauerhafte Freiheitsentziehung gerichtetes Verfahren bereits anhängig ist (MünchKommZPO/Wendtland FamFG aaO Rn. 6). Erforderlich ist, dass dringende Gründe für die Annahme der Voraussetzungen für die Anordnung einer Freiheitsentziehung vorliegen. Dabei genügt es, wenn das Gericht hinreichende Anhaltspunkte für die erhebliche Wahrscheinlichkeit eines Lebenssachverhalts hat, der die Freiheitsentziehung rechtfertigt (MünchKommZPO/Wendtland FamFG § aaO Rn. 3).

Ein zur Beantragung einer einstweiligen Anordnung berechtigender Eilfall hat bei Erlass der Haftanordnung bestanden.

Die Beteiligte war die für die Beantragung der Sicherungshaft sachlich und örtlich zuständige Verwaltungsbehörde, was gemäß § 417 Abs. 1 FamFG eine Verfahrensvoraussetzung für die richterliche Haftanordnung darstellt und von Amts wegen in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen ist (vgl. BGH FGPrax 2010, 156). Die Zuständigkeit des Amtsgerichts Frankfurt (Oder) war gemäß § 416 FamFG gegeben, weil in seinem Bezirk das Bedürfnis für die Freiheitsentziehung entstanden ist.

Die Beteiligte war bei Antragstellung noch nicht in der Lage, die gemäß § 417 Abs. 2 Nr. 4 und 5 FamFG notwendigen Angaben zur erforderlichen Dauer der Freiheitsentziehung sowie zu den Voraussetzungen und der Durchführung der Zurückschiebung zu machen. Denn in Fällen der Zurückschiebung nach der Verordnung EG Nr. 343/2003, "Dublin-II-VO", trifft das BAMF die Entscheidung über den Zielstaat, die Frage, ob ein Aufnahme- oder ein Wiederaufnahmeverfahren gewählt und ggf. nach welchen Bestimmungen der Verordnung es betrieben werden soll. Da der Beteiligten eine Information über die geplante Vorgehensweise durch das BAMF noch nicht vorlag und sie dies in eigener Verantwortung nicht zu bestimmen vermochte, konnte sie dem Gericht im Haftantrag keinen vollständigen Lebenssachverhalt unterbreiten. Soweit diesem deshalb eine Prognose darüber, ob die geplante Zurückschiebung in einen konkreten Zielstaat durchführbar war, nicht möglich war, war die Anordnung einer einstweiligen Freiheitsentziehung geboten und berechtigt (vgl. BGH Beschl. v. 6.12.2012, V ZB 118/12, juris).

Nicht gerechtfertigt war hier indes die Anordnung einer Haftdauer von drei Wochen. Art. 103 Abs. 1 GG gibt dem an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten ein Recht darauf, dass er Gelegenheit erhält, im Verfahren zu Wort zu kommen, namentlich sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt und zur Rechtslage zu äußern (BVerfGE 64, 135). Im Freiheitsentziehungsverfahren ist es deshalb grundsätzlich erforderlich, dass dem Betroffenen für eine sachgerechte Verteidigung der vollständige Inhalt des Haftantrags bekanntgegeben wird (vgl. BGH FGPrax 2011, 257), zu dem er sich in einer persönlichen Anhörung äußern können muss (vgl. BGH Beschl. v. 6.12.2012, V ZB 224/11, juris). Der Erlass einer auf einen unvollständig ausermittelten Lebenssachverhalt gestützten einstweiligen Anordnung verkürzt bei objektiver Betrachtung stets das rechtliche Gehör des Betroffenen, weil er zu einem im Haftantrag nicht mitgeteilten Umstand nicht angehört werden kann. Eine solche Gehörsverkürzung ist nach dem Gesetz soweit - aber eben auch nur solange - möglich wie aller Voraussicht nach ein vorläufiges Regelungsbedürfnis besteht, d.h., für den Zeitraum, den es wahrscheinlich dauern wird, eine Ermittlung aller im Haftantrag anzugebenden Tatsachen bei gebotener zügiger Bearbeitung abzuschließen und den Betroffenen sodann auf der Grundlage eines vollständigen Haftantrags erneut dem Haftrichter vorzuführen.

Die Kammer geht anhand ihrer in einer Vielzahl von vergleichbaren Verfahren gewonnenen Erfahrung davon aus, dass es dem BAMF und den übrigen Beteiligten bei einer angemessen zügigen Bearbeitung derzeit regelmäßig bis zum fünften auf die Ergreifung folgenden Werktag möglich ist, eine Entscheidung über die Zurückschiebungsmodalitäten nach der Dublin-II-VO zutreffen, den Haftantrag zu vervollständigen und den Betroffenen erneut dem Haftrichter vorzuführen. Hiernach wäre die Haftdauer vorliegend längstens auf dem Ablauf des 9.1.2013 zu befristen gewesen.

Entgegen der Rechtsauffassung der Beteiligten folgt aus den Beschlüssen des BGH vom 6.12.2012 (V ZB 118/12 aaO) und vom 8.11.2012 (V ZB 120/12, juris) nicht, dass eine vorläufige Freiheitsentziehung bis zur Zusage der Übernahme des Betroffenen durch den Zielsaat angeordnet werden darf oder gar muss. Das lässt sich den angeführten Entscheidungen nicht entnehmen. Voraussetzung für eine (endgültige) Haftanordnung ist es nämlich gerade nicht, dass die Ab- oder Zurückschiebungsmodalitäten zweifelsfrei geklärt sind und endgültig feststehen. Erforderlich ist nur, dass dem Haftrichter die gemäß § 417 FamFG notwendigen Angaben unterbreitet werden, damit dieser sich von der Durchführbarkeit der geplanten Maßnahme überzeugen kann. Dem Haftrichter wird dabei nur die Prognose darüber abverlangt, ob die Abschiebung innerhalb der Frist des § 62 Abs. 3 S. 4 AufenthG durchführbar erscheint (vgl. BGH FGPrax 2012, 328; Beschl. v. 30.3.2012, V ZB 196/11, juris; Beschl. v. 8.3.2012, V ZB 257/11). Im Einklang hiermit wird im Beschluss vom 6.12.2012 (V ZB 118/12 aaO Rn. 8) dargelegt, dass es dem Richter ermöglicht werden muss, zu prüfen, ob die Zurückschiebung gelingen könne, nicht hingegen, ob sie gelingen werde oder müsse. Soweit in den Ausführungen im Beschluss vom 8.11.2012 (V ZB 120/12 aaO Rn. 5) die Rede davon ist, dass festgestellt sein müsse, dass der Zielstaat zur Rücknahme verpflichtet sei, ist damit - wie die ausführlicheren Darlegungen in der Entscheidung vom 6.12.2012 (V ZB 118/12 aaO) erkennen lassen - nicht mehr gemeint, als dass dem Richter ein Sachverhalt zu unterbreiten ist, der ihm eine entsprechende Prognose ermöglicht. Allgemein gilt, dass es auf die Wirksamkeit der Haftanordnung keinen Einfluss hat, wenn sich das Ziel der Ab- oder Zurückschiebung - ggf. auch mehrfach - aufgrund veränderter Umstände im Nachgang ändert (vgl. BGH Beschl. v. 17.6.2010, V ZB 13/10, juris), solange die höchstzulässige Haftdauer nicht überschritten wird und die Behörde das Verfahren mit der gebotenen Beschleunigung betreibt. [...]