BlueSky

OVG Sachsen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Sachsen, Beschluss vom 18.02.2013 - 3 D 55/12 - asyl.net: M20620
https://www.asyl.net/rsdb/M20620
Leitsatz:

1. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe darf nach § 166 VwGO i. V. m. § 124 Nr. 1 ZPO nur aufgehoben werden, wenn die vorsätzlich unrichtige Darstellung des Streitverhältnisses zu einer günstigeren Bewilligungsentscheidung geführt hat, als sie bei richtiger Darstellung ergangen wäre.

2. Hinsichtlich der Frage, ob die Partei das Streitverhältnis falsch dargestellt hat, ist im Regelfall auf den Zeitpunkt der Bewilligungsreife abzustellen.

3. Liegen die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen für eine Aufhebung vor, hat das Gericht eine Ermessensentscheidung zu treffen.

4. Haben sich die für die Bewilligung maßgebenden tatsächlichen oder rechtlichen Voraussetzungen seit der Bewilligung zu Gunsten des Berechtigten geändert, hat dies das Gericht bei einer Aufhebungsentscheidung zwingend zu berücksichtigen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Prozesskostenhilfe, Bewilligung von Prozesskostenhilfe, Aufhebung, Täuschung über Identität, Identität, Mitwirkungspflicht, China, Rückführung, Passbeschaffung, Kausalität,
Normen: VwGO § 166, ZPO § 124 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

3.1 Nach § 166 VwGO i.V.m. § 124 Nr. 1 ZPO kann das Gericht die Bewilligung der Prozesskostenhilfe aufheben, wenn die Partei durch unrichtige Darstellung des Streitverhältnisses die für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe maßgebenden Voraussetzungen vorgetäuscht hat. Die Vorschrift betrifft die Angaben des Antragstellers, die zur Beurteilung der Erfolgsaussichten und der fehlenden Mutwilligkeit nach § 114 ZPO erforderlich waren. Diese Feststellungen sind bei unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen bzw. Ermächtigungsgrundlagen jeweils gesondert zu treffen. Hat eine Anspruchsgrundlage - wie hier - zur Voraussetzung, dass über eine bestimmte Tatsache nicht getäuscht wird, ist zwischen dieser Täuschung und derjenigen nach § 124 Nr. 1 ZPO zu unterscheiden.

Aufgehoben werden darf die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach § 124 Nr. 1 ZPO jedoch nur, wenn die vorsätzlich unrichtige Darstellung des Streitverhältnisses zu einer günstigeren Bewilligungsentscheidung geführt hat, als sie bei richtiger Darstellung ergangen wäre. Um dies zu klären, sind zwei Prüfungen anzustellen, die eine bezogen auf die vom Hilfsbedürftigen gegebene Darstellung und die andere bezogen auf die Darstellung, die er korrekterweise hätte geben müssen. Denn die Aufhebung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach § 124 Nr. 1 ZPO hat keinen Strafcharakter, sondern stellt eine kostenrechtliche Maßnahme dar (BbgOLG, Beschl. v. 11. April 2001 - 12 W 67/00 -, juris; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 5. April 1991, MDR 1991, 791: OLG Oldenburg, Beschl. v. 19. November 1992, NJW 1994 807; Fischer, in: Musielak, ZPO, 9. Aufl. 2012, § 124 Rn. 4; Olbertz in: Schoch/Schneider/Bier, Verwaltungsgerichtsordnung, Stand: 24. EL 2012, § 166 Rn. 60; Philippi, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 28. Aufl. 2010, § 124 Rn. 5a Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 71. Aufl. 2013, § 124 Rn. 32; Motzer, in: Münchner Kommentar, Zivilprozessordnung, 3. Aufl. 2008, § 124 Rn. 3; Kratz, in: BeckOK ZPO, § 124 Rn. 14 f.). Sie dient allein dazu, der Partei eine Vergünstigung zu entziehen, auf die sie keinen Anspruch hatte (Philippi a.a.O. § 124 Rn. 5).

Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass hinsichtlich der Frage, ob die Partei das Streitverhältnis unrichtig dargestellt und dadurch die für die Bewilligung maßgebenden Voraussetzungen vorgetäuscht hat, für Regelfall auf den Zeitpunkt der Bewilligungsreife abzustellen ist (OVG Hamburg, Beschl. v. 12. April 2011 - 3 So 183/10 -,juris Rn. 6; OLG Düsseldorf, Beschl. v. B. Februar 1996 - 1 WF 215/95 -, juris Rn. 5; a.A. Baumbauch/Lauterbach/Albers/Hartmann, a.a.O. § 124 Rn. 25, wonach auf den Zeitpunkt der Entscheidung des bewilligenden Gerichts abzustellen sein soll). Denn die Aufhebung dient der Korrektur der Bewilligung (Olbertz a.a.O. § 166 Rn. 60). Hat das bewilligende Gericht - im vorliegenden Fall: das Oberverwaltungsgericht im Beschwerdeverfahren 3 D 23/09 - hinsichtlich der Bewilligungsvoraussetzungen auf den Zeitpunkt der Bewilligungsreife gestellt (Olbertz a.a.O. § 166 Rn. 52; Motzer a.a.O. § 114 Rn. 110), kann im Falle der Aufhebung im Grundsatz nichts anderes gelten.

Liegen die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen für eine Aufhebung vor, hat das Gericht eine Ermessensentscheidung zu treffen (BbgOLG a.a.O.; Philippi a.a.O. § 124 Rn. 3; a.A. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann a.a.O. § 124 Rn. 16). Die Ausübung des Ermessens soll verhindern, dass die Folgen der Aufhebung die Prozesskostenhilfe beanspruchende Partei übermäßig hart treffen. Auch der Grad des Verschuldens kann in die Abwägung einfließen. Haben sich die für die Bewilligung maßgebenden tatsächlichen oder rechtlichen Voraussetzungen seit der Bewilligung zu Gunsten des Berechtigten geändert, hat dies das Gericht bei einer Aufhebungsentscheidung jedoch zwingend zu berücksichtigen. Denn es besteht aus kostenrechtlicher Sicht kein öffentliches Interesse an der Aufhebung einer durch Täuschung bewirkten Bewilligung von Prozesskostenhilfe, wenn und soweit der Berechtigte hierauf (inzwischen) gleichwohl einen Anspruch hat und ihm Prozesskostenhilfe folglich sogleich wieder bewilligt werden müsste. [...]