VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 28.02.2013 - 9 A 825/12.Z - asyl.net: M20611
https://www.asyl.net/rsdb/M20611
Leitsatz:

Das in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG enthaltene Vier-Augen-Prinzip ist auf eine Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen, die nach Aufhebung der Richtlinie zum 30. April 2006 erlassen wurde, nicht anzuwenden.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Vier-Augen-Prinzip, Ausweisung, Assoziationsberechtigte, türkische Staatsangehörige, EuGH, besonderer Ausweisungsschutz, Ausweisungsschutz, Unionsbürger, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei,
Normen: RL 64/221/EWG Art. 9 Abs. 1, ARB 1/80 Art. 14 Abs. 1, RL 2004/38/EG Art. 28 Abs. 3 a,
Auszüge:

[...]

Die Begründung des Zulassungsantrags zeigt nicht auf, dass die Vorschrift entgegen der mittlerweile vorliegenden einhelligen Rechtsprechung dennoch hätte angewendet werden müssen.

Soweit seitens des Klägers auf ein Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 3. Februar 2012 - 35 K 160.11 -, juris, Bezug genommen wird, hat bereits der Beklagte hierauf zutreffend erwidert, dass das Verwaltungsgericht Berlin sich schon mit Urteil vom 3. April 2012 - 35 K 80.11 -, juris, der Auffassung angeschlossen hat, dass Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG auch im Fall der Ausweisung assoziationsrechtlich privilegierter türkischer Staatsangehöriger keine Wirkungen mehr entfaltet. Ebenso hat das OVG Berlin-Brandenburg, das mit dem seitens des Klägers angeführten Beschluss vom 4. September 2012 - OVG 11 N 54.12 - in einem vergleichbaren Fall die Berufung wegen besonderer rechtlicher Schwierigkeiten zugelassen hatte, in seiner Entscheidung vom 4. Dezember 2012 - OVG 11 S 59.12 - in Anbetracht und unter Einbeziehung des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Juli 2012 - 1 C 19.11 - einen weiter bestehenden Klärungsbedarf bezüglich der Frage der weiteren Anwendbarkeit von Art. 9 RL 64/221/EWG verneint (vgl. ferner OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. November 2012 - OVG 11 S 63.12 -).

Soweit der Kläger geltend macht, die Frage der weiteren Anwendbarkeit von Art. 9 RL 64/221/EWG sei mit dem Urteil des EuGH vom 8. Dezember 2011 - C-371/08 -, Ziebell, nicht geklärt worden, resultieren daraus ebenfalls keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils.

Der EuGH hat in seinem Urteil auf das Vorabentscheidungsersuchen des VGH Baden-Württemberg entschieden, dass Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 dahin auszulegen ist, dass der den türkischen Staatsangehörigen durch diese Vorschrift gewährte Ausweisungsschutz nicht denselben Umfang aufweist wie der Schutz, den die Unionsbürger nach Art. 28 Abs. 3 lit. a der Richtlinie 2004/38/EG genießen, so dass die für Unionsbürger geltende Regelung des Ausweisungsschutzes nicht entsprechend auf türkische Staatsangehörige angewendet werden könne, um die Bedeutung und die Tragweite von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 zu bestimmen. Zur Bestimmung von Bedeutung und Tragweite dieser Vorschrift habe der Gerichtshof traditionell auf die in der Richtlinie 64/221 festgeschriebenen Grundsätze abgestellt. Diese Richtlinie sei jedoch durch die Richtlinie 2004/38 aufgehoben worden, nach deren Art. 38 Abs. 3 Bezugnahmen auf die aufgehobenen Richtlinien als Bezugnahmen auf die Richtlinie 2004/38 gälten. In einem Fall wie demjenigen des Ausgangsverfahrens, in dem die maßgebliche Vorschrift der Richtlinie 2004/38 nicht entsprechend anwendbar sei, sei aber für die Anwendung von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 ein anderer unionsrechtlicher Bezugsrahmen zu bestimmen. Dieser werde in jenem Fall durch Art. 12 der Richtlinie 2003/109 gebildet, der eine Vorschrift zum Mindestschutz vor Ausweisungen von Drittstaatsangehörigen darstelle, die in einem Mitgliedstaat die Rechtsstellung von langfristig Aufenthaltsberechtigten besäßen.

Hieraus ergibt sich aber nichts anderes, als dass die Richtlinie 64/221/EWG aufgrund ihrer Aufhebung nicht mehr als Bezugsrahmen zur Bestimmung von Bedeutung und Tragweite des Ausweisungsschutzes nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 herangezogen werden kann. Dass dies nur für die Anwendung des materiellen Ausweisungsrechts der Richtlinie, aber nicht für die in ihr enthaltenen Verfahrensgarantien gelten sollte, ist mit der Antragsbegründung nicht schlüssig dargetan und umso weniger anzunehmen, als andernfalls dem Ausweisungsschutz nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 unterschiedliche unionsrechtliche Bezugsrahmen zugrunde lägen, indem hinsichtlich der Verfahrensgarantien weiterhin an die Richtlinie 64/221/EWG und hinsichtlich des materiellen Ausweisungsrechts an neuere Richtlinien angeknüpft würde. Vor allem aber ist zu vergegenwärtigen, dass der Gerichtshof vor Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG die Anwendung des Vier-Augen-Prinzips auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige damit begründet hat, dass die im Rahmen von Art. 48 EG-Vertrag eingeräumten Rechtspositionen so weit wie möglich auf assoziationsberechtigte türkische Arbeitnehmer übertragen werden müssen. Um effektiv zu sein, müssten diese (materiellen) Rechte von den türkischen Staatsangehörigen vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden können. Zur Gewährleistung der Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes sei es unabdingbar, ihnen die Verfahrensgarantien zuzuerkennen, die den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten durch das Gemeinschaftsrecht gewährleistet werden. Daher müsse es ihnen ermöglicht werden, sich unter anderem auf Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG zu berufen, da die Verfahrensgarantien untrennbar mit den materiellen subjektiven Rechten verbunden seien, auf die sie sich beziehen (EuGH, Urteil vom 2. Juni 2005, a.a.O., Rdnr. 62, 67). Da Ausgangspunkt der Betrachtung des Gerichtshofs die Verfahrensgarantien sind, die den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten durch das Gemeinschaftsrecht gewährleistet werden, erweist sich seine Rechtsprechung zur Übertragung auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige mithin schon im Ansatz offen für Fälle von Rechtsänderungen, die die Stellung der Unionsbürger betreffen. Für diese gewährleistet Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG gegen Entscheidungen, die aus Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung getroffen werden, einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde. Im Rechtsbehelfsverfahren sind nach Art. 31 Abs. 3 Satz 1 RL 2004/38/EG die Rechtmäßigkeit der Entscheidung sowie die Tatsachen und Umstände zu überprüfen, auf denen die Entscheidung beruht; nach Satz 2 der Vorschrift gewährleistet das Rechtsbehelfsverfahren, dass die Entscheidung insbesondere im Hinblick auf die Erfordernisse gemäß Art. 28 RL 2004/38/EG nicht unverhältnismäßig ist. In der Richtlinie 2003/109/EG (betreffend langfristig Aufenthaltsberechtigte) ist die Beteiligung einer unabhängigen Stelle im Ausweisungsverfahren zur Prüfung der Zweckmäßigkeit der Maßnahme gleichfalls nicht vorgeschrieben, sondern nach Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie steht langfristig Aufenthaltsberechtigten zur Überprüfung einer Ausweisung der Rechtsweg offen und die Verfahrensgarantien aus Art. 10 der Richtlinie beschränken sich darauf, dass die getroffene Entscheidung zu begründen, dem Betroffenen mitzuteilen und in der Mitteilung auf die möglichen Rechtsbehelfe und die entsprechenden Fristen hinzuweisen ist. Demzufolge gebietet Unionsrecht bei Ausweisungen von Unionsbürgern keine behördliche Kontrolle mehr nach dem Vier-Augen-Prinzip. Dann können assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige angesichts der beschriebenen dynamisch angelegten Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Übertragung von Rechten auf diese Gruppe keine bessere verfahrensrechtliche Rechtsstellung beanspruchen, sondern infolge der Abschaffung der behördlichen Kontrolle von Ausweisungsentscheidungen nach dem Vier-Augen-Prinzip, wie sie Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG vorsah, steht auch den Inhabern eines aus dem ARB 1/80 abgeleiteten Aufenthaltsrechts kein solcher erweiterter behördlicher Rechtsschutz mehr zu (vgl. zu allem: BVerwG, Urteile vom 13. Dezember 2012, a. a. O., Rdnr. 29 - 31, und vom 10. Juli 2012, a.a.O., Rdnr. 23).

Die Fortgeltung des Art. 9 RL 64/221/EWG ergibt sich entgegen der Antragsbegründung auch nicht mit Blick auf den völkerrechtlichen Charakter des Assoziationsabkommens. Soweit die Europäische Kommission in der Vergangenheit davon ausgegangen ist, die Regelung in Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG sei Inhalt des Assoziationsabkommens EWG-Türkei vom 12. September 1963 geworden - mit der Folge der Abänderbarkeit ausschließlich durch die Vertragsparteien - (vgl. die Nachweise bei VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. Februar 2012 - 11 S 1361/11 -, juris Rdnr. 59, zu den Stellungnahmen der Kommission zur Rechtssache Ziebell - C-371/08 - vom 2. Dezember 2008 und zur Rechtssache Polat - C-349/06 - vom 15. Dezember 2006), so dass die Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG durch die Richtlinie 2004/38/EG auf die Auslegung des Assoziationsabkommens und der aufgrund des Abkommens erlassenen Rechtsakte wie Art. 14 ARB 1/80 keinen Einfluss haben könne, beruht diese Ansicht auf einer eigenen Interpretation der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs durch die Kommission, die der Europäische Gerichtshof gerade nicht aufgenommen hat und die mit dessen oben bereits beschriebener dynamisch angelegten Rechtsprechung auch nicht in Einklang steht. Gegen die Auslegung der Kommission wird im Übrigen zu Recht geltend gemacht, sie könnte zu dem Ergebnis führen, dass unter Umständen notwendig werdende Änderungen des einschlägigen Unionsrechts zum Nachteil von Unionsbürgern überhaupt nicht mehr oder nur noch um den Preis einer Diskriminierung möglich wären (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. Februar2012 - 11 S 1361/11 -, juris Rdnr. 60). [...]