OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24.01.2013 - 18 A 139/12 - asyl.net: M20570
https://www.asyl.net/rsdb/M20570
Leitsatz:

1. Die nach Art. 84 Abs. 2 GG vom Bundesministerium des Innern zu § 11 AufenthG a.F. erlassenen Regeln der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz (VwVAufenthG) hinsichtlich der Dauer der Befristung der Ausweisungswirkungen sind seit Inkrafttreten des § 11 AufenthG in der Neufassung des Richtlinienumsetzungsgesetzes nicht mehr anwendbar.

2. Bei der Fristbemessung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 ff. AufenthG können eingeleitete, aber noch nicht abgeschlossene positive Entwicklungen in den Lebensumständen des Ausländers (z.B. begonnene Drogentherapie) regelmäßig nicht mit der Begründung zugunsten des Ausländers berücksichtigt werden, eine spätere Verlängerung der Frist sei für den Fall einer Verschlechterung der Prognose (z.B. Abbruch der Drogentherapie) möglich.

3. Den Bestimmtheitsanforderungen des § 82 VwGO wird nicht genügt, wenn der Kläger lediglich die Festsetzung einer angemessenen Frist nach § 11 Abs. 1 Satz 3 ff. AufenthG beantragt ohne zu verdeutlichen, was aus seiner Sicht angemessen ist.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ausweisung, Befristung, Ausweisungswirkungen, Befristung der Ausweisungswirkungen, Wirkung der Ausweisung, Befristung der Wirkung der Ausweisung, Prävention, spezialpräventive Gesichtspunkte, präventive Gesichtspunkte, spezialpräventiv, Verhältnismäßigkeit, Fristlänge, Ermessen, ermessenslenkende Verwaltungsvorschrift, Ermessensentscheidung, Umstände des Einzelfalls, Einzelfallumstände, spezialpräventive Zwecke,
Normen: GG Art. 84 Abs. 2, VwGO § 82, AufenthG § 11 Abs. 1 S. 3,
Auszüge:

[...]

Aus gegebenem Anlass weist der Senat darauf hin, dass die Ausländerbehörde die Wirkungen der Ausweisungsverfügung nach § 11 Abs. 1 AufenthG nachträglich zu befristen haben wird. Dafür gelten folgende Maßstäbe:

Die allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzende Frist ist gemäß § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu bestimmen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht. Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf bei einer spezialpräventiv motivierten Ausweisung der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die sich an der Erreichung des Ausweisungszwecks orientierende Frist muss sich an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und den Vorgaben aus Art. 7 GR-Ch, Art. 8 EMRK messen und ggf. relativieren lassen. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und den Verwaltungsgerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen. Dabei sind insbesondere die in § 55 Abs. 3 Nr. 1 und 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen. Die Abwägung ist nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalles im Zeitpunkt der Behördenentscheidung vorzunehmen.

Hinsichtlich der Bestimmung der Fristlänge steht der Ausländerbehörde seit Inkrafttreten des § 11 AufenthG in der Neufassung des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 kein Ermessen mehr zu. Vielmehr handelt es sich um eine gebundene Entscheidung, die ggf. vom Verwaltungsgericht vollumfänglich zu überprüfen ist (vgl. zum Vorstehenden BVerwG, Urteile vom 10. Juli 2012 – 1 C 19.11 -, juris Rn. 40, und vom 14. Februar 2012 – 1 C 7.11 -, juris Rn. 33).

An dem bisherigen Verständnis des § 11 AufenthG a.F., nach dem die Bestimmung der Fristlänge im Ermessen der Ausländerbehörde stand (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. September 2007 – 1 C 21.07 – juris Rn. 18, OVG Bremen, Beschluss vom 16. Juli 2009 – 1 B/217/09 -, juris Rn. 33, Ziffer 11.1.4.6.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum AufenthG; zur Rechtslage unter Geltung von § 8 AuslG 1990 vgl. OVG NRW, Beschluss vom 25. Oktober 2002 – 18 A 955/02 -, juris Rn. 36), kann damit nicht mehr festgehalten werden. Jedenfalls dies hat zur Konsequenz, dass den nach Art. 84 Abs. 2 GG vom Bundesministerium des Innern zu § 11 AufenthG a.F. erlassenen Regeln der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz (VwVAufenthG) für die Bestimmung der Fristlänge keine rechtliche Bedeutung mehr zukommt. Diese sind im hier interessierenden Zusammenhang überholt, denn sie dienten dem Interesse an einer einheitlichen Ausübung des nach 11 AufenthG a.F. eröffneten Ermessens hinsichtlich der Bestimmung der Fristlänge. Dies folgt insbesondere aus Ziffer 11.1.4.6.1 VwV-AufenthG, wonach die Frist ausdrücklich im Interesse einer einheitlichen Ermessensausübung im Regelfall nach den dort näher genannten schematisierenden Vorgaben festzusetzen ist.

Ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften enthalten verwaltungsintern bindende Leitlinien für die Ermessensausübung der Behörden. Diese Leitlinien dienen in der Regel dazu, den der Verwaltung bei Ermessensentscheidungen zur Rechtskonkretisierung im Einzelfall eingeräumten und von Gerichten nur auf die Einhaltung äußerer Grenzen überprüfbaren Entscheidungsspielraum im Interesse einer einheitlichen Handhabung auszufüllen. In Rechtsstreitigkeiten zwischen individuell Betroffenen und einer Behörde und damit im Außenverhältnis können Verwaltungsvorschriften mittelbar Bedeutung dadurch erlangen, dass die zuständigen Behörden durch Art. 3 Abs. 1 GG zu einer Gleichbehandlung entsprechend ihrer ständigen Ermessenspraxis verpflichtet sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Januar 1996 – 11 C 5.95 -, juris Rn. 21.; Beschluss vom 11. November 2008 – 7 B 38.08 –, juris Rn. 9).

Hat sich – wie hier – durch eine Gesetzesänderung auch der Rechtscharakter einer Entscheidung von einer Ermessensentscheidung in eine gebundene Entscheidung verändert, dann fehlt es von vornherein an den rechtlichen Rahmenbedingungen für die Annahme einer mittelbaren Verbindlichkeit seinerzeit erlassener ermessenslenkender Verwaltungsvorschriften für die Gerichte.

Zwar ist es einem Gericht nicht grundsätzlich verwehrt, der in einer z.B. norminterpretierenden Verwaltungsvorschrift vertretenen Rechtsauffassung auch dann Beachtung zu schenken, wenn der Verwaltungsvorschrift im Außenverhältnis keine Verbindlichkeit zukommt. Eine Verwaltungsvorschrift kann nämlich in diesen Fällen den Stand der in der Rechtsprechung entwickelten Leitlinien wiedergeben oder den Stellenwert einer in der Literatur vertretenen Rechtsauffassung haben. Aber auch eine derartige Bedeutung kommt den hier in Rede stehenden Bestimmungen der VwV-AufenthG nicht mehr zu. Der geänderte Charakter der Befristungsentscheidung schließt es aus, die in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz genannten Vorgaben für die Fristbemessung im vorstehenden Sinne "im Ansatz" nach wie vor anzuwenden (so aber VG Düsseldorf, Urteile vom 18. Oktober 2012 – 8 K 6261/08 -, juris Rn. 118 ff. und vom 26. November 2012 – 7 K 1203/11 -; a.A. VG Düsseldorf, Urteile vom 22. Oktober 2012 – 24 K 6121/12 -, juris Rn. 122 und vom 6. November 2012 – 27 K 2548/11 – juris Rn. 116 ff., VG Oldenburg, Urteil vom 4. Juni 2012 – 11 A 2509/12 -).

Diese Vorgaben enthalten ein schematisierendes Verfahren der Fristfindung. Eine Kollision dieses Verfahrens mit dem Gebot der umfassenden Berücksichtigung der wesentlichen Umstände des Einzelfalls kann – wenn überhaupt – allenfalls insoweit ausgeschlossen werden, als es den Entscheidungsspielraum betrifft, der Behörden bei Ermessensentscheidungen durch § 11 AufenthG a.F. eingeräumt war. Mit Wegfall dieses Entscheidungsspielraums können die in Rede stehenden Bestimmungen der Verwaltungsvorschrift jedoch nicht mehr angewandt werden, weil sie zu einer unzulässigen Ausblendung wesentlicher Einzelfallumstände führen würden.

Diese Bedenken sind zunächst wegen der schematisierenden Regelung in Ziffer 11.1.4.6.1 VwV-AufenthG gegeben. Danach ist die Frist – vorbehaltlich einer Würdigung der Umstände des Einzelfalls – festzusetzen auf drei Jahre bei Ausweisungen nach § 55 AufenthG , sieben Jahre bei Ausweisungen nach § 54 AufenthG und zehn Jahre bei Ausweisungen nach § 53 AufenthG. Diese Orientierung an den gesetzlichen Ausweisungstatbeständen auf der ersten Entscheidungsstufe führt zur Findung eines Eingangswerts und damit einer Vorfestlegung unter Ausblendung wesentlicher Einzelfallumstände, die erst auf der zweiten Stufe, sozusagen als Korrektiv der abstrakten Vorfestlegung und damit nur eingeschränkt Bedeutung erlangen sollen. Dieser Effekt wird dadurch verstärkt, dass dem Rechtsanwender auf der ersten Entscheidungsstufe klare Kriterien vorgegeben werden, während diese für die zweite Entscheidungsstufe fehlen. Dieser Umstand ist mit der nicht hinnehmbaren Gefahr verbunden, dass der Rechtsanwender tendenziell geneigt sein kann, den erst auf der zweiten Entscheidungsstufe relevanten und vergleichsweise schwerer zu erfassenden und zu gewichtenden Einzelfallumständen nicht die gebotene Beachtung zu schenken.

Auch die in Ziffer 11.1.4.6.2 VwV-AufenthG enthaltenen Schematisierungen sind im Rahmen der Findung einer angemessenen Sperrfrist gemäß § 11 AufenthG unzulässig. Denn die gebotene Einzelfallwürdigung wird verfehlt, wenn Herabstufungen der Ausweisung aufgrund besonderen Ausweisungsschutzes bei der Bemessung der Frist zwingend unberücksichtigt bleiben. Nichts anderes gilt insoweit, als den besonderen Umständen des Einzelfalls (vorbehaltlich der in Ziffer 11.1.4.6.2 Satz 4 VwV-AufenthG genannten Umstände) lediglich durch Verkürzung oder Verlängerung der regelmäßigen Frist nach Ziffer 11.1.4.6.1 VwV-AufenthG um bis zu drei Jahre Rechnung zu tragen ist.

Nicht vereinbar mit dem nach § 11 AufenthG bestehenden Gebot der grundsätzlich bereits mit der Ausweisung zu verbindenden Befristung ist unabhängig von den vorstehenden Überlegungen die in Ziffer 11.1.4.6.2 Satz 5 VwV-AufenthG enthaltene Vorgabe, nach der eine Verkürzung aufgrund der in Ziffer 11.1.4.6.2 Satz 4 VwVAufenthG genannten Belange frühestens drei Jahre vor Ablauf der bereits ohne Berücksichtigung dieser Umstände gefundenen Sperrfrist zu erfolgen hat.

Mit Blick auf zur Fristbemessung in der Rechtsprechung vertretene Auffassungen (vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 6. November 2012 - 27 K 2548/11 – juris Rn. 116 ff.) ist anzumerken, dass es eine Frage des Einzelfalls ist und nicht die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung rechtfertigt, inwieweit angestoßene, aber noch nicht abgeschlossene positive Entwicklungen in den Lebensumständen eines Ausländers (z.B. die Teilnahme an einer noch nicht abgeschlossenen Drogentherapie) sich bereits zugunsten des Ausländers auswirken. Insoweit ist ein – aus Sicht des Ausländers – großzügiger Maßstab nicht etwa generell veranlasst mit Blick auf eine mögliche spätere Verlängerung der Frist für den Fall einer diesbezüglichen Verschlechterung der Prognose (z.B. Abbruch der Drogentherapie). Sollte eine spätere Verlängerung einer zuvor erfolgten Fristsetzung nach § 11 AufenthG möglich sein, so richtete sie sich nach § 48 Abs. 3 oder 49 Abs. 2 VwVfG und wäre danach nur eingeschränkt aufgrund einer in Würdigung der dann jeweils aktuellen Umstände zu treffenden Ermessensentscheidung zulässig (vgl. Meyer, Befristungen nach dem Ausländergesetz und die allgemeinen Widerrufs- und Rücknahmeregelungen, ZAR 2002, 13, 19 f.). [...]