FG Münster

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Zitieren als:
FG Münster, Urteil vom 22.02.2013 - 14 K 1993/12 Kg - asyl.net: M20560
https://www.asyl.net/rsdb/M20560
Leitsatz:

1. Für den Bezug von Kindergeld kommt es im Rahmen des § 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG allein auf den tatsächlichen Besitz aufenthaltsrechtlicher Titel an und nicht darauf, ob ein Ausländer einen Anspruch auf einen Titel hat, der zum Bezug von Kindergeld berechtigt (vgl. BFH-Rechtsprechung).

2. Diese "Besitz"-Rechtsprechung des BFH ist auch auf die Fälle anzuwenden, in denen der Ausländer zwar eigentlich kraft Gesetzes zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt ist, auf dem ihm erteilten Aufenthaltstitel jedoch das Gegenteil vermerkt ist.

Schlagwörter: Kindergeld, Erwerbstätigkeit, Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltstitel, Familienkasse, Arbeitserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Erwerbsberechtigung, Nebenbestimmung, Anfechtbarkeit, Verwaltungsakt,
Normen: EStG § 62 Abs. 2 Nr. 2, AufenthG § 4 Abs. 2 S. 2,
Auszüge:

[...]

Entgegen der Auffassung des Klägers liegen auch die Voraussetzungen des § 62Abs. 2 Nr. 2 EStG nicht vor.

Zwar ist dem Kläger dahingehend zuzustimmen, dass er im Streitzeitraum gem. § 29 Abs. 5 Nr. 3 AufenthG grundsätzlich bereits kraft Gesetzes zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt war. Nach § 29 Abs. 5 Nr. 3 AufenthG berechtigt eine zum Zwecke des Familiennachzugs erteilte Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit, wenn die eheliche Lebensgemeinschaft seit mindestens zwei Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet bestanden hat und die Aufenthaltserlaubnis des Ausländers, zu dem der Familiennachzug stattfindet, nicht mit einer Nebenbestimmung nach § 8 Abs. 2 AufenthG versehen oder dessen Aufenthalt nicht bereits durch Gesetz oder Verordnung von einer Verlängerung ausgeschlossen ist. Diese Voraussetzungen waren im Streitfall ab November 2009 erfüllt, denn der Kläger hatte am 06.11.2007 eine Aufenthaltserlaubnis erhalten und sich in der Folgezeit in Deutschland aufgehalten, so dass die eheliche Lebensgemeinschaft ab November 2009 seit mindestens zwei Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet bestanden hat. Dafür, dass der auf § 16 Abs. 1 AufenthG beruhende Aufenthaltstitel der Ehefrau des Klägers mit einer Nebenbestimmung nach § 8 Abs. 2 AufenthG versehen war, ist nichts ersichtlich und eine Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 16 AufenthG ist auch nicht kraft Gesetzes oder kraft Verordnung ausgeschlossen (zur Verlängerbarkeit s. § 16 Abs. 1 letzter HS, Abs. 4 AufenthG).

Der Kläger war im Streitzeitraum jedoch nicht – wie von § 62 Abs. 2 Nr. 2 1.HS EStG verlangt wird - "im Besitz" eines Aufenthaltstitels, der ihn zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigte. Dass es für den Bezug von Kindergeld allein auf den tatsächlichen Besitz aufenthaltsrechtlicher Titel ankommt und nicht darauf, ob ein Ausländer einen Anspruch auf einen Titel hat, der zum Bezug von Kindergeld berechtigt, hat der BFH bereits mehrfach entschieden (z.B. Beschluss vom 18.02.2009 – III B 132/08, BFH/NV 2009, 922; Urteil vom 28.04.2010 – III R 1/08, BStBl II 2010, 980; Urteil vom 26.08.2010 – III R 47/09, BStBl II 2011, 589). Das Gleiche gilt hinsichtlich der Frage, ob der Ausländer zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt ist. Auch insoweit reicht es nicht aus, dass der Ausländer einen Anspruch auf die Erlaubnis der Ausübung einer Erwerbstätigkeit gehabt haben mag, sondern maßgebend ist vielmehr, ob die Arbeitserlaubnis oder die Erlaubnis zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit tatsächlich vorlagen (z. B. BFH, Urteil vom 27.01.2011 – III R 45/09, BStBl II 2011, 720).

Soweit ersichtlich hatte der BFH bislang allerdings nur Fälle zu entscheiden, in denen die Frage, ob eine Erwerbstätigkeit erlaubt wird, von der Ausländerbehörde einzelfallbezogen zu prüfen ist. In diese Fallgruppe, bei der die Erwerbsberechtigung erst durch eine positive Entscheidung/Bescheidung konstitutiv begründet wird, gehören z.B. Titel nach § 25 Abs. 3 bis 5 AufenthG.

Daneben kennt das Aufenthaltsgesetz jedoch auch Titel, deren Inhaber bereits kraft Gesetzes zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt ist (vgl. § 4 Abs. 2 S. 1 AufenthG). Zu dieser Fallgruppe gehören z.B. Niederlassungserlaubnisse (§ 9 Abs. 1 AufenthG) oder Titel nach § 28 Abs. 5 AufenthG (Familiennachzug zu Deutschen). Zwar hat die Ausländerbehörde auch in diesen Fällen auf dem Titel zu vermerken, ob eine Erwerbstätigkeit erlaubt ist (s. § 4 Abs. 2 S. 2 AufenthG), jedoch hat der Vermerk "Erwerbstätigkeit erlaubt" hier nur deklaratorischen Charakter.

Der Senat hält es für geboten, die "Besitz"-Rechtsprechung des BFH auch auf die Fälle anzuwenden, in denen der Ausländer zwar eigentlich kraft Gesetzes zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt ist, auf dem ihm erteilten Aufenthaltstitel jedoch das Gegenteil vermerkt ist.

Hierfür spricht zunächst, dass es sich bei einem Aufenthaltstitel um einen Verwaltungsakt handelt. Wird dieser nicht angefochten, wird er einschließlich etwaiger Nebenbestimmungen bestandskräftig. Die Bestandskraft hat zur Folge, dass der Adressat des Bescheides diesen auch dann gegen sich geltend lassen muss, wenn der Verwaltungsakt rechtswidrig sein sollte. Bezogen auf den Streitfall bedeutet das, dass die Nebenbestimmung "Selbständige Erwerbstätigkeit nicht gestattet. Unselbständige Erwerbstätigkeit nur mit Erlaubnis der zuständigen Ausländerbehörde gestattet" für den Kläger bindend ist, auch wenn sie falsch ist. Korrigiert wurde der Verwaltungsakt erst mit Wirkung ab dem 15.03.2012.

Zudem ist der Sinn und Zweck des § 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zu beachten. Hiernach muss jeder Aufenthaltstitel erkennen lassen, ob die Ausübung einer Erwerbstätigkeit erlaubt ist. Die Vorschrift dient letztlich dazu, Klarheit über das Vorliegen der Erwerbsberechtigung zu schaffen. Dritte sollen die Erwerbsberechtigung nicht eigenständig prüfen müssen, sondern können sich auf den Eintrag verlassen bzw. dürfen diesen nicht eigenmächtig übergehen. Gerade in Masseverfahren wie der Kindergeldfestsetzung ist § 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG von erheblicher Bedeutung. Denn die Familienkasse, die für die Prüfung der ausländerrechtlichen Bestimmungen nicht originär zuständig ist, muss sich auf die Eintragungen im Aufenthaltstitel verlassen können. Dies gilt in ganz besonderem Maße für Aufenthaltserlaubnisse nach § 30 AufenthG, da bei diesen Titeln ohne genaue Kenntnis des Sachverhalts – wie z. B. Kenntnisse über Art und Inhalt des dem Ehegatten erteilten Titels – gar nicht beurteilt werden kann, ob der kindergeldbeantragende Titelinhaber die Voraussetzungen des§ 29 Abs. 5 AufenthG erfüllt und damit eigentlich schon kraft Gesetzes zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt ist, oder ob ihm eine solche Tätigkeit vielmehr – was der Regelfall sein dürfte – erst nach ausdrücklicher Genehmigung durch die Ausländerbehörde gestattet ist.

Zu beachten ist zudem, dass der Kläger sein Recht auf Ausübung einer Erwerbstätigkeit solange, wie sich in dem Aufenthaltstitel der (sinngemäße) Vermerk "Erwerbstätigkeit nicht gestattet" befand, faktisch nicht aus - üben konnte. Denn gem. § 4 Abs. 3 Satz 3 AufenthG muss derjenige, der im Bundesgebiet einen Ausländer beschäftigt oder mit nachhaltigen entgeltlichen Dienst- oder Werkleistungen beauftragt, prüfen, ob der Ausländer im Besitz eines Titels ist, der ihn zur Ausübung einer solchen Tätigkeit berechtigt. Steht auf dem Titel "Erwerbstätigkeit nicht gestattet" oder wird die Erwerbsberechtigung vom Vorliegen einer Arbeitserlaubnis abhängig gemacht und kann der Ausländer eine solche Arbeitserlaubnis nicht vorweisen, dann darf der Arbeitgeber den Ausländer nicht beschäftigen.

Festzuhalten ist damit, dass der Kläger - auch wenn ihm eine Erwerbstätigkeit kraft Gesetzes erlaubt gewesen ist - einen entsprechenden Aufenthaltstitel im Streitzeitraum noch nicht in den Händen hielt und er daher auch nicht im "Besitz" eines solchen Titels i.S.d. § 62 Abs. 2 Nr. 2 1.HS EStG war. [...]