Das traditionelle albanische Gewohnheitsrecht (Kanun) sieht eine Bestrafung einer verwitweten Frau wegen deren Wiederheirat nicht vor.
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Darüber hinaus vermag der Senat - ebenso wie das Verwaltungsgericht - nicht zu erkennen, dass die Wiederheirat der verwitweten Antragstellerin eine die Ehre der Brüder ihres verstorbenen Ehemannes verletzende und die Blutrache auslösende Handlung darstellt.
Die Blutrache (Gjakmarrje) ist ein zentrales Element des Gewohnheitsrechts der Nordalbaner, wie es im sog. Kanun tradiert ist (vgl. Elsie, Der Kanun - Das albanische Gewohnheitsrecht nach dem sogenannten Kanun des Lekë Dukagjini, 2001, S. X f.; v. Godin, Das albanische Gewohnheitsrecht, in: ZVglRWiss 1953, S. 1 f.; Voell, Das nordalbanische Gewohnheitsrecht und seine mündliche Dimension, 2004, S. 35 f.). Die schwierige Transformation, die Albanien nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft durchlaufen hat, hat zu einem Wiederaufleben der archaischen Tradition der Blutrache geführt. Sie stellt eine Form der Selbstjustiz dar und basiert auf Regelungen des traditionellen albanischen Gewohnheitsrechtes. Insbesondere in den ländlichen Gebieten Albaniens, in denen der Staat faktisch nicht präsent war, hat sie bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts die staatliche Rechtsordnung ersetzt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Albanien (Stand: Januar 2013), S. 11). Die Blutrache dient in erster Linie der Wiederherstellung der Familienehre, die durch einen Mord, eine Vergewaltigung, eine Grenzverletzung oder eine Ehrverletzung anderer Art beschädigt worden ist. Die Familie, der die Verletzung oder Entehrung zugefügt wurde, ist verpflichtet, sich von der Verletzung oder Entehrung zu reinigen.
Dass die Wiederheirat der verwitweten Antragstellerin die Ehre der Brüder ihres verstorbenen Ehemannes verletzen würde, vermag der Senat den Regelungen des Kanun nicht zu entnehmen. Vielmehr ist ausdrücklich bestimmt, dass eine junge Frau, die Witwe wird und Kinder hat, wählen darf, ob sie weiter im Hause des verstorbenen Mannes lebt oder sich wieder verheiratet (zitiert nach v. Gonin, a.a.O., S. 35 f.; Elsie, a.a.O., S. 26: "Recht der verwitweten Frau: 'Die Witwe spricht selbst. Die Witwe schickt das Hochzeitsgeleit zurück.' Die verwitwete Frau hat das Recht: a) selbst über die Hochzeit zu sprechen; b) zum Gatten zu wählen, wer ihr gefällt; c) den zu bezeichnen, der ihr zum Vermittler dienen soll." und S. 43 f.). Im letztgenannten Fall kann die Witwe lediglich Unterhaltszahlungen von der Familie des verstorbenen Mannes nicht verlangen (vgl. v. Gonin, a.a.O., S. 36; Elsie, a.a.O., S. 44: "Verheiratet sich aber eine Witwe aufs neue, so findet sie ihren Lebensunterhalt beim zweiten Manne; die Erde des ersten Mannes erträgt für sie keine Pflanze mehr"). Auch im 8. Buch ("Die Ehre") sind Ehrverletzungen durch eine Wiederheirat nicht beschrieben (vgl. v. Gonin, a.a.O., 1954 S. 51 f.; Elsie, a.a.O., S. 121).
Soweit die Antragstellerin demgegenüber geltend macht, die Regeln des Kanun würden in der jüngeren Vergangenheit nicht mehr strikt gehandhabt und die Blutrache würde auch gegen Frauen und Kinder verübt, mag dies für sich zwar zutreffen (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Albanien: Posttraumatische Belastungsstörung, Blutrache, Auskunft der SFH-Länderanalyse, Stand: Februar 2013, S. 9). Dem Senat liegen indes keine Erkenntnisse vor, dass die Blutrache auch in Fällen einer Wiederheirat nach dem Versterben des Ehemannes gegen die Witwe und deren Kinder verübt worden ist. Als Auslöser werden vielmehr ausschließlich ehrverletzende körperliche Auseinandersetzungen oder Tötungen insbesondere im Rahmen von Nachbarschafts- oder familiären Konflikten beschrieben (vgl. Emcke, Blutrache in Albanien, in: Zeit Online v. 20.8.2009; Relotius, Blutrache in Albanien, in: Cicero Online v. 28.3.2012; Schweizerische Flüchtlingshilfe, a.a.O., S. 9 f.; Voell, a.a.O., S. 276 f.). [...]