VG Schwerin

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Zitieren als:
VG Schwerin, Urteil vom 21.03.2013 - 3 A 912/10 As - asyl.net: M20580
https://www.asyl.net/rsdb/M20580
Leitsatz:

1. Die Bestimmung des Zielstaats "Herkunftsland der Mutter" ist zu unbestimmt.

2. Die Bestimmung des Zielstaats "Aserbaidschan" ist bei Personen mit teilweiser armenischer Abstammung rechtswidrig, weil armenische Volkszugehörige nach der Rechtspraxis aserbaidschanischer Behörden derzeit nicht die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit zuerkannt wird. Sie können auf unabsehbare Zeit weder nach Aserbaidschan abgeschoben werden noch freiwillig dorthin einreisen.

3. Zu Berg-Karabach als zumutbare Fluchtalternative.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Herkunftsland der Mutter, Herkunftsland, Zielstaat, Zielstaatsbezeichnung, Aserbaidschan, aserbaidschanische Staatsangehörigkeit, Staatsangehörigkeit, Berg-Karabach, Armenier, armenische Volkszugehörigkeit, staatenlos, zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis,
Normen: AsylVfG § 14a, AufenthG § 60 Abs. 2-7,
Auszüge:

[...]

Dies ist im vorliegenden Fall deshalb nicht mehr gewährleistet, weil der streitgegenständliche Bescheid mit dem "Herkunftsland der Mutter" auf Umstände Bezug nimmt, die sich weder allein aus dem Bescheid ergeben noch den Beteiligten – derzeit – bekannt sind. Erst wenn im Fall der Mutter ein entsprechender Bescheid erlassen würde, könnte ein Zielstaat im Fall der Klägerin ermittelt werden. Eine solche Regelung kann nicht als Vollstreckungsgrundlage dienen, weil die vollstreckende Behörde erst einen gegen die Mutter noch zu erlassenen Bescheid heranziehen muss. Daraus folgt, dass im Zweifel der Zielstaat nur im Falle der Mutter konkretisiert würde, nicht aber im Bescheid der Tochter. Damit würde auch das Erfordernis umgangen, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG hinsichtlich der Klägerin bezüglich des sodann konkretisierten - möglicherweise bislang nicht in Betracht gezogenen - Zielstaats der Mutter zu prüfen. Rechtsschutz hiergegen könnte die Klägerin dann nicht mehr (rechtzeitig) erhalten. Dies gilt im vorliegenden Fall umso mehr, als die Botschaft der Republik Armenien der Zentralen Ausländerbehörde Bielefeld unter dem 22. April 2009 abschließend mitgeteilt hat, dass u. a. die Mutter der Klägerin keine armenischen Staatsangehörige ist. Armenien scheidet damit als Zielstaat aus.

2. Der Tenor Nr. 3 des Bescheides ist auch rechtswidrig, soweit als Zielstaat "Aserbaidschan" bezeichnet worden ist. Die Klägerin kann auf unabsehbare Zeit weder nach Aserbaidschan abgeschoben werden noch freiwillig nach dorthin einreisen (vgl. zur Unmöglichkeit der Abschiebung BVerwG, Urt. v. 10. Juli 2003 – 1 C 21.02 – juris LS und Rn. 4; Oberhäuser, in: Hofmann/Hoffmann, Ausländerrecht § 59 Rn. 6 m.w.N.).

a) Die Begründung im Bescheid, die Klägerin sei als aserbaidschanische Staatsangehörige zu betrachten, ist schon deshalb fraglich, weil dies mit der bis heute von den aserbaidschanischen Behörden gehandhabten Gesetzeslage nicht im Einklang steht. Zwar ist nach Art. 52 der Verfassung der Republik Aserbaidschan Staatsangehöriger, wer auf dem Territorium der Republik Aserbaidschans geboren ist oder von einem Staatsangehörigen Aserbaidschans abstammt, wobei es genügt, das ein Elternteil diese Staatsangehörigkeit besitzt (vgl. die deutsche Übersetzung und Erläuterungen des Art. 52 der Verfassung Aserbaidschans 1995 bei TransKaukasus-Institut, Gutachten vom 12. Dezember 2008 an VG Wiesbaden, S. 3 f. und ders., Gutachten an das VG Ansbach vom 8. März 2006, S. 30 f.).

Nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 20. September 1998 sind Staatsbürger Aserbaidschans, wenn sie am Tag des Inkrafttretens des Gesetzes die Staatsangehörigkeit Aserbaidschans besaßen. Aus dem dortigen Klammerzusatz der Bestimmung folgt, dass Grundlage die Meldung der Person an ihrem Wohnsitz in der Republik Aserbaidschan am Tage des Inkrafttretens des Gesetzes ist. Diese Bestimmung wird bei armenisch stämmigen Personen so ausgelegt, dass Personen, die am Stichtag in der Republik Aserbaidschan entweder nicht gemeldet oder nicht am Ort der amtlichen Meldung tatsächlich wohnhaft waren, keine aserbaidschanische Staatsbürgerschaft mehr besitzen (vgl. TransKaukasus-Institut, aaO, S. 8 ff., bzw. 34).

Nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes seien die Meldebehörden durch das Justizministerium angewiesen worden, diejenigen armenischen Volkszugehörigen von Amts wegen abzumelden, die sich de facto nicht mehr dauerhaft in der Republik Aserbaidschan aufhielten. Dies habe alle armenischen Volkszugehörigen betroffen, welche seit Ausbruch des ethnischen Konfliktes 1988 zwischen Armenien und Aserbaidschan aus Aserbaidschan geflüchtet seien. Nicht von dieser Maßnahme betroffen seien armenische Volkszugehörige, die nach wie vor de facto in Aserbaidschan wohnhaft seien, z.B. infolge Heirat oder Verwandtschaft mit aserbaidschanischen Volkszugehörigen (vgl. Auskunft des AA an das VG Schleswig vom 2. April 2003 – 508-516.80/41 090 – (Asylfact Dokument Nr. 30 396)).

Auch im letzten Lagebericht vom 13. Oktober 2011 des Auswärtigen Amtes wird zur Frage der Staatsangehörigkeit von armenisch-stämmigen Aserbaidschaner auf S. 22 f. ausgeführt:

"Bei der Feststellung der Staatsangehörigkeit von Aserbaidschanern, die bereits seit längerer Zeit im Ausland leben, kommt es in der Praxis häufiger zu Problemen. Es gibt Fälle, in denen die Botschaft in Berlin die Ausstellung eines Passes oder Passersatzpapieres mit der Begründung verweigert, die betreffende Person sei nicht mehr im Melderegister, dem 'Nationalen Automatisierten Pass-System', erfasst. In den neunziger Jahren wurden im zeitlichen Zusammenhang mit dem Bergkarabach-Konflikt zahlreiche Personen mit armenischen Namen aus diesem Melderegister gestrichen. Nach Inkrafttreten des neuen Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 1998 erfolgten weitere Streichungen. Rechtliche Grundlage für diese zweite Streichungswelle war Art. 5 des Staatsangehörigkeitsgesetzes, wonach derjenige aserbaidschanischer Staatsangehöriger ist, welcher am 01.10.1998 seinen Wohnsitz in Aserbaidschan hatte. Obwohl diese Vorschrift keine Verlustgründe enthält (diese Frage ist vielmehr in Art. 16 geregelt), wurde diese Legaldefinition wie ein Verlusttatbestand angewandt. In Anwendung dieser Vorschrift wurden zahlreiche Personen aus dem Melderegister gestrichen, die nach Kenntnis der Meldebehörden zum Stichtag im Ausland lebten. Hierbei lässt sich jedoch keine einheitliche Praxis feststellen."

Ferner heißt es auf Seite 13 des Berichts:

"Aserbaidschanische Behörden – auch die Botschaft in Berlin - weigern sich systematisch, die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit von in Deutschland lebenden Personen mit armenischen Namen anzuerkennen, selbst wenn diese angeben, Aserbaidschaner zu sein und dies mit alten aserbaidschanischen oder sowjetisch/aserbaidschanischen Dokumenten belegen können."

Demgemäß ist auch das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in seinem (Teil-)Urteil vom 20. Juni 2012 – 7 LB 140/06 – (juris LS und Rn. 94) zum Ergebnis gekommen, dass Art. 5 des aserbaidschanischen Staatsangehörigkeitsgesetzes aufgrund der aserbaidschanischen Rechtspraxis als Ausbürgerungsregelung zu verstehen ist, die gezielt (allein) armenische Volkszugehörige treffe. Eine Abschiebung nach Aserbaidschan scheidet daher aus (vgl. auch OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 15. Mai 2012 – 3 L 98/04 – juris LS 1 und Rn. 38 ff., Rn. 63 ff. m.w.N.).

Die im Tatbestand wiedergegebene Antwort, die der Prozessbevollmächtigte der Klägerin im Rahmen des Verfahrens der Mutter der Kläger erhalten hat, belegt ebenfalls das Verhalten der

aserbaidschanischen Behörden in dieser Frage. Danach besitzt die Mutter der Klägerin nicht die Staatsangehörigkeit der Republik Aserbaidschan.

b) Da die Klägerin in Deutschland geboren ist, spricht alles dafür, dass aserbaidschanische Behörden wegen ihrer jedenfalls teilweisen armenischen Volkszugehörigkeit nicht ihre die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit feststellen werden. Damit ist sie de jure staatenlos im Sinne Art. 1 Abs. 1 des Übereinkommens über die Rechtsstellung der Staatenlosen vom 28. September 1954 (BGBl. 1976 II S. 474) (vgl. dazu Dienelt, in: Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl. 2011, AufenthG, § 1 Rn. 28; Hoffmann, in: Hofmann/Hoffmann, Ausländerrecht, AufenthG § 1 Rn. 28 je m.w.N.).

c) Auch wenn die Klägerin nach Art. 52 der Verfassung Aserbaidschans durch den Vater die Staatsangehörigkeit Aserbaidschans erhalten haben könnte, ist nichts dafür ersichtlich, dass die zuständigen Behörden Aserbaidschans dies nach der oben geschilderten Rechtspraxis anerkennen würden. Dabei kommt es entgegen der Auffassung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin allerdings wohl nicht darauf an, dass keine entsprechende Erklärung der Eltern der Klägerin gegenüber einem deutschen Standesbeamten abgegeben worden sind. Denn solche Erklärungen hätten gegenüber Aserbaidschan keine Rechtswirkungen. In Deutschland ist nur die Frage von Interesse, ob die Klägerin unter den Voraussetzungen des § 4 Abs. 3 des Staatsangehörigkeitsgesetzes (StAG) (vorläufig, vgl. § 29 StAG) die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben könnte (vgl. auch § 21 Abs. 3 Nr. 4 des Personenstandesgesetzes [PStG]; § 34 der Personenstandsverordnung [PStV]; Nr. 21.5 PstG-VwV) (vgl. Geyer, in: Hofmann/Hoffmann, Ausländerrecht, § 4 StAG Rn. 12 ff.; Herdegen, Völkerrecht, 9. Aufl. 2010, § 25 Rn. 5).

Die Begründung der Staatsangehörigkeit ist als Ausfluss der Personalhoheit allein dem jeweiligen Staat vorbehalten (vgl. Herdegen, Völkerrecht, § 25 Rn. 1).

d) Auch eine Abschiebung nach Berg-Karabach als Fluchtalternative scheidet im Fall der Klägerin aus. Selbst wenn sie zusammen mit ihrer Mutter über Armenien nach Berg-Karabach abgeschoben werden könnte, ist nach der derzeitigen Erkenntnisquellenlage anzunehmen, dass eine allein erziehende Mutter mit einem Kind in Berg-Karabach in eine ausweglose Situation im Sinne des Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG – Qualifikationsrichtlinie - geraten würde. Hinzukommt, dass die Mutter der Klägerin und wohl auch die übrigen zum Teil älteren Mitglieder ihrer Familie seit 2001 in Deutschland leben und noch nie in Armenien geschweige denn Berg-Karabach gelebt haben. Dies würde einer der Aufbau einer ausreichenden Existenz in Berg-Karabach entgegenstehen (zur Fluchtalternative Berg-Karabach ausführlich VG Schwerin, Urt. v. 22. Oktober 2010 – 8 A 59/05 -, S. 22 ff.; 25 ff. unter Hinweis auf Stellungnahmen des UNHCR vom 2. März 2010 (Nr. 8) und Frau Dr. Savvidis vom 10. August 2009 (S. 21 ff.) jeweils an den HessVGH; ebenso für eine fünfköpfige zum Teil aus älteren und erkrankten Personen bestehende Familie NdsOVG, Urt. v. 20. Juni 2012, juris Rn. 115 ff.; a. A. für eine gemischtethnische Familie mit zwei Kinder OVG M-V, Urt. 15. Mai 2012, juris Rn. 65 ff.). [...]